Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt

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4. Kapitel: Das Bündnis (I)

Dschempetro fühlte sich hintergangen. Entweder konnte er seinen Informanten nicht mehr vertrauen oder es war etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Auf der heutigen Besprechung waren Entscheidungen getroffen worden, die nicht auf der Tagesordnung gestanden hatten. Er hatte natürlich mit einer Routine-Versammlung gerechnet. Hätte er die Ausmaße geahnt, wäre er selbstverständlich dort aufgetreten. Doch das Bündnis war auch ohne ihn beschlussfähig gewesen, und so hatte es keinen Sinn, ein Veto einzulegen.

Er wuchtete seine massige Gestalt aus dem Sessel und murmelte eine Verwünschung. Weiche Teppiche dämpften seine Schritte, als er begann, unruhig in seinem Appartement auf und ab zu gehen. Er konnte sich die Vorgänge beim besten Willen nicht erklären.

Der hochgewachsene, breitschultrige Mann, Herr über den Multi-Media-Konzern MEDAC, mit dem er nahezu die gesamte Kommunikationsindustrie kontrollierte, war einer der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten des Schweren Lagers. Mit seinen 62 Jahren hatte er manche Überraschung erlebt - und aus den meisten war er letzten Endes gestärkt hervorgegangen -, aber selten hatte ihn etwas so aus der Fassung gebracht wie das Ergebnis der vor einigen Stunden beendeten Besprechung des Bündnisses.

Dämmerung war über die Millionenstadt hereingebrochen, deren Lichter und Geräusche selbst hierher in das 45. Stockwerk der Konzernzentrale drangen. Dschempetro zog sich oft in seine Zweitwohnung zurück, das gab ihm das Gefühl, alles besser unter Kontrolle zu haben. Manchmal meinte er sogar das Dröhnen der gewaltigen Maschinen der Druckereien aus den unteren Geschossen bis hier hinauf zu hören. Seinen Landsitz am Stadtrand hatte er seit Monaten kaum noch aufgesucht, es sei denn, dass dort ein Treffen eines Teils des Bündnisses abgehalten wurde.

Ein Zuruf an den Akustik-Servo verdunkelte die Scheiben und aktivierte stattdessen die indirekte Beleuchtung. Keine Blicke aus dem Fenster sollten ihn ablenken, er musste nachdenken.

Er mixte sich einen weiteren Drink an der Bar und ließ sich wieder in den Ledersessel fallen. Er lehnte sich zurück. Seine Augen nahmen die teure Einrichtung und die wertvollen Ölgemälde an den Wänden nicht wahr. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck aus dem Glas, seine Konzentration war vollkommen.

Wie hatte es geschehen können, dass die Vorschläge der Magier-Front fast einstimmig abgesegnet worden waren?

Noch vor wenigen Tagen hatte er mit einigen seiner Verbündeten persönlich gesprochen, um eine grobe Linie für das entscheidende Gesamttreffen, das unmittelbar bevorstand, abzustecken. Niemand hatte die Pläne der Magier gut geheißen, denn wenn diese verwirklicht wurden, verschaffte ihnen das ohne Zweifel die führende Rolle im Bündnis. Es bedeutete, dass die Technos zu ihren Helfershelfern degradiert wurden und nur noch eine zweitrangige Position einnehmen würden. Und niemals hätte eine solche Abstimmung auf dem heutigen Treffen erfolgen dürfen.

Wie war es möglich, dass sich so erfahrene Männer und Frauen wie General Peter Ritmaister, Boltagen und Telström oder Vera von Camelsanien hatten übertölpeln lassen? Selbst Krieni aus Milnewor, deren Sturheit und Eigensinn zur Plage werden konnten, hatte mit den Magiern gestimmt.

Und neue Argumente waren in der Debatte nicht aufgetaucht.

Rütig, sein Informant bei General Ritmaister, hatte ihn natürlich sofort in Kenntnis gesetzt. Er und seine anderen Agenten hätten ihn von einem Stimmungsumschwung vorher informiert. Es hätte sich zumindest etwas andeuten müssen. Rütig ging bei Ritmaister ein und aus, der General vertraute ihm seine intimsten Geheimnisse an. Doch sein Mann hatte ihm noch gestern Meldung erstattet, dass nichts Ungewöhnliches zu erwarten war. Am Hof von Vera von Camelsanien wimmelte es von seinen Spionen, auch sie hatten nichts durchgegeben, das von der üblichen Routine abwich.

