Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt

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Bei der Masseninszenierung heute handelte es sich um eine reine Machtdemonstration des Staates. Eine Schmierenkomödie, die das Volk beruhigen und einlullen sollte.

Die Rednertribüne auf der Balustrade vor dem Parlamentsgebäude war von einem massiven Polizeiaufgebot abgeschirmt. Weitere Einheiten der mit Schlagstöcken und Tränengas ausgerüsteten Beamten hielten sich hinter der Tribüne in Bereitschaft, um im Notfall eingreifen zu können. Ein anderes Spezialkommando, das sich kaum sichtbar noch hinter den Reihen der Polizei verbarg, war, wie Steves geschultes Auge erkennen konnte, mit Kotzgas und Gummigeschossen bewaffnet. Zivile Greiftrupps lungerten überall herum und suchten sich schon jetzt verdächtig aussehende Individuen heraus, um sie später abgreifen zu können. Alles bekannte Polizeitaktik, denen die Demonstranten in ihrer geringen Anzahl nichts entgegensetzen konnten. Das Presseaufgebot war enorm. Türme und Plattformen mit Kameras waren aufgestellt worden, um Boltagen aus jeder Perspektive in Szene setzen zu können. In den drei Tageszeitungen und den lokalen Tri-Di-Programmen würde es keine kritischen Stimmen geben. Alle Medien unterstanden seit kurzem einem Konzern und waren praktisch gleichgeschaltet.

Der gigantische Aufwand der offiziellen Medien sowie das unverhältnismäßig große Polizeiaufgebot bereiteten Steve ein mulmiges Gefühl, noch bevor der Auftritt des Bürgermeisters überhaupt begonnen hatte. Es schien ihm, als sei die Situation dafür vorgesehen, dass die Polizei bewusst Vorfälle provozierte, um dann alles eskalieren zu lassen. Dieses Vorgehen hatten sie in der Vergangenheit des Öfteren praktiziert, doch diesmal waren die Demonstranten darauf absolut nicht vorbereitet.

Er gab diese Vermutung an seine Nebenleute weiter, doch es herrschte die einhellige Meinung, dass die Polizei gerade angesichts der Medienpräsenz und der Menschenmassen dies nicht riskieren würde. Trotzdem hielt Steve sich zurück und sah sich nach Fluchtwegen um, die er gegebenenfalls nutzen konnte.

Dabei entdeckte er seinen Freund Per Vantryk auf der Außentreppe eines der kleinen Cafés, die um den Marktplatz gruppiert waren. Der Fotograf hantierte mit zwei Kameras, und seiner düsteren Miene zufolge fühlte er sich auch nicht besonders wohl.

Steve ging auf ihn zu und begrüßte ihn.

»Steve, wie geht es dir? Ich freue mich, dich zu sehen.«

Steve war erstaunt und gleichzeitig erleichtert über diese Reaktion. Der Streit mit Per hatte ihm wie ein Stein im Magen gelegen. Anscheinend trug er ihm nichts mehr nach.

Nicht besonders,« antwortete er wahrheitsgemäß. »Glaubst du, dass du die Bilder verkaufen kannst?«

»Das wird schwierig, es sind ja Dutzende von Pressefotografen hier. Vielleicht gelingt mir ein Schnappschuss, den ich an eine der kleinen Wochenzeitungen verkaufen kann. Die zahlen natürlich kaum etwas, und ich bin dringend auf das Geld angewiesen. Die Chancen stehen nicht gut. Aber falls hier wirklich etwas passiert, sollen die Bilder auch eher dazu dienen, das Geschehen aus einer anderen als der offiziellen Perspektive festzuhalten.«

»Dann hast du also auch kein gutes Gefühl.«

»Nein. Die ganze Show stinkt zum Himmel. Wozu der Rummel? Das ist doch sonst nicht Boltagens Art. Er kann zwar Theater spielen, hält sich aber eher zurück. Etwas anderes möchte ich dir noch sagen, bevor es hier losgeht: ich habe wiederholt über unser Streitgespräch nachgedacht ...«

»Ich weiß, ich habe mich wie ein Trottel benommen,« entschuldigte sich Steve.

