Inseln der Macht

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Sari: Andere Welten #2
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We're only making plans for Nigel

Nigel just needs that helping hand

XTC - »Making Plans For Nigel«

2.
SPEEDY

Ich hatte natürlich furchtbar verrückte Sachen geträumt. Kein Wunder nach so einem Erlebnis. Als ich aufwachte, schien es wärmer geworden zu sein, ja ein wenig heiß sogar.

Ich schlug die Augen auf und dachte, ich würde immer noch träumen. Doch ich kriegte den Traum nicht weg. Das kahle Zimmer mit den weißen Wänden und der hohen Decke blieb bestehen. Langsam glaubte ich nicht mehr an einen Traum. Hatte man mich fortgebracht? Fort von Traumschwester und den anderen Dorfbewohnern?

Mit einem Schrei sprang ich auf. Nein, das war kein Alptraum mehr! Mein Rücken schmerzte ungeheuer und mein Magen knurrte erbärmlich. Teufel auch! Das war nicht mal mehr ein Zimmer!

Es erinnerte mich eher an die Knastzelle in der Geld-Stadt. Ein hartes, schmales Bett, Waschbecken, Gitterfenster.... Ich war mit einem Satz bei der Tür. Natürlich verschlossen! Man hatte mich in eine Art Nachthemd gesteckt und mir nichts gelassen. Nicht mal einen Spiegel gab es hier.

Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf: das Dorf konnte überfallen worden sein oder jemand hatte mich entführt... Aber ich hatte davon nicht das Geringste gemerkt. Und mein Schlaf war normalerweise so leicht, dass ich bei einem ungewohnten Geräusch sofort aufwachte. Hatte man mich etwa betäubt? War ich deswegen so schlapp? Und Traumschwester, wo war Traumschwester?

Draußen war plötzlich ein eifriges Gerenne zu hören, ein Trampeln wie von schweren Stiefeln. Dann wurde die Tür aufgerissen, und zwei Typen mit angelegter MP stürmten herein. Ich brachte nur einen würgenden Laut hervor und tastete mich zum Bett zurück. Was mich entsetzte waren nicht nur die Bewaffnung und das Auftreten der Männer, sondern auch ihre Hautfarbe. Ihre dunkelbraunen Gesichter. Wo war ich da hineingeraten? Dunkelhäutige Menschen wurden schon seit langem in Neu-Ing nur noch absolut selten gesehen als Folge von sogenannten Säuberungen von Terroristen. Aber vielleicht war das in der Stammesrealität anders, obwohl mir dort auch bisher nur »Weiße« begegnet waren.

Es stellte sich heraus, dass die zwei nur als Geleitschutz dienten, denn Minuten später trat ein dritter Schwarzer auf. Etwas wuchtiger als die beiden ersten und mit einigen Orden dekoriert. Alle drei trugen hellrote Uniformen. Der dritte redete mich sofort barsch in einer Sprache an, die ich nicht verstand. Das schien ihm allerdings auch aufzufallen, denn er wechselte in ein nicht ganz astreines Neu-Ing.

»Ich habe die Ehre mit Mr.Spike Wallen?« spottete er.

Ich nickte betäubt.

»Gut, Sie haben wohl angenommen, wir würden Sie nicht identifizieren nach der langen Zeit und in Ihrem Zustand.«

Ich antwortete nicht, weil es mir nichts sagte. Außerdem hatte ich enorme Schwierigkeiten, mich auf die Situation einzustellen. Mit meinen Gedanken war ich immer noch bei Traumschwester.

»Hör zu!« Er kam einen Schritt näher und der vertrauliche Ton gefiel mir noch weniger. »Du solltest besser gleich reden. Wir können verdammt ungemütlich werden. Head Control hat dich identifiziert und damit ist die Maskerade für dich gelaufen.«

»Ich möchte ja gerne was dazu sagen, wenn Sie mir erst mal verraten, wo ich bin«, presste ich hervor.