Es gab natürlich das gewohnte Gezänk und die kleinlichen Streitereien, bei denen jeder versuchte, den anderen zu übervorteilen. Jeder folgte zuallererst seinen ganz persönlichen Zielen, um möglichst viel Machtzuwachs und Gewinn für sich herauszuschlagen. Das bedurfte keiner weiteren Rechtfertigung und betraf Technos wie Magier gleichermaßen - obwohl Geldenkorn bei den Magiern das Heft fest in der Hand hielt, eine anerkannte Autoritätsfigur, wie Dschempetro es sich wünschte, dass er sie für die Techno-Seite darstellen würde. Jeder versuchte sich Vorteile auf Kosten der anderen zu verschaffen, setzte Spione, Geld und Macht ein, um den eigenen Einfluss zu vergrößern und die Schachzüge des Bündnisses in eine ihm genehme Richtung zu lenken. Nicht zuletzt diesen Intrigen und Machtspielen war es zu verdanken, dass sich die Ausarbeitung der endgültigen Strategie nun schon einige Jahre hinzog.

Und all das sollte nun während eines belanglosen Treffens zugunsten der Magier entschieden worden sein?

Dschempetro konnte es immer noch nicht recht glauben. Seine Hände zitterten vor Wut. Er musste sich etwas einfallen lassen, um diese verheerende Entscheidung rückgängig zu machen. Er musste einen Weg finden, er war nicht der Mann, der kampflos aufgab. Zunächst war es wichtig, die Motive seiner Verbündeten zu erfahren, die sie zu dem verhängnisvollen Schritt bewogen hatten. Welche Argumente hatten sie von einem Tag zum anderen umfallen lassen. Oder hatte es sich gar nicht um Argumente gehandelt?

Er musste sich eingestehen, dass die Versuche, die unter Führung der Magier gestartet worden waren, um einiges erfolgversprechender verliefen, als die stümperhaften, überfallartigen Taktiken, die die Techno-Mitglieder des Bündnisses anfangs in die Wege geleitet hatten. Damals waren ihre Pläne fast gescheitert. Sie hatten kurz vor einer Entlarvung gestanden, und die inneren Streitigkeiten hatten das Bündnis aufs Äußerste belastet. Gerade noch rechtzeitig waren die Versuche abgebrochen, die Pläne geändert worden. Die Belastungsprobe hatte in eine Zeit der Stagnation gemündet, in der mehr als einmal das Auseinanderbrechen des Bündnisses gedroht hatte. Die Aussicht auf die ungeheure Macht, die ihnen bei einem Gelingen zufließen würde, hatte sie immer wieder zusammengetrieben.

Doch die Voraussetzungen hatten sich inzwischen wieder geändert. Die Technos hatten ihre Stellung wieder gefestigt, und die Zeit war reif für ein gut abgestimmtes finanziell-ökonomisches sowie militärisches Vorgehen. Die ganze Lage konnte sich mit einem Schlag zu ihren Gunsten verändern. Und damit wäre auch das Gleichgewicht zwischen Magiern und Technos im Bündnis wiederhergestellt. Die vorsichtigen Manipulationen der Magier hatten sich als äußerst anfällig für Störungen erwiesen und waren sicherlich ungeeignet für ein breiter angelegtes Vorgehen.

Er dachte mit Unbehagen daran, mit welchen Kräften sie spielten, um ihre Ziele durchzusetzen. Oft fühlte er sich nur als Marionette der Magier. Keiner der Technos verstand wirklich, was sie da in Gang setzten und welche Auswirkungen es hatte. Und er bezweifelte, dass den Magiern selbst die vollen Konsequenzen ihrer Handlungen bewusst waren. Trotzdem wollte Geldenkorn alles noch intensivieren und ausdehnen. Dschempetro musste zugeben, dass ihn der Gedanke daran schaudern ließ. Außerdem war er leicht zu durchschauen: Geldenkorn wollte die Vorrangstellung der Magier ausbauen und den Einfluss der Technos zurückdrängen, damit ein Erfolg ausschließlich den Magiern zugeschrieben werden konnte. Am Ende würden die Magier alle Fäden in der Hand halten, und die Technos waren auf ihre Gnade angewiesen. Geld, ökonomische Macht und Technologie hätten kaum einen Stellenwert in einer Gesellschaft, die nach magischen Prinzipien funktionierte.