»Darum geht es mir nicht. Dein blödes Verhalten hat mich im Nachhinein dazu gebracht, dass ich denke, es ist vielleicht doch mehr an deiner Geschichte, als ich zunächst wahrhaben wollte. Sonst wärest du ja nicht so in Wut geraten. Außerdem passt diese Sache einfach nicht zu dir. Du bist doch mit deinem rationalen Kopf immer ganz gut zurechtgekommen. Und dann plötzlich diese Psychose oder was immer es auch ist ... Wir müssen uns noch einmal darüber unterhalten.«

Steve sah ihn mit großen Augen an. Das war wieder einmal typisch für Per. Er sagte das so leichthin, dabei war es bestimmt nicht einfach für ihn, seine vehemente Ablehnung zu korrigieren.

»Nichts lieber als das! Ich brauche wirklich jemanden zum Reden. Ich könnte heute Abend bei die vorbeischauen.«

»Tu das. Ich bin auf jeden Fall zuhause ... Und pass auf dich auf.«

Steve nickte und mischte sich dann wieder unter die Demonstranten, die jetzt angefangen hatten, Parolen zu rufen und Transparente zu entrollen. Die Menge verhielt sich weiterhin abwartend. Der öffentliche Auftritt Boltagens war so ungewöhnlich, dass er inzwischen ca. 3000 Menschen angelockt hatte, obwohl nur mit dem üblichen Pathos, leeren Versprechungen und nichtssagendem Gerede zu rechnen war.

In diesem Augenblick betrat der Bürgermeister die Bühne. Steve fiel sofort auf, wie alt und schlecht Boltagen aussah. Aller Schminke zum Trotz wirkte sein Gesicht hohlwangig und schlaff, seine Bewegungen waren unsicher. Auch sein enormes Körpergewicht konnte er nicht ganz verbergen. Nur in seinen Augen glomm das nie verlöschende Feuer eines Fanatikers, der seinen Weg bis zum Ende gehen würde.

Der Mann ist nichts weiter als eine Gallionsfigur, dachte Steve. Die Mächtigen aus Wirtschaft und Politik hielten ihn sich nur, weil er ein guter Schauspieler war und bei ihm belanglose Worte wie großartige Enthüllungen klangen.

Seine Ansicht wurde bestätigt, als er neben Boltagen den Bankier Telström erblickte, eine graue Eminenz und Herrscher über ein Imperium aus Geld und Macht, das sich nicht auf Goldentor beschränkte. Ihm wurden intime Verbindungen zu den Militärs in Woltan und hohen Politikern im Schweren Lager nachgesagt. Ein Drahtzieher hinter den Kulissen. Der Banker wirkte im Gegensatz zu Boltagen trotz seines Alters energisch und gelassen. Er hielt sich stocksteif und blieb immer einen Schritt hinter dem Bürgermeister, aber Steve war sicher, dass er als Kontrollinstanz und Rückendeckung fungierte.

Die Rede nahm ihren Lauf, ein blubbernder Schwall von Seifenblasen mit immer wiederkehrenden Beteuerungen und Statements. Steve fing an, die Parolen der Demonstranten zu skandieren, jetzt innerlich ruhiger in der Annahme, dass diese Demonstration nach dem gleichen Schema wie etliche andere verlaufen würde. Es gelang den Demonstranten nicht, sich gegen die enorme Lautsprecheranlage durchzusetzen, und weitergehende Aktionen verGesandten sich bei derartig massierten Polizeikräften. Das hatten zum Glück auch die Militantesten unter ihnen eingesehen.

Boltagen hastete von einem Schlagwort zum nächsten, ohne seinen Worten die nötige Überzeugungskraft verleihen zu können. Die Menge zeigte sich wenig beeindruckt. Steve sah in apathische und mürrische Gesichter, spürte, dass die Menschen unruhig wurden. Boltagens Stern war am Verlöschen, sein Charisma verschwunden.

Vielleicht war er krank, dachte Steve. Aber Boltagen machte eher einen ausgelaugten, mitgenommenen Eindruck. Um Steve herum fingen die Menschen an, sich mit ihren Nachbarn zu unterhalten, ein Teil von ihnen wandte sich gelangweilt schon nach zehn Minuten zum Gehen.

Steve schmunzelte. Das würde den Regierenden gar nicht schmecken. Denn sie registrierten die Vorgänge ebenso, obwohl im Tri-Di sicher nur die klatschenden Anhänger der Bürgermeisters zu sehen sein würden. Er beobachtete, wie sich Telströms Gesicht zu einer ärgerlichen Fratze verzog. Vielleicht konnte Per hier einige schöne Fotos schießen.