Jetzt verschlug es ihm die Sprache. Wahrscheinlich dachte er, ich wollte ihn verarschen und es sah aus, als ob er sich im nächsten Moment auf mich stürzen würde, als eine Stimme von hinten in verständlichem Neu-Ing sagte:.

»So kommen wir doch auch nicht weiter, Major.«

Der mit Major angeredete drehte sich wütend um.

»Halten Sie sich daraus, Doktor! Dies ist keiner Ihrer Patienten.«

»In gewissem Sinne doch. Jedenfalls bin ich erst mal für seinen gesundheitlichen Zustand verantwortlich.«

Der Typ, zu dem die Stimme gehörte, ein schmächtiger Schwarzer in grünem Kittel, drängte sich in die Zelle. Wenn das so weiterging, benötigten wir bald einen Konferenzraum.

Der Major brummelte was in der anderen Sprache vor sich hin, befand sich aber offensichtlich auf dem Rückzug.

»Er war immerhin den ganzen Tag bewusstlos«, sagte der Arzt.

So, war ich das? Was für ein Spiel trieb man mit mir?

»Wie fühlen Sie sich?« wandte sich der Arzt an mich.

»Wie ein ausgetrocknetes Handtuch.«

»Das heißt also, Sie haben Hunger und Durst.«

Ich nickte bestätigend. Der Typ war zwar freundlicher, aber ich hielt ihn auf seine Art vielleicht für gefährlicher als die Soldaten.

Der Major brüllte einen Befehl, woraufhin mir einer seiner Wachen etwas Ess- und Trinkbares holte. Das Ganze erinnerte mich an ähnliche Szenen in der Geld-Stadt. Hier hatte offenbar der Arzt die höheren Kompetenzen.

»Wie sind Sie überhaupt in diese üble Gegend geraten?« fragte mich der Arzt.

»Ich habe keine Ahnung, von welcher Gegend Sie sprechen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Allmählich begriff ich, dass die Schwarzen nichts von dem Bergdorf wussten.

»Verkaufen Sie uns nicht für dumm! Oder hat Ihnen die Hitze im Freien so sehr zugesetzt? Ich warne Sie, wir können alles aus Ihnen herauskriegen.«

Jetzt war ich mir sicher. Ich musste mich ganz woanders befinden. In der Umgebung des Dorfes war es zur Zeit schneidend kalt!

»Hören Sie Ich mache Ihnen nichts vor. Ich weiß wirklich nicht, wie ich in diese Gegend komme«, sagte ich verzweifelt.

Der Arzt sah mich eine Weile an.

»An was erinnern Sie sich denn.«

»Na, an meinen Namen zum Beispiel, obwohl die meisten Speedy zu mir sagen«, erwiderte ich vorsichtig. Von dem Dorf wollte ich nicht unbedingt gleich erzählen.

»Und Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hören Sie, Doktor«, brabbelte der Major dazwischen - zum Glück auf Neu-Ing.«Ich will Ihnen ja nicht hineinreden, aber er kann mir doch nicht weismachen, dass er es fertigbringt, von Neu-Ing zu fliehen, sich fast ein Jahr verborgen zu halten und Head Control zu entgehen und dann auf einmal sein Gedächtnis verliert.«

Jetzt wurde mir schwindelig, und ich musste mich an der Wand abstützen. Dann setzte ich mich aufs Bett. Wie war das möglich? Ich befand mich wieder in der Ausgangsrealität!

Automatisch griff ich nach dem Napf mit dem undefinierbaren Essensbrei. Ich brauchte unbedingt Ruhe! Zum Glück hörte die Fragerei erst mal auf. Der Arzt hatte wohl meinen Schwächeanfall erkannt.

Es war alles vorbei! Das Dorf, Traumschwester, die Anarcho-Stadt, die ganze Stammeswelt! Dabei hatte es gerade erst angefangen. Ich war gerade dabei gewesen mich zurechtzufinden. Und wo war ich hier gelandet? Jedenfalls nicht in Neu-Ing.