Dschempetro stürzte den Rest des Alkohols in einem Zug hinunter. Es beunruhigte ihn, dass die Absichten der Magier eine so unkalkulierbare Größe darstellten. Er war es gewohnt, ein Netz von Spitzeln zu dirigieren, doch bei den Magiern ließ sich niemand einschleusen. Andererseits war er sich nicht sicher, ob sie nicht schon Spione bei ihm untergebracht hatten. Das war zwar unwahrscheinlich, weil den Magiern die Lebensbedingungen in den Techno-Gebieten nicht zusagten, aber zuzutrauen war es ihnen. Außerdem machten ihn Freunde und Feinde nervös, die nicht zu kaufen waren, und den Magiern hatte er nichts anzubieten, was diese interessiert hätte.

Plötzlich war er davon überzeugt, dass sie mit gezinkten Karten spielten. Es war einfach nicht zu übersehen, dass sich alles genau nach ihren Vorstellungen entwickelt hatte. Er wusste nicht, wie sie es angestellt hatten, die heutige Abstimmung zu manipulieren, aber genau das war geschehen. Wahrscheinlich würde es ihnen nicht nachzuweisen sein, sie waren sehr subtil in diesen Dingen.

Er musste eine Gegenoffensive starten, das Votum musste korrigiert werden. Wenn er sich mit seinen Verbündeten einig werden konnten, stellten sie einen Block im Bündnis dar, der nicht übergangen werden konnte. Die übrigen Techno-Herrscher, die kleinen, die immer um ihre Position fürchteten, würden sich ihnen anschließen, wenn es ihnen gelang, die Magier-Fraktion zu überrumpeln.

Noch heute Abend würde er sich mit Rütig in Woltan in Verbindung setzen, und über General Ritmaister den Gegenschlag einleiten. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um bei der alles entscheidenden Sitzung die Trümpfe wieder in die Hand zu bekommen.

Seine Stimmung besserte sich. Er war Spezialist dafür, das Ruder in ausweglos scheinenden Situationen noch herumzureißen.

5. Kapitel: Die Kämpfer (I)

Steve Halloran hatte Angst. Furchtbare Angst. Wieder war er schweißgebadet aufgewacht, der Alptraum schwebte noch vor seinen geschlossenen Augen. Die Dunkelheit erschreckte ihn, trotzdem wagte er nicht, die Augen zu öffnen. Die Angst, sich in einer Umgebung wiederzufinden, die sich von der unterschied, die er, als er eingeschlafen war, noch als sein Zuhause betrachtet hatte, war noch größer.

 

Natürlich hatte das keinen Sinn. Er würde die Augen öffnen müssen oder wieder einschlafen. Doch daran hinderte ihn der gerade überstandene Alptraum. Es half nichts, und so versuchte er, sich zumindest auf den eventuell bevorstehenden Schock so gut es ging vorzubereiten.

Sein Zimmer hatte sich nicht verändert, soweit er dies auf den ersten Blick feststellen konnte. Da waren sein Schreibtisch, das Bücherregal, die wuchernde, exotische Topfpflanze, die Kommode, über der der Spiegel mit der abgebrochenen Ecke hing, seine Bongos.

Steve stieß einen erleichterten Seufzer aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jeden Morgen die gleiche Quälerei. Manchmal hatte er schon Angst, abends überhaupt zu Bett zu gehen. Nächtelang hatte er wachgelegen, bis ihn dann irgendwann tagsüber die Müdigkeit überwältigt hatte und er eingenickt war, auch wenn es sich nur um Minuten handelte. Die Umgebungswechsel waren immer während des Schlafes erfolgt, mal in längeren, mal in kürzeren Abständen, mal tagsüber, mal des Nachts. Und sie hatten immer einen Schock ausgelöst, der ihn in ständiger Anspannung hielt. Er war abgemagert und sah aus wie eine lebende Leiche. Es handelte sich um ein Phänomen, an das man sich nicht gewöhnen konnte.