Gerade als Steve sich überlegte, ob auch er nach Hause gehen sollte, - die Rede konnte sich noch lange hinziehen, Boltagen besaß einen unerschöpflichen Wortschatz - nahm er eine Veränderung wahr.

Die Luft um ihn herum begann zu knistern, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Das Geräusch wurde innerhalb von Sekunden so intensiv, dass es ihm die Ohren verstopfte und keine anderen Töne mehr zuließ. Er hörte weder Boltagens Lautsprecherstimme, noch die Unterhaltungen seiner Nebenleute. Er sah, dass sie ihre Lippen bewegten und wollte ihnen etwas zurufen, doch ein Übelkeit erregendes Gefühl stieg in seinem Magen hoch, und er musste schlucken, um den Ekel herunterzuwürgen. Zugleich ergriff ihn eine Welle von Panik, und er vermutete zunächst den Einsatz von Kotzgas von Seiten der Polizei. Doch die Szenerie hatte sich nicht verändert. Noch nicht. Er bekämpfte seine Übelkeit und die aufsteigende Angst und hob erneut zu sprechen an, als das Knistern sich verstärkte und sich in einem lautlösen, weißen Blitz entlud.

Schlagartig wusste Steve, was vorging; obwohl er es bisher nie im Wachzustand miterlebt hatte: ein Realitätswechsel kündigte sich an.

War das der Moment, in dem sich seine Verrücktheit manifestierte? Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, und dann war der Augenblick auch schon vorüber.

Als wenn eine Kulisse durch eine andere ersetzt wurde, veränderte sich von einer Sekunde zur anderen seine Umgebung radikal. Um ihn herum schrien Menschen, rannten in wilder Flucht an ihm vorbei, stießen ihn zur Seite und drängten vom Marktplatz herunter. Das charakteristische Geräusch beim Abfeuern von Tränengasgranaten vermischte sich mit unverständlichen Lautsprecherdurchsagen und dem näherkommenden Trampeln schwerer Stiefel.

Entsetzt und gelähmt starrte Steve auf das erschreckende Bild, das sich seinen Augen bot: aus den Polizisten vor der Bühne war eine Abteilung Soldaten geworden, die im Gleichschritt mit mehreren gepanzerten Fahrzeugen langsam gegen die Menge vorrückte. Eine weitere Abteilung Soldaten rannte hinter dem Parlamentsgebäude hervor und riegelte den Platz zu dieser Seite völlig ab. Über der fliehenden Menge kreiste ein Armeehubschrauber, aus dem ebenfalls mit Tränengas geschossen wurde.

Immer noch bewegungsunfähig, seinen Augen nicht trauend, schwenkte Steve den Blick zur Bühne und erlebte einen Vorgang, der sich tief in sein Gedächtnis eingrub: Boltagen stand wie zuvor vor dem Mikrophon, die Arme triumphierend emporgerissen, ein irres Lachen verzerrte sein Gesicht. Auf seiner Schulter lag die Hand Telströms, der ebenfalls eine Siegerpose eingenommen hatte und nun seinem Freund die Hand schüttelte, als ob sie sich gegenseitig gratulierten.

 

In diesem Moment war sich Steve völlig sicher, erkannt zu haben, was wirklich geschah. Ein eiskalter Schauer ließ ihn frösteln.

Doch es war unmöglich, einen weiteren Gedanken zu fassen, er wurde von den panikerfüllten Menschen fast umgerannt, seine Augen begannen von dem Tränengas zu brennen, er musste husten und spucken.

Bloß weg hier, dachte er, hatte aber für einen Moment jede Orientierung verloren. Eine Hand fasste seinen Arm.

»Willst du hier Wurzeln schlagen?« keuchte es neben ihm.

»Vicki« , stieß er hervor und ließ sich von seiner ehemaligen Mitbewohnerin und Freundin mitziehen.

Ein Stich durchfuhr seine Brust, und trotz der brenzligen Situation schweiften seine Gedanken für einen Augenblick ab. Er hatte sie geliebt, liebte sie immer noch ... die kurze gemeinsame Zeit in der Wohngemeinschaft ... dann der Realitätswechsel vor zwei Wochen, der ihn in seiner jetzigen Behausung aufwachen ließ und Vickis Gefühle für ihn weggewischt hatte. Er war ihr seitdem aus dem Weg gegangen, und nun begegneten sie sich ausgerechnet hier wieder.