Sie hielten mich für einen Flüchtling. Wahrscheinlich befand ich mich irgendwo auf den Südlichen Inseln. Dazu passten auch die Hautfarbe der Leute und das Klima. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Oder hielt ich mich vielleicht sogar in einer dritten Realität auf, machte plötzlich Realitätswechsel wie Lucky? Oder war ich total durchgedreht?

Ich musste versuchen, es zu akzeptieren. So schwer es mir fiel. Sonst würde ich wirklich verrückt werden. Ich musste mir immer wieder sagen: ich bin auf den Südlichen Inseln!

Ich unterbrach mein Essen einen Augenblick.

»Entschuldigen Sie, aber wer hat den Krieg gewonnen, Neu-Ing oder die Inseln, oder ist er noch im Gange?« beschloss ich Näheres rauszufinden.

»Was soll das?« brüllte der Major sofort.«Jedes Kind weiß, dass wir den Krieg gewonnen haben. Neu-Ing ist eine heruntergekommene Kolonie. Hätten wir es nicht besetzt, wäre es von selbst in Trümmer gefallen.«

Also, die alte Realität oder zumindest eine sehr ähnliche.

»Sie erinnern sich also an den Krieg?« hakte der Arzt ein.

»Nur dass er kurz bevorstand.«

Der Schmächtige runzelte die Stirn.

»Lassen wir's erst mal dabei.«

Das sollte wohl eine Art Verabschiedung sein. Jedenfalls machten die Vier Anstalten, die Zelle zu verlassen.

»He!« rief ich kraftlos hinterher. »Warum bin ich überhaupt hier.«

Einer der Wächter brach in Lachen aus und der Major fuhr mich an: »Selbstverständlich bist du Kriegsgefangener. Wir haben deine gesamte Akte vom Cop-Center aus Neu-Ing übernommen. Das reicht wohl.«

Die Tür krachte ins Schloss. Es reichte wirklich. Ich brach auf dem Bett zusammen und heulte alles aus mir raus. Ich musste stundenlang so gelegen haben, ohne mich rühren zu können. Zum Schluss ging mir nur noch Traumschwester durch den Kopf, dann gar nichts mehr. Irgendwann kriegte ich plötzlich Angst, dass ich einfach so sterben könnte, und ich setzte mich mühsam auf, strich mir die Haare aus dem verheulten Gesicht und begann den Rest Brei runterzuwürgen und das Wasser zu trinken.

Ich versuchte mich umzustellen, die Stammeswelt als Vergangenheit zu betrachten. Ich musste mich dazu zwingen, mir das ins Gedächtnis zurückzurufen, was ich über die Südlichen Inseln wusste. Viel war es nicht: tropisches Klima, wenig industrialisiert und als Regierungsform eine Diktatur.

Dann verbrachte ich wieder eine Zeit zwischen Alpträumen und Halbschlaf, bis ich irgendwann auf den Gedanken kam, dass ich mich entscheiden musste: entweder ich gab auf und gab mich meiner Hoffnungslosigkeit hin oder ich versuchte zu überleben, mit der Situation fertig zu werden und auf eine Chance zu warten, wenn ich mir selbst keine schaffen konnte.

 

Da mir das Sterben nicht so behagte, entschied ich mich fürs Zweite. Dabei war mir klar, dass ich die Entscheidung vielleicht rückgängig machen würde, wenn ich keinen Ausweg sah. Aber bis ich nicht wusste, wie meine Chancen standen, konnte ich bestimmt durchhalten.

Was mich am meisten verwirrte, war dieses Durcheinander mit den Realitäten. Kaum dachte ich, etwas Durchblick zu haben, da verflüchtigte sich wieder alles. Ich hatte langsam den Eindruck, als Spielfigur hin-und hergeschoben zu werden. Waren nun meine Erlebnisse in der Stammeswelt nur Illusion gewesen? War ich in Wirklichkeit irgendwann geistig weggetreten und aus irgendeinem Grund zu den Inseln verschleppt worden? Was war dann aus den anderen geworden, aus Winnie, Lucky, Flie, Yuka und Vic? Oder aus den »Traumgestalten« Adlerauge, Cuper, Willoc und Traumschwester? Waren sie weniger wirklich? Oder gab es für jeden eine eigene Realität und die Realitätsebenen hielten verschiedene Eigenrealitäten in einem Zusammenhang? Dann musste bei mir irgendwie der Zusammenhang gerissen sein.