Aber was hieß hier »man« ? Er war es, der darunter litt. Er, Steve Halloran, 25 Jahre, Gelegenheitsarbeiter, politischer Aktivist, notorischer Weltverbesserer. Und soweit ihm bekannt war, war er der einzige Mensch in Goldentor, der diese Schrecken durchleben musste - vielleicht sogar der einzige auf der ganzen verdammten Welt.

Wahrscheinlich war er sowieso verrückt. Welche andere Schlussfolgerung konnte es geben? Das, was er erlebte, konnte unmöglich real sein. Er kannte sich nicht besonders gut aus mit psychologischen Definitionen von Verrücktheit. Es gab schließlich unzählige Arten, und sein Wahn mochte eine Art Schizophrenie oder eine andere psychische Krankheit sein, das war ihm letztlich ziemlich egal.

Aber konnte ein Verrückter oder psychisch Kranker, wie es so schön hieß, der seine Verrücktheit erkannt hatte und die Symptome als solch identifizierte, nicht etwas gegen seine Krankheit tun? Er war vorerst nicht bereit, zu einem Psychiater zu gehen. Er hielt nichts von Seelendoktoren und Psychotherapien, obwohl sein Freund Per, mit dem er immer so hervorragend streiten konnte, ihm einige Vorurteile in dieser Hinsicht genommen hatte. Per hatte sogar vorgeschlagen, ihn zu begleiten, aber Steve hatte diese Möglichkeit weit von sich gewiesen. Doch wenn das Phänomen andauerte, würde ihm dieser Gang nicht erspart bleiben, wollte er nicht wirklich den Verstand verlieren. Und dieser Zeitpunkt lag nicht mehr allzu weit entfernt.

Seine Gedanken schlugen einmal mehr Kapriolen und das kurz nach dem Aufwachen. Seit Wochen ging das nun so, und er bekam immer häufiger Kopfschmerzen davon. Aber wie sollte er die bohrenden Überlegungen abschalten können, wenn er nicht einmal den Hauch einer Erklärung für seine Symptome finden konnte, geschweige denn einen Ansatzpunkt für eine Lösung? Er schwang die Beine aus dem Bett, war froh, den Boden unter seinen nackten Füßen zu spüren, den er oft genug zu verlieren glaubte. Er war es nicht gewohnt, dass ihm Erklärungen fehlten. Seiner Ansicht und Erfahrung nach gab es Methoden und Theorien, wonach alles erklärt werden konnte, es war nur eine Frage der Zeit, diese Erklärungen zu finden. Mit Hilfe einer wissenschaftlich-dialektischen Analyse der sichtbaren Phänomene musste es möglich sein, die Wirklichkeit hinter dem Schein zu entdecken, sowohl die soziale, gesellschaftliche Wirklichkeit wie auch den Hintergrund für das eigene, persönliche Verhalten. Diese Herangehensweise hatte bisher immer zu Resultaten geführt, die das Fundament für seine persönliche Aktivität und Entfaltung lieferten. Natürlich stellten diese Resultate kein endgültiges Produkt dar. Die gesellschaftlichen Strukturen waren in dauernder Veränderung begriffen, und alle Theorien mussten diesen Veränderungen angepasst werden.

Per griff diese Auffassung jedes Mal stark an und behauptete, dass sein Verhalten von Faktoren bestimmt wurde, auf die er gar keinen Einfluss hatte, weil er sich nicht mit den unbewussten und verborgenen Seiten seiner Person auseinandersetzen wollte. Steve wies diese Ansicht als mystisch verklärt und damit reaktionär zurück, und so befanden sie sich mitten im heftigsten Streit, in dem keine Seite jemals einen Sieg davontrug.

Kein Wunder, dass ihm dauernd Per in den Sinn kam, denn was im Moment mit ihm geschah, entzog sich jeder Analyse und Theorie. Selbst Vermutungen und Hypothesen fielen ihm nicht ein. Das einzig Vernünftige schien das Akzeptieren einer psychischen Krankheit zu sein.

Dennoch mochte sich Steve damit nicht zufrieden geben, es widersprach einfach all seinen Vorstellungen und Überzeugungen. Es mussten doch Hinweise darauf existieren, welche Faktoren zu solch extremen Ausfallerscheinungen führen konnten.