»Hier entlang!« rief die blonde Frau ärgerlich. »Was ist los mit dir? Träumst du oder hast du etwas abbekommen?«

»Nein, es geht schon wieder. Ich bin nur etwas durcheinander.«

»Das sind ja ganz neue Züge an dir.«

Allmählich fanden seine Füße den Rhythmus und er erkannte die Richtung, in die Vicki ihn führte. Er beglückwünschte sich im Nachhinein, dass seine Intuition ihm geraten hatte, sich nicht mitten in die Menge zu stellen. Wahrscheinlich wäre er von dort nicht mehr weggekommen. Das Schreien und Stöhnen der Fliehenden und Verletzten hinter ihnen, das dröhnende Geräusch des Helikopters und der Panzerfahrzeuge marterten seine Ohren. Doch nun, da der Fluchtinstinkt die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatte, klärte sich auch der Nebel in seinen Gedanken.

»Dorthin!« rief Vicki und zeigte auf eine der kleinen Seitenstraßen. »Von dort sind sie schon abgerückt.«

Plötzlich blieb Steve stehen, Vickis Finger krallten sich in seinen Arm. Die Geräuschkulisse hatte sich verändert, es klang wie ...

»Schüsse!« schrie er ungläubig. »Sie schießen auf die Leute!«

»Komm weiter, drängte Vicki. »Tu nicht so, als wäre das etwas völlig Neues für dich. Es hat ja Tote genug in den letzten Monaten gegeben, und du warst oft dabei. Du wusstest doch, worauf du dich hier einlässt.«

Automatisch rannte er weiter, seine Beine bewegten sich von selbst. Nun schossen sie also auf Menschen, konnte es noch schlimmer kommen?

Hatte es Zweck in einer Welt weiterzuleben, in der unausweichlich seine schlimmsten Horror-Visionen Wirklichkeit wurden? Was hatte sich noch alles innerhalb der wenigen Sekunden der Realitätsmanipulation verändert? Wo wohnte er jetzt? Hatte er noch die gleichen Freunde? Konnte Per sich noch an ihr Gespräch erinnern?

Wie betäubt folgte er Vicki durch ein Gewirr kleiner Straßen, alles wirkte noch verwahrloster, als er es gewohnt war. Farbe blätterte von den Fassaden der Häuser, die allesamt schäbig und heruntergekommen aussahen. Der Autoverkehr hatte stark abgenommen, die ausgemergelten Gestalten, an denen sie vorbeihasteten, stierten meist ausdruckslos vor sich hin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine eigene Fußbekleidung nur noch aus durchgelaufenen Turnschuhen bestand und seine Hose eingerissen und viel zu kurz war.

Einige andere Personen in ihrem Alter hatten sich ihnen angeschlossen, er kannte die Gesichter, die Namen wollten ihm nicht einfallen. Er registrierte dies alles, ohne dass es richtig zu ihm durchdrang.

Irgendwann standen sie dicht gedrängt in einem Hinterhof, eine leise geführte Auseinandersetzung folgte darüber, ob und welche Wohnungen und Verstecke vor dem Zugriff des Militärs sicher wären. Er hielt sich abseits, erledigt und ausgepumpt. Er fühlte sich wie eine leere Hülle, als könnte er sich hier hinsetzen und sterben, ohne es bewusst zu erleben.

Vicki kam zu ihm, ihre Hand streichelte seine Wange. Jetzt erst merkte er, dass er weinte.

»Steve, du bist ja völlig fertig. Komm mit uns. Wir haben beschlossen, uns im Slum-Viertel zu verbergen, bis wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt ist.«

Slums? Er schüttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Er brauchte einfach Zeit. Slums hatte es in Goldentor nie gegeben. Es handelte sich um einen Begriff aus der Geschichte. Er bezweifelte, dass es irgendwo anders auf der Erde Slums gab. Was geschah mit ihm? Oder was geschah mit Goldentor?

»Ich gehe zu Per,« sagte er mit brüchiger Stimme. »Es ist ja nicht weit von hier. Ich warte noch eine Weile, bis es dunkel geworden ist. Und dann ... hier halte ich es nicht mehr aus.«

»Ich möchte wissen, was mit dir los ist,« sagte Vicki und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. »Da steckt doch mehr dahinter als diese Demonstration.«

Steve machte sich von ihr los. Er konnte ihre Nähe nicht ertragen, obwohl er sie herbeisehnte. Er hatte Angst zusammenzubrechen, wenn er jetzt seinen Gefühlen nachgab. Am liebsten hätte er ihr einfach gesagt, dass er sie liebte, aber das war unmöglich.