Mir drehte sich der Kopf vor so viel Theorie, und ich musste mich wieder hinlegen. Vielleicht konnte ich erst wieder etwas Ordnung da reinbringen, wenn ich mehr Informationen und einen klareren Kopf besaß. Falls sie mich nicht vorher umbrachten. Schließlich wollten sie was von mir, und ich wusste es nicht. Ich konnte ja nichts von einem Traum erzählen.

Zwei Sachen waren für mich erst mal wichtig: ich musste mich mit den Gegebenheiten hier vertraut machen und die fremde Sprache lernen, wenn ich überhaupt die Chance auf eine Flucht haben sollte. Denn selbst wenn ich hier einfach rausspazieren könnte, hätte ich nicht gewusst, wohin ich mich wenden sollte. Je länger ich darüber nachdachte, desto entmutigender wurde es, darum hörte ich auf damit. Ich schlug die dünne Decke über mich, weil mich trotz der Hitze plötzlich fror.

Da berührten meine Finger ein Stück Papier.

Ich holte es hervor und faltete es auseinander. Trotz des schwachen Zellenlichts erkannte ich es sofort. Das war der Zettel, den Traumschwester mir zugesteckt hatte!

MACHT DIE MACHT MACHTLOS

DIE SICHERHEIT LIEGT IN DER UNSICHERHEIT

FRAGEN SIND BESSER ALS NICHT EXISTIERENDE ANTWORTEN

Und das war bestimmt kein Traum! Das war Traumschwesters Schrift! Da war ich mir ganz sicher und mein Selbstbewusstsein kehrte andeutungsweise zurück. Und helfen konnte mir der Zettel auch gleich. Vielleicht sollte ich nicht so sehr nach Antworten auf meine Fragen, wie und warum ich hierhergekommen war, suchen.

Ich zerriss ihn in kleine Schnipsel und spülte sie mit dem letzten Wasser hinunter. Damit verschwand auch der letzte Beweis für eine andere Realität. Es hätte sicher Unannehmlichkeiten gegeben, wäre er bei einer Durchsuchung gefunden worden. Ich würde wohl nie rauskriegen, wie er hierher gelangt war. Vielleicht hatte ich ihn während meines unbewussten Realitätswechsels in der Hand gehalten. Damit gab ich mich zufrieden.

Danach schlief ich komischerweise relativ ruhig und lange und wurde durch das Essenfassen geweckt. Dabei lernte ich wieder einen neuen Wärter kennen. Wohl mit Absicht, denn dieser sprach kein Neu-Ing oder wollte es nicht. Mittags erhielt ich sowas wie Hofgang und bekam dadurch Gelegenheit, mir den Knast aus anderer Perspektive anzusehen. Er wirkte dadurch nicht schöner. Er bestand aus einem einzigen, annähernd hufeisenförmigen Gebäude, das aber anscheinend in zwei Bereiche aufgeteilt war. Ein Teil wirkte nämlich eher wie eine Krankenstation und es gab dort auch keine vergitterten Fenster.

Der Hof war allerdings ziemlich großzügig angelegt und irgendwie verstärkte das meine Vermutung, dass es sich nicht nur um ein Gefängnis handelte. Dazu kamen die relativ »humane« Zelle, die Spitzenposition des schmächtigen Arztes.

Ein paar andere Gefangene marschierten mit mir, alles Männer. Und fast alles Schwarze. Wir trugen jetzt alle graue, verwaschene Hemden und Hosen. Ich versuchte, mich mit ihnen zu verständigen, aber selbst die Weißen verstanden mich nicht. Einigen schien die Gesellschaft von Weißen sogar unangenehm zu sein, und einer spuckte vor mir aus.