Er war keinen besonders anstrengenden Stresssituationen ausgesetzt, politisch hatte er sich im letzten Jahr eher zurückgehalten, er pflegte normale Kontakte zu Freunden, hatte einige kürzere Liebesbeziehungen hinter sich, die ihn emotional nicht sehr aufgewühlt hatten, seine Jobs brachten ihm genug Geld ein, um davon bescheiden leben zu können ... Er kam einfach nicht hinter die Ursachen für seine Krankheit.

Dazu kam, dass alles so plötzlich begonnen hatte, von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung, ohne jegliche beunruhigende Anzeichen - fast wie eine Naturkatastrophe.

Und das machte ihn stutzig und ließ immer wieder den Verdacht aufblitzen, es handelte sich doch um ein reales Geschehen, das aufgrund unerklärlicher Umstände nur er allein in der Lage war wahrzunehmen.

Die Schlussfolgerungen aus dieser Überlegung waren allerdings fast noch erschreckender als die Annahme einer psychischen Erkrankung. Die Konsequenzen waren geradezu undenkbar ...

Mit zitternden Händen bereitete er sich sein Frühstück in der kleinen Küche, die nur durch einen Vorhang von seinem Wohn- und Schlafräum getrennt war. Wenn er so weiter machte, war er bald nicht nur ein psychisches Wrack.

Während er den Tisch deckte und die Kaffeemaschine in Gang setzte, fiel ihm die Wohngemeinschaft ein, in der er - nach seiner Erinnerung - noch vor zwei Wochen gelebt hatte. Eines Tages war er aufgewacht und hatte sich in dieser engen 1-Zimmer-Wohnung wiedergefunden. Diesen Schock hatte er bis heute nicht verdaut.

Zunächst hatte er das Erlebnis für einen seiner Alpträume gehalten und war wieder eingeschlafen. Als er zum zweiten Mal aufwachte, erging es ihm nicht besser: sein geräumiges Zimmer hatte sich in eine schäbige, kleine Behausung verwandelt. Er hatte geschrien und minutenlang die Kontrolle über sich verloren. Schließlich hatte er eine Tasse gegen die Wand geworfen, wobei sowohl die Tasse als auch der obere Rand seines Spiegels zerbrochen waren. Der Alptraum entpuppte sich als Wirklichkeit, und seine Freunde bestätigten ihm, dass er schon seit einem Jahr dort wohnte, die Regierung duldete kaum noch Wohngemeinschaften.

Seit dieser Zeit hatte er die Kontakte zu Freunden auf das Notwendigste beschränkt. Die Gespräche mit Ihnen verliefen allzu frustrierend, und er hatte den Eindruck, dass einige ihn schon als Sonderling oder Spinner betrachteten. Schließlich erinnerte er sich an Erlebnisse, die sich - nach ihrem Wissen - niemals ereignet hatten, an Dinge, die niemals existiert hatten, an Situationen, die niemals eingetreten sein konnten.

Fünf dieser plötzlichen Veränderungen waren über ihn hereingebrochen, und nach jeder hatten Umwälzungen stattgefunden, denen er hilf- und orientierungslos ausgesetzt war. Denn für alle anderen Menschen in Goldentor hatte es keine Veränderungen gegeben! Jeder - nach seiner Meinung - »neue« Zustand existierte in ihren Augen schon seit langem, und wie sollte er etwas erklären, das er unmöglich analysieren konnte?

Nach gesundem Menschenverstand konnte es nicht wirklich sein, dass von einer Minute zur anderen niemand in der Wohngemeinschaft mehr über Geld verfügte, kaum etwas zu essen da war, alle Leute schlechter angezogen, die Lebensmittelpreise um das Doppelte gestiegen waren, Militär in den Straßen patrouillierte, das Parlament faktisch entmachtet und jede Oppositionspartei verGesandten war. Das konnte nicht geschehen, nicht innerhalb von zwei Wochen. Niemand glaubte so etwas. Es handelte sich hier immerhin um gesellschaftliche Veränderungsprozesse, geschichtliche Abläufe und keinen Hokuspokus.

Und gerade er hatte sich immer eingebildet, etwas von historischen Veränderungsprozessen zu verstehen. Vielleicht war das seine Manie. Vielleicht litt er in diesem Punkt an krankhafter Selbstüberschätzung, und das wirkte sich jetzt auf so verheerende Weise aus.