»Vielleicht erzähle ich dir später alles,« sagte er ohne Überzeugung.

»Wenn alles vorbei ist.«

»Bist du sicher, dass du allein klarkommst?«

»Ja, natürlich. Ich muss mich nur ein wenig ausruhen.«

Sie musterte ihn kritisch. In dem Halbdunkel war ihr Gesicht kaum zu erkennen .

»Na gut. Du musst ja wissen, was du tust.«

»Keine Angst. Bei Per bin ich sicher.«

Sie verabschiedeten sich, die kleine Gruppe verließ einer nach dem anderen den Hof. Steve setzte sich auf den kalten Boden, den Rücken gegen eine der herumstehenden Mülltonnen gelehnt. Ihn fror, obwohl die Luft immer noch warm war. Er hatte einen pappigen Geschmack im Mund, spürte kaum seinen Körper. Er atmete ein paarmal tief durch, um seine Verkrampfung zu überwinden, aber der Schock steckte weiterhin in seinen Knochen.

Er musste mit Per reden, auch wenn dieser infolge der Realitätsveränderung wieder alles vergessen hatte. Er musste seine Entdeckung teilen. Er konnte unmöglich diese Last allein tragen. Und dann musste er aus Goldentor verschwinden, solange das noch möglich war. Vielleicht waren sie ihm schon auf der Spur, wenn sie so mächtig waren, wie er jetzt glaubte.

Der Anblick von Boltagen und Telström hatte ihm die Augen geöffnet. Der Moment ihres Triumphes war zum Moment seiner Erkenntnis geworden. Er war nicht verrückt, oh nein, es geschah wirklich: nicht etwa die Zeit wurde verändert, sondern die Realität, und die beiden spielten eine wichtige Rolle bei diesem Vorgang. Es klang absurd, aber er war vollkommen davon überzeugt: in irgendeiner ihm unbekannten Art und Weise korrigierten irgendwelche Leute nach ihrem Belieben die Wirklichkeit in Goldentor!

Per musste ihm helfen, seine Gedanken zu sortieren. Was geschah, war ungeheuerlich. Unmöglich hätte er noch vor kurzem gedacht. Aber er hatte es miterlebt und hatte Boltagen und Telström gesehen. Er wusste nicht, weshalb der Vorgang gerade ihn nicht erfasste. Er konnte sich auch nicht vorstellen, wie so etwas vor sich ging. Wurde eine Art Waffe benutzt, eine technische Apparatur, die diesen unglaublichen Vorgang ermöglichte? Er wusste nur, dass es geschah, und dass er, aus welchem Grund auch immer, davon verschont blieb.

Es hatte keinen Zweck, sich das Gehirn darüber zu zermartern, wie geschichtliche Abläufe, die ja das ständige Produkt der Handlungen aller Menschen waren, von einem Augenblick zum anderen in eine bestimmte Richtung gedrängt werden konnten. Der Gedanke war schwindelerregend. Aber das Absurde war Wirklichkeit geworden. Hatte ihn Per nicht immer glauben machen wollen, dass Realität nur in einer gesellschaftlichen Übereinkunft bestand, etwas als real anzuerkennen und etwas Anderes ins Reich der Phantasie zu verbannen? Lag dort der Punkt, wo der geheimnisvolle Manipulator ansetzte? Und konnte solch eine Macht gestoppt werden?

Der Gedankenwirrwarr bereitete ihm Kopfschmerzen.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Er wartete noch eine halbe Stunde, dann raffte er sich auf und verließ ebenfalls den Hinterhof. Auf den Straßen war von Polizei oder Militär nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sich das Geschehen anderswohin verlagert, oder es war bereits alles vorbei. Trotzdem blieb Steve vorsichtig, als er sich Pers Wohnung näherte.

Er hoffte, dass sein Freund zu Hause war, falls er nicht festgenommen worden war oder ihm noch etwas Schlimmeres zugestoßen war. Schnell verbannte er diesen Gedanken wieder. Es durfte ihm einfach nichts geschehen sein.