Nach dem Rundgang wurde ich wieder in die Zelle gebracht. Es wurde mir sofort klar, dass sie durchsucht worden war. Nun, ich hatte nichts mehr zu verbergen. Der Gang durch den Knast hatte mir gezeigt, dass eine Flucht äußerst schwierig war. Überall, vor und hinter einem, wurden Gitter runtergelassen, und an jeder Ecke standen die Rotuniformierten mit MPs. Mein einziger Weg schien über den Arzt zu führen. Vielleicht konnte ich eine Zeit auf sein Spiel eingehen, ohne dass er merkte, dass ich nichts zu bieten hatte. Wenn er das rauskriegte, würde er mich ohne Zweifel den harten Methoden des Majors überlassen.

Etwa zwei Stunden später wurde ich wieder abgeholt. Diesmal von zwei Typen in Grün. Also wollte mich wohl der Arzt sehen. Sein Bereich lag in der anderen Abteilung, denn die beiden führten mich über eine Art Brücke, die sich über die Einfahrt des »Hufeisens« schwang. Dort begann dann der medizinische Teil. Die Absicherungen waren zwar gleich, aber die Gänge waren weiß gestrichen, schwarzhäutige Grünkittel und Krankenschwestern liefen überall herum und es stank penetrant nach Krankenhaus. Auch hier hielten Soldaten in Rot Wache. Ab und zu lief uns ein »Patient« über den Weg mit stumpfen Augen, die Reichweite meiner Führer meidend. Allmählich begann ich zu begreifen, um was es sich bei dieser Abteilung handelte! Wer weiß, was für Experimente hier an den Menschen unternommen wurden....

Schließlich betraten wir ein geräumiges Büro. Auf dem Schild an der Tür stand: Dr. Jorantes, Direktor. Knapp und deutlich. Dr. Jorantes war wie vermutet der Typ, der mich vorerst vor den Klauen des Majors bewahrt hatte, natürlich nur, weil er glaubte, mit seiner Methode besser ans Ziel zu kommen.

»Ah, Mr. Wallen, setzen Sie sich doch.«

Er zeigte zuvorkommend auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch und winkte die Wachen hinaus. Nach einer Weile sah er von seinen Papieren auf.

»Nun, es wird Zeit, dass wir uns mit Ihnen beschäftigen. Sicher liegt es auch in Ihrem Interesse, wenn sich dieser Gedächtnisschwund aufklärt.«

»Natürlich«, bestätigte ich vorsichtig.

»Was wir über Sie wissen, stammt aus den Aufzeichnungen vom Cop Center, das inzwischen Head Control, dem Zentralcomputer, unterstellt wurde. Die letzten Informationen besagen, dass Sie sich einer Gruppe angeschlossen hatten, die in einem sogenannten Camp außerhalb der Großstadt von Neu-Ing lebte. Diese Leute wurden von Ihrer damaligen Regierung als Verbrecher eingestuft. Daher Ihr vorläufiger Status als Kriegsgefangener, bis wir das geklärt haben. Man kann auch nicht behaupten, dass Sie ansonsten ein geregeltes Leben geführt haben. Sie lebten von der Hand in den Mund, ohne Ausbildung, immer bestrebt, sich von der Gesellschaft zu isolieren. Gut, ob wir Sie wegen Zugehörigkeit zu einer subversiven Gruppe anklagen, steht noch aus. Uns interessiert auch in erster Linie Ihr Auftauchen hier. Sie wurden praktisch in Unterzeug aufgelesen, das aus einem Material besteht, das uns hier zumindest unbekannt ist. Und weiterhin wollen wir wissen, wie Sie es geschafft haben, von Neu-Ing hierher zu gelangen, ohne in einer Kontrolle steckenzubleiben.«

»Aber das ist mir ja selbst auch ein Rätsel«, beklagte ich mich heuchlerisch. Denn jetzt war mir völlig klar geworden, dass ich, nach der Beschreibung, die der Arzt von mir gab, von meiner letzten Erinnerung an die Stammes-Realität sofort auf die Südlichen Inseln meiner Ursprungsrealität versetzt worden war. Bloß wie?