Ach, Unsinn! Diese Erklärung klang ebenso dürftig wie alle anderen, die er sich zurechtgelegt hatte, seit das Phänomen aufgetreten war.

Er erinnerte sich an seine Gespräche mit Per, in denen er versucht hatte, seinem Freund nahezubringen, was mit ihm geschah. Die letzte Unterhaltung hatte einen besonders deprimierenden Verlauf genommen, nachdem Per darauf beharrt hatte, dass er sich in eine therapeutische Behandlung begeben sollte, und Steve ihn am Ende voller Ärger aus der Wohnung geworfen hatte. Natürlich hatte es wie jedes Mal damit begonnen, dass Per behauptete, Steve hätte mit ihm noch nie über dieses Thema gesprochen. Schon das hatte ihn zu einem Wutausbruch getrieben. Pers lässige, unschuldige Haltung, die Beine übereinandergeschlagen ... alles hatte ihn auf die Palme gebracht: seine unbewegliche Miene, die innere Ruhe, die er ausstrahlte, den bärtigen Kopf auf die Hand gestützt, die wasserblauen Augen, die fest auf ihn gerichtet waren. Steve war förmlich explodiert. Wieder einmal sollte er seine Geschichte erzählen, am Punkt Null anfangen, weil inzwischen eine »Veränderung« eingetreten war und Per sich an die vergangenen Gespräche nicht erinnern konnte, ja fest davon überzeugt war, sie hätten gar nicht stattgefunden.

Das Gespräch konnte so zu keinem Ergebnis kommen, wie alle anderen auch, die er mit seinen Freunden geführt hatte. Das Phänomen war unschlagbar. Es gab kein Mittel zu beweisen, dass die Vergangenheit, so wie er sie kannte, Wirklichkeit gewesen war, denn niemand anders hatte eine Erinnerung daran. So war er letztlich vor die Alternative gestellt: entweder war er verrückt oder alle anderen. Und in diesem Fall sagte ihm die Vernunft, dass er der Kranke war.

Wenn nur nicht diese Zweifel an ihm nagten, dieses Gefühl, als ob wirklich etwas geschah, das von einer Minute zur anderen die Welt veränderte.

Gerade deswegen hatte er bevorzugt Auseinandersetzungen mit Per gesucht. Sein Freund beschäftigte sich schon seit vielen Jahren mit Mystik, außersinnlichen Wahrnehmungen und Schriften aus den Magischen Ländern der östlichen Hemisphäre. Doch die Annahme, dass irgendeine geheimnisvolle Kraft seit einigen Monaten dabei war, die Welt - oder zumindest Goldentor - nach Belieben zu verändern, wobei sie ausgerechnet ihn, Steve Halloran, davon ausnahm, hatte selbst in Pers Gedankenwelt keinen Platz.

Steve glaubte ja selbst nicht daran. Wie oft hatte er sich mit Per über dessen mystischen Unsinn gestritten, und nun kam er selbst auf solch einen abstrusen Gedanken.

Schließlich war er es doch gewesen, der hartnäckig versucht hatte, Per davon zu überzeugen, dass all dieser Firlefanz nur dazu diente, den Menschen Flucht- und Scheinwelten zu eröffnen, um sie von der sozialen Realität abzulenken, damit die Herrschenden umso leichter ihre Macht festigen und ausbauen konnten. Pers differenzierte Betrachtungsweise war ihm ein steter Dorn im Auge, denn dieser leugnete den politischen Aspekt durchaus nicht, vertrat aber die Ansicht, dass dieser »politische Dogmatismus« eine einseitige Sicht der Welt erzeugte und eher schädlich als hilfreich sei - gerade auch im Kampf um eine bessere Gesellschaft. Die Tatsache, dass in anderen Ländern die soziale Realität gerade auf dem fußte, was Steve so vehement ablehnte, brachte Per einen weiteren Pluspunkt in ihren Debatten.

Und in gewisser Weise war Steve seinem Freund sogar dankbar für diese Auseinandersetzungen, die dafür sorgten, dass er seine Position immer wieder kritisch überdachte, und auch Menschen gegenüber aufgeschlossener wurde, die ihren Alltag nicht so wie er politischen Theorien und Aktivitäten verschrieben hatten.