Als er schließlich vor Pers Haustür stand, hallte das Krachen der Schüsse immer noch in seinen Ohren wieder.

6. Kapitel: Die Kämpfer (II)

Tagebuchauszug Per Vantryk:

Nachdem ich die Vorhänge in meinem Wohnzimmer zugezogen hatte, wirkte es noch kleiner, als es ohnehin schon war. Steve meinte allerdings, ich könnte mich glücklich schätzen, dass ich mir überhaupt eine 2-Zimmer-Wohnung leisten konnte. Seine Bude konnte man wirklich nur mit dem Begriff Wohnklo bezeichnen. Er sagte weiter, dass ich allerdings heute Morgen noch eine geräumigere Wohnung besessen hätte - ich hätte sogar einen Abstellraum zur Dunkelkammer umfunktioniert. Meines Wissens benutzte ich seit ewigen Zeiten mein Bad als Dunkelkammer.

Da lag das Problem.

Steve erinnerte sich an Geschehnisse, die für mich wie Märchen aus tausendundeiner Nacht klangen. Oder wie Erzählungen aus dem Paradies, wenn er von den gesellschaftlichen Zuständen berichtete, die seiner Meinung noch vor einigen Monaten in Goldentor existiert hatten.

Ich kannte Steve nicht als Geschichtenerzähler. Ganz im Gegenteil. Er war immer ein sehr nüchterner, rationaler Kopfmensch gewesen. Die Märchen stammten seiner Meinung nach von mir, wenn ich seinem logischen Verstand wieder einmal mit meinem »mystischen Unsinn« kam. Die Rollen hatten sich verkehrt.

Plötzlich phantasierte er, und ich hatte Mühe, ihn wieder auf den Boden der Realität zurückzubringen. Was heißt Mühe, ich schaffte es gar nicht. Ich konnte es nicht schaffen, denn irgendwann im Laufe des heutigen Abends hob ich ebenfalls von diesem Boden ab.

Als er ankam, war ich gerade dabei, meinen Film von der gerade stattgefundenen Demonstration zu entwickeln. Vielleicht ließ sich das eine oder andere Bild doch gebrauchen, obwohl ich, als die Menschen in Panik gerieten, nur noch blind drauflos fotografiert hatte. Ich war dann selbst schnellstens geflüchtet, denn das Militär fackelte nicht lange, wenn es galt, eine Demonstration aufzulösen. Anlass für so eine Übung gab es immer, und wenn es sich nur um ein paar Sprechchöre handelte.

Steve sah schlecht aus, sehr schlecht. Ich hatte ihn nie vorher so gesehen. Blass, schwankend, Worte stammelnd - eine wandelnde Leiche. Ich unterbrach meine Arbeit, machte ihm Ersatzkaffee und päppelte ihn mit einigen Schlucken Weinbrand wieder etwas hoch.

Er wollte mir eine Geschichte erzählen, die er mir schon ein halbes dutzendmal erzählt hatte. Sagte er. Ich hatte die Geschichte noch nie gehört. Ich hätte mich bestimmt an sie erinnert, denn es war die unglaublichste Geschichte, die mir jemals zu Ohren gekommen war. Und das Irrsinnigste daran war: sie sollte tatsächlich wahr sein.

Er redete stundenlang von Zeitsprüngen und Veränderungen der Realität, von irgendeinem Komplott und dem Untergang der Welt. Ich nahm an, er war durchgedreht. Jeder hätte das zu diesem Zeitpunkt angenommen. Es gab keine andere Möglichkeit, obwohl es sich um meinen besten Freund handelte. Ich versuchte, Gründe für seinen Zusammenbruch zu finden. Vielleicht hatte seine Phantasielosigkeit ihn um den Verstand gebracht, die Hoffnungslosigkeit der politischen Situation in Goldentor, die immer schlimmer wurde, obwohl er schon jahrelang an allen Fronten kämpfte. Er hatte nie aufgegeben, immer die Fahne hochgehalten, sich abgerackert, seine privaten Bedürfnisse zurückgestellt, Gefühle und Stimmungen, die ihn am Weitermachen hätten hindern können, hinuntergeschluckt.

 

Auf Dauer konnte das nicht gut gehen. Entweder man wurde zum Fanatiker oder die unterdrückten Gefühle wurden eines Tages übermächtig und warfen alles durcheinander. Genau das, so legte ich mir zurecht, war mit meinem Freund Steve geschehen. Was konnte ich tun, um ihm zu helfen?