»Wir werden Sie untersuchen und dann entscheiden, ob Sie hierher zu den Geisteskranken oder zu den politischen Gefangenen gehören.«

»Und wonach richtet sich Ihre Entscheidung, wenn Sie feststellen, dass meine Angaben der Wahrheit entsprechen.«

»Sehen Sie«, der Arzt breitete seine Arme aus, »die Übergänge sind immer fließend. In gewissem Sinne sind die politischen Gefangenen ja auch geisteskrank. Denn ist es nicht krankhaft, dauernd sinnlos gegen eine vernünftige Gesellschaftsordnung anzurennen und nicht dabei zu helfen, sie vielleicht noch vernünftiger zu gestalten? Und umgekehrt sind die psychiatrischen Fälle in dem Sinn politisch, da der Ursprung ihrer Krankheit ein mehr oder minder bewusstes Auflehnen gegen die Gesellschaftsordnung ist - allerdings hier durch irgendeinen Defekt bewirkt.«

Bei so viel Verdrehungen, Unwahrheiten und Zynismus blieb mir glatt der Mund offen stehen. Wie der wohl den Unterschied zwischen »politischen« und »sozialen« Gefangenen definierte? Wahrscheinlich richtete sich das letztendlich nach ihrer Gefährlichkeit für den Staat. So viel hatte ich jedenfalls verstanden: die Entscheidungen richteten sich hier allein nach Kriterien der Nützlichkeit für Dr. Jorantes.

Damit war ich dann auch vorerst entlassen.

Die nächsten Tage verliefen in ähnlichem Rhythmus. Es gelang mir nicht, auch nur den geringsten Kontakt zu meinen Mitgefangenen zu kriegen. Ihre Sprache blieb mir verschlossen und meine Mutlosigkeit nahm zu. Ich blieb weiterhin in Einzelhaft und das einzige, was ich erfuhr, war der Name dieser Anstalt: Bergotos. Die Untersuchungen zogen sich tagelang hin, teilweise waren sie schmerzhaft, aber von Folter konnte bisher keine Rede sein. Noch nicht. Nach einer Woche verkündete mir Dr. Jorantes, dass ich an partieller Amnesie litt. Ich übersetzte das mit teilweisem Gedächtnisverlust. Man würde mich einige Tage mit starken Medikamenten behandeln, die in so einem Fall zuverlässig helfen sollten. Man ließ offen, was geschehen würde, sollten sich nicht wenigstens Anzeichen einer Veränderung bemerkbar machen. Ich befürchtete, er würde mir dann die Gedächtnislücke nicht mehr abkaufen.

Ich erhielt einige Bücher auf Neu-Ing, Sachen zu Schreiben und Malen und sogar ein Radio. Dann begann die Behandlung.

Ich hielt mich mit den Sachen zwar einigermaßen über Wasser, aber trotzdem begann eine schreckliche Phase. Meine Hoffnung auf eine Änderung der Situation schwand immer mehr, schon bald wurde ich unruhiger, nervöser. Ich konnte nicht einschlafen und sehnte mich zum Verzweifeln nach menschlicher Gesellschaft. Bei den sporadischen Verhören wurde ich immer gereizter und die Gegenseite daraufhin immer aggressiver .Anschließend fiel ich in Perioden von Depressionen und Selbstmordgedanken. Inwieweit das alles auf die Medikamente zurückzuführen war, konnte ich nicht beurteilen. Es war auch egal, da ich nicht umhinkam, sie zu nehmen.

Meine Träume zeigten mir zuerst die Gefahr. Wenn es keine Alpträume waren, waren sie ausgefüllt mit Erinnerungen an das Leben in der Stammes-Realität, von Natur und freien Menschen. Ich wusste selbst, dass ein Zusammenbruch kurz bevorstand. Ich wartete nur noch auf die Tage der Folter und sah mich schon als ausgebranntes Wrack in der psychiatrischen Abteilung rumlaufen.

Dem Geheimnis meiner Zurückversetzung in die alte Realität kam ich kein Stück näher. Ich konnte mich schon bald nicht mehr darauf konzentrieren und verfluchte nur noch diese unkontrollierbare Macht.