 

Seinen düsteren Gedanken nachhängend nahm er, fast ohne es zu registrieren, sein karges Frühstück ein. Die letzten heißen Sommertage des Jahres begannen schon am Morgen seine Dachwohnung wie einen Grill aufzuheizen. Ab mittags war es hier kaum noch auszuhalten, und er nahm sich vor, die nahegelegene Badeanstalt aufzusuchen, ehe die Demonstration heute Nachmittag anfing. Er war froh, in dieser Hitze nicht arbeiten zu müssen, auch wenn das Geld von der Sozialfürsorge kaum zum Überleben ausreichte. Den letzten Job hatte er vor zwei Tagen gekündigt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass in dem Betrieb mit giftigen Stoffen ohne jegliche Schutzvorkehrungen hantiert wurde.

Er packte Handtuch, Badehose und zwei Bücher zusammen und machte sich auf den Weg. Solange ihm nichts besseres einfiel, würde er seine Tage wie bisher verbringen müssen, obwohl er nicht wusste, wie lange er es noch aushalten würde, wenn die »Zeitsprünge« - wie er das Phänomen vorerst getauft hatte - bei ihm weiter andauerten.

Draußen überfiel ihn die drückende Hitze, lähmte seine Gedanken. Ein leichter Wind wehte Smog und Staub aus der Industrieregion heran, der dröhnende Autoverkehr verursachte ihm Kopfschmerzen. So verbrachte er den halben Tag lesend, dösend und schwimmend in der überfüllten Badeanstalt auf einer verdorrten Wiese zwischen schwitzenden Leibern.

Seine Bemühungen nicht so viel zu denken, abzuschalten, gelangen ihm überraschend gut, denn als er irgendwann auf die Uhr sah, musste er sich bereits beeilen, um noch rechtzeitig zum letzten Vorbereitungstreffen für die geplante Demonstration zu kommen.

Der Anlass für die Demonstration war die gerade erfolgte Verschärfung der Sicherheitsgesetze, die es in Zukunft der Polizei erlaubte, »politische Tatverdächtige« bis zu 14 Tagen festzuhalten und in dieser Zeit auch Gespräche mit Anwälten und Familienangehörigen zu überwachen. In Goldentor konnte inzwischen von einer demokratischen Regierung keine Rede mehr sein, und diese Entwicklung hatte sich - zumindest für Steve - allein in den letzten zwei Monaten vollzogen. Für alle anderen, mit denen er gesprochen hatte, existierten diese quasi-diktatorischen Zustände allerdings schon seit Jahren. Auch die geringe Zahl an Menschen, die gegen dieses Regime Widerstand leisteten, schien nicht ungewöhnlich. Steve dagegen erinnerte sich an Zeiten - noch vor einem halben Jahr -, als die außerparlamentarische Opposition zu Tausenden zählte. Er hatte konkrete Hoffnungen gehegt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Regime endgültig abgewirtschaftet hatte. Es war sogar zu Reformen gezwungen worden, die Bevölkerung Goldentors hatte sich nicht mehr mit leeren Versprechungen abspeisen lassen. Die radikalen politischen Gruppierungen hatten offen den Sturz der Regierung propagiert, und ein nicht geringer Teil der Bevölkerung sympathisierte mit ihnen. Die Hoffnung, das Ende einer sogenannten Demokratie mitzuerleben, dessen politische und wirtschaftliche Machthaber sich immer mehr bereicherten, während die Menschen hier immer härter arbeiten mussten, um gerade genug zum Leben zu verdienen, war jäh verflogen.

Die »Zeitsprünge« hatten diese »Illusionen« zerschmettert. Steves Lebenssinn war tief erschüttert worden, und wochenlang hatte er geglaubt, in einem Alptraum zu leben, aus dem er irgendwann erwachen müsste. Alles, woran er geglaubt und wofür er gearbeitet hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Manchmal hatte er an Selbstmord gedacht, um diesem Schrecken zu entkommen. Diese Phase lag nun hinter ihm, er war wieder an die Oberfläche gekommen, obwohl immer noch ein Gewicht an ihm zerrte, das drohte, ihn wieder hinab zu ziehen zum Grund des Vergessens. Er schwamm nur mühsam, zerschlagen und ausgelaugt, doch der Wille weiterzumachen und eventuell die Ursache für seine Zeitsprünge zu ergründen, hatte die Oberhand behalten.