Es sollte nicht zu solchen Überlegungen kommen, denn innerhalb weniger Minuten nahm unser Gespräch einen erneuten völlig unerwarteten Verlauf.

Steve war ins Bad gegangen und ich schenkte mir gerade ebenfalls einen kräftigen Weinbrand ein, um meine sich überschlagenden Gedanken etwas zu beruhigen, als ein Schrei ertönte, der mich von meinem Stuhl auffahren ließ. Ich stürzte in Richtung Badezimmer und prallte beinahe mit Steve zusammen, der mir über seine eigenen Beine stolpernd entgegenlief. Er schwenkte etwas in seiner linken Hand und rief dauernd:

»Das ist der Beweis! Das ist der Beweis!«

Es war natürlich nicht im Entferntesten ein Beweis und doch überzeugte es mich. Ich schloss mich also in der nächsten halben Stunde seinem Wahn an. Ein Wahn ist es wirklich, denn richtig begreifen kann ich es immer noch nicht.

Steve hatte im Bad ein Foto gefunden, noch tropfnass, das unseren verehrten Bürgermeister Boltagen in inniger Umarmung mit dem ehrwürdigen Bankier Telström zeigte. Dass die beiden nicht nur Geschäftsfreunde waren, war allgemein bekannt. Nicht dass ich andeuten will, dass sie schwul sind, obwohl auch das nicht auszuschließen ist, nein, sie triumphierten und beglückwünschten sich, als hätten sie den ersten Preis im Zahlenlotto gewonnen oder ein paar Millionen an der Börse.

Steve hatte mir von diesem Bild erzählt, das ihn letztlich dazu gebracht hatte, nicht an seine eigene Verrücktheit zu glauben, sondern daran, dass sich irgendwelche Verschwörer daran gemacht hatten, der Geschichte innerhalb weniger Monate ihren ganz persönlichen Stempel aufzudrücken.

Das Foto war wirklich eindrucksvoll. Es war mir gut gelungen. Hätte ich es nur nie gemacht. Es machte mich zum Mitwirkenden an einer Sache, die über meinen Horizont und vor allem über meine Kräfte ging.

Warum dieser Jubel bei den beiden Repräsentanten der Staats- und Wirtschaftsmacht Goldentors? Der Einsatz des Militärs konnte für sie nicht mehr als eine Routineangelegenheit sein. Vielleicht hatten sie irgendeine wundervolle Nachricht erhalten, wovon wir nichts wussten. Genauso gut konnte Steves Theorie von der absichtlichen Veränderung der Realität in Goldentor der Wahrheit entsprechen.

Die These von seiner Verrücktheit stand sowieso auf wackligen Füßen. Seine Stabilität und Kondition war noch vor zwei Tagen unverändert gut. Doch damit begab ich mich schon wieder auf sumpfiges Gebiet, denn diese Erinnerung stimmte seiner Meinung nach nicht. Die Realitätsveränderungen setzten ihm seit drei Monaten zu und hatten ihn an den Rand seiner körperlichen und geistigen Gesundheit gebracht.

Ich wollte es nicht glauben. Aber ich habe schon immer eher meinem Gefühl getraut als meinem Verstand und das sagte mir eindeutig, dass an Steves »Theorie« etwas dran war. Die Erleichterung darüber, dass ich ihm nunmehr Glauben schenkte, war ihm anzumerken. Er umarmte mich und weinte und freute sich, nicht mehr allein zu sein mit den düsteren Gedanken und quälenden Überlegungen, was gegen diese Realitätswechsel zu tun sei.

Aber was sollten wir beide gegen Leute unternehmen, die Geschichtsabläufe nach ihrem Gutdünken steuern konnten? Immerhin blieb er davon unbehelligt, während ich nach dem nächsten Realitätswechsel schon wieder alles vergessen haben würde. Es blieb nur eines: wir mussten weg aus Goldentor, obwohl mit Boltagen und Telström hier unsere einzigen Anhaltspunkte waren, wo wir irgendwelche Nachforschungen hätten beginnen können.

Steve schlug vor, ins Schwere Lager zu fahren. Dort hatten sowohl er wie ich Freunde, die uns vielleicht weiterhelfen würden. Wie das geschehen konnte, wussten wir beide nicht, aber mir fiel keine Alternative ein.

Steve wollte mit dem Zug vorausfahren, Zwischenstation in Prasperan einlegen und von dort aus, wenn die Situation es erlaubte, ins Schwere Lager vorstoßen. Ich sollte in zwei Tagen mit meinem Wagen nachkommen. So viel Zeit blieb uns nach seiner Erfahrung auf jeden Fall zwischen zwei Realitätsverschiebungen. Auch das war keinesfalls sicher.

Auf einmal hatte er es sehr eilig zu verschwinden. Er argwöhnte, dass unsere Gegner eventuell über Möglichkeiten verfügten festzustellen, dass er sich - auf ihm unbekannte Weise - den Realitätsveränderungen entziehen konnte. Er wollte sich in Sicherheit bringen, bevor sie ihm auf die Spur kamen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass Leute, die sich mit Geschichts- oder Realitätsmanipulationen befassten, dabei Rücksicht auf das Leben einzelner Menschen nahmen, aber schließlich konnte diese Vorsichtsmaßnahme auch nicht schaden. Wir verabredeten einen Treffpunkt im Schweren Lager, ich gab ihm einen Abzug des »Beweis« -Fotos, dann machte er sich aus dem Staub. Es war erstaunlich, welche Kraft und Energie jetzt wieder von ihm ausging. Steve ist jemand, der Menschen in seinen Bann ziehen und mitreißen kann, wenn er von einer Sache überzeugt ist und darin aufgeht. Ich selbst musste nach seinem Aufbruch erst mal verdauen.

Ich setzte mich auf mein Bett und ließ die Ereignisse der vergangenen Stunden nochmals auf mich einwirken. Es war mir nicht möglich, alles in voller Tragweite zu erfassen. Falls Steves Theorie stimmte, und davon war ich nun ganz und gar überzeugt, waren die Auswirkungen unüberschaubar. Ich fragte mich, wie es zur Konzentration einer solchen Macht in den Händen einer bestimmten Gruppe kommen konnte.

Ich wusste nicht viel über andere Lebensgemeinschaften auf der Erde - ebenfalls ein Resultat der Realitätsmanipulationen, denn Steve versicherte mir, ich wäre früher darin Experte gewesen -, aber mir war immerhin bekannt, dass gerade das Gefüge verschiedenartigster Gesellschaftsformen bewirkt hatte, dass eine solche Machtfülle gar nicht erst entstehen konnte, zumindest nicht, sobald sie die Grenze der eigenen Gemeinschaft überschritt.

Und ich machte mir keine Illusionen darüber, dass etwa Boltagen und Telström eine Technik der Geschichtsmanipulation erfunden hatten. Sie waren sicher nur Teil einer »Verschwörung« , vielleicht nur unbedeutende Rädchen in einem ganzen Getriebe. Es war vor allem wichtig herauszufinden, wer die Manipulateure waren, auf welche Weise die Realitätsverschiebungen erzeugt wurden und was man dagegen unternehmen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie wir auch nur einem Punkt auf dieser Liste näher kommen sollten.

Ich brauchte nicht weiter nachzugrübeln. Ein Telefonanruf machte mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Der Anruf erfolgte vor zwanzig Minuten, und seitdem zittere ich vor Angst.

Er kam von Matthew, dem grauhaarigen, zerbrechlich wirkenden Anwalt, der schon des Öfteren für Steve und mich tätig gewesen war. Auf Matthew war unbedingt Verlass. Er ist einer der radikalsten Menschen, die ich kenne, aber das sieht man ihm nicht an. Außerdem ist er ein guter Freund.

Matthew teilte mir mit, dass Steve verhaftet worden war. Die Polizei hatte ihn vor seiner Wohnung erwartet. Er hatte keine Chance. Sie waren mit einer ganzen Einheit angerückt. Sie hatten ihn zusammengeschlagen und in eine Zelle verfrachtet. Von dort aus hatte er Matthew angerufen. Natürlich war das Gespräch überwacht worden, und Steve hatte mich mit keiner Silbe erwähnt. Trotzdem hatte Matthew mich sofort benachrichtigt. Er wusste, wie wir zueinander standen.

Ich hoffte inständig, dass es Steve noch gelungen war, das Foto zu vernichten. Wenn sie es bei ihm gefunden hatten, brauchten ihre Computer keine 10 Minuten, um meinen Namen auszuspucken. Sie wären wahrscheinlich schon hier gewesen.

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