Das wenige, was die Medien über Städte wie Woltan oder das Schwere Lager verbreiteten, die über ähnliche gesellschaftliche Strukturen wie Goldentor verfügten, war auch nicht dazu angetan, bessere Stimmung zu erzeugen. Zumindest in Woltan zerbröckelte die demokratische Fassade ebenso, dort drängte das Militär in entscheidenden Machtpositionen.

Auch diese Einschränkung in der Berichterstattung der Medien über Ereignisse in anderen Lebensgemeinschaften, war für Steve ein Ergebnis der Realitätswechsel. Früher hatte es sowohl in der Presse als auch im Tri-Di wenigstens ab und zu Reportagen über andere Kulturen gegeben. Sie waren fast völlig aus der Presselandschaft verschwunden, und niemand erinnerte sich an sie. Ja, das Wissen um andere Lebensgemeinschaften überhaupt hatte bei allen rapide abgenommen. Von alternativen Gesellschaftsmodellen, wie sie in anderen Gegenden des Kontinents vorgelebt wurden, hatte kaum jemand gehört.

Wieso erinnerte nur er sich an die nächtelangen Diskussionen über die Art des Zusammenlebens in diesen Gemeinschaften? Hatten diese Gespräche wirklich nicht stattgefunden? Besaß er falsche Erinnerungen? Und wenn ja, woher kamen diese?

Steve war nicht überrascht, dass sich im Hinterzimmer des Cafes, in dem das Vorbereitungstreffen stattfand, nur ungefähr 40 Leute eingefunden hatten. Die Zeiten, in denen Versammlungen in der Stadthalle abgehalten wurden, waren vorbei bzw. hatte es nie gegeben. Er beteiligte sich auch nicht an der Auseinandersetzung um Strategie und Taktik, Militanz und Gewaltlosigkeit. Diese Diskussionen gehörten für ihn der Vergangenheit an, er glaubte sie längst überwunden. Es war ihm nicht möglich, längst bekannte Argumente immer aufs Neue auszutauschen.

Eine düstere Wolke von Resignation und Frustration umhüllte ihn. Er fühlte sich wie in einem schlecht inszenierten Schauspiel, dessen Thematik ihn nicht interessierte. Im Grunde war er nur aus einem diffusen Pflichtbewusstsein hierhergekommen.

Als alle schließlich, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein, aufbrachen, war nur eines klar: Es sollte versucht werden, die Rede von Bürgermeister Boltagen an die Bevölkerung von Goldentor, die zu einem großen Medienspektakel aufgebauscht worden war, zu verhindern oder nachhaltig zu stören. Diesen Plan allerdings hatte es auch schon vorher gegeben, und Steve war sich auch bewusst, dass es nicht möglich sein würde, die Rede zu verhindern. Niemand konnte ernsthaft anderes behaupten angesichts ihrer lächerlichen Anzahl. Selbst eine Störung erschien wenig glaubhaft.

Der Marktplatz vor dem Parlamentsgebäude war vollgestopft mit Menschen, von denen die Demonstrierenden nur einen kleinen Teil ausmachten. Trotzdem war ihre Wut fast körperlich zu spüren, als Steve sich unter sie mischte. Aus den sternförmig auf den Marktplatz zulaufenden Seitenstraßen drängten weitere Schaulustige in einem nicht enden wollenden Strom nach. Ein Spektakel würde es allemal, dachte Steve. Er fühlte Ärger in sich hochsteigen. Ärger über die Unverschämtheit des Bürgermeisters, der es nach der Verabschiedung der Sicherheitsgesetze auch noch wagte, diese Maßnahme öffentlich zu rechtfertigen und in einen »Sieg für die Demokratie« umzuwandeln. Nur dieser Ärger hatte ihn hierher getrieben, auch wenn er keine Chance für die ca. 300 Demonstranten sah, Boltagens Rede effektiv zu gefährden.

Vor einem Vierteljahr wären wir dreimal so viele gewesen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber in dieser Erinnerung hätte Boltagen einen solchen Versuch gar nicht erst zu unternehmen gewagt. Der Bürgermeister war nicht gerade ein handlungsfreudiger Mann, eher ein alternder Bürokrat.