Den Feigen tritt jeder Lump!

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Offenburg, September 1847

Hecker saß spätabends im Gasthofzimmer und schrieb Briefe. Struve verstand seine vielen Verpflichtungen – Frau, drei kleine Kinder, Anwaltskanzlei und Volksvertreter – nicht, stellte sich alles holzschnittartig vor, kannte nur die Sache, für die zu kämpfen war und der man alles unterordnen musste. Sie hatten gemeinsam ihr Abendessen zu sich genommen. Struve redete ohne Unterlass, einen dicken Stapel Papier vor sich. Sein Bart wurde von Pellkartoffelresten und »bitte absolut frischem« Kräuterquark beehrt. Hecker aß ein Kotelett mit breiten Nudeln und trank den örtlichen Rotwein. Vegetarismus akzeptierte er nicht, wimmelten doch in Kraut und Grünem ebenfalls Tausende lustiger, kleiner Wesen. Selbst die Luft war reich an Lebenskeimen. Sollte man deswegen das Atmen unterlassen?

»Natürlich, wer alles auf die leichte Schulter nimmt, lebt länger! Das ist begreiflich«, sagte Struve und schnupperte. »Ein Mief in dieser Räumlichkeit! Rauch, Alkohol und mittelmäßiges Essen! Kaum auszuhalten.«

Hecker kratzte sich den Bart, doch Struve verstand nicht, dass er Kartoffelsplitter meinte. »Auch wenn nicht alle Gäste erscheinen, geht unsere Welt kaum zugrunde, Gustav. Entscheidend ist, dass wir etwas unternehmen, und Fickler wird auf jeden Fall anreisen.«

»Was bedeutet zugrunde gehen?«, fragte Struve, immer ums Prinzip streitend.

»Bitte nicht zappeln wie das Kind vor der Bescherung! Unsere Versammlung ist nur ein Steinchen in der Mauer.«

»Lose Steinchen können Mauern zu Fall bringen!«

»Fabelhaft, bloß keinen Gemeinplatz auslassen! Nein, simple Ansprachen müssen niemandem den Schlaf rauben!«

»Schon gut!« Struve griff mit gestreckten Armen nach seinem Konvolut. »Ohnehin haben wir Wichtigeres zu tun. Die dreizehn Forderungen überarbeiten sich nicht von alleine! Herr Wirt, eine unsägliche Luft! So kann es nicht weitergehen.«

Hecker nahm tags darauf am langen Eichentisch Platz, gegenüber von Struve, und streckte die Beine von sich. Sein Freund sagte kein Wort, nicht einmal guten Morgen, aß wenig, trank nur Wasser – »handwarm bitte« – aus einer Karaffe, die der Gasthofbesitzer noch gebracht hatte.

»Gut geschlafen, Gustav?«

Struve antwortete nicht.

Hecker bestellte Kaffee und schmierte sich ein Butterbrot mit Erdbeermarmelade. »Unser Befinden heute?«

»Danke der Nachfrage! Manch einer arbeitete die halbe Nacht hindurch!«

»Sehr tüchtig und auch bewundernswert.«

»Ach?«, sagte Struve zänkisch.

»Freilich, und nun nehmen wir ein ordentliches Frühstück zu uns.«

Struve sprang in die Höhe und auf den Boden schepperte sein Stuhl. Der Wirt kam gerannt und sah ihn bang an, hatte geahnt, dass abgestandenes Wasser ein böses Omen sein musste. Struve baute sich bedrohlich auf und tippte ihm den Zeigefinger auf die Brust. Weil ihn als kleiner Bub einmal eine Wespe gestochen hatte, bekam er Fracksausen.

»Ein Stehpult muss her! Wie oft noch sollen wir darum bitten? Ist das ein Gasthof oder nicht?«

»Zur Stunde ist kein, äh, Stehtisch da.«

»So geht es nicht! Ein Wirt hat Pflichten seinen Gästen gegenüber. Stehpult heißt es!«

»Aber natürlich«, antwortete der Mann und zeigte in Richtung Küche. »Drum hat man auch den Ochsen geschlachtet für das Bankett. Wer weiß, vielleicht taucht im Laufe des Tages noch so ein Stehdings auf, und nun muss die eigens für den Herrn gekochte Sondersuppe abgeschmeckt werden. Fleischbrühe ohne Fleisch. Man will es doch allen Gästen recht machen, gell?«

Struve stöhnte, setzte sich im Nebenraum an den puppenkleinen Tisch und kontrollierte wieder die Namensliste. Hecker konnte es nicht mitansehen, trat ins Freie und inhalierte die frische Herbstluft. Warum nur machte Struve sich das Leben so schwer? Der gerade ankommende, gedrungene Mann, sein Pferd zügelnd, hatte ein gänzlich anderes Gemüt. Großherzog, Hofkamarilla und Beamte hassten ihren wüsten Anarchisten Fickler, Herausgeber der »Konstanzer Seeblätter« und Verfechter demokratischer Republik.

»Wird man hier auf die Versammlung der süddeutschen Schützenvereine treffen?«, fragte er.

»Die Letzten werden die Ersten sein! Im Angesicht gedrückter Stimmung vor Ort ist es aber wohl umgekehrt«, antwortete Hecker.

»Die Ersten werden die Letzten sein? Zum Teufel, was soll das denn bedeuten? Uns hat sowieso der olle Struve eingeladen. Wie fühlt er sich denn?«

»Gestern wollte er den Kopf einer Magd vermessen.«

»Um Gottes willen! Wem soll das helfen?«

»Fortführung seiner phrenologischen Studien. Wissenschaftler ruhen nie, pflegt er zu sagen.«

»Kam er weiter bei ihr? Schöner Schädel?«

»Die Frau wollte ihm mit dem Nudelholz die Leviten lesen, und wäre der Wirt nicht dazwischengegangen, hätte ihm das Sitzen für eine Weile große Mühe bereitet.«

»Solange sie nur auf den Allerwertesten zielte!«

»Manch einer hält große Stücke auf die Schädelkunde.«

»Aber er doch nicht?«, spottete Fickler.

»Nein, zu trivial erscheint uns diese sogenannte Lehre.«

»Gustavs Ansicht zu der Magd, ohne Messung?«

»Wir wollen den Mann nicht reizen. Neben einem Pulverfass zündet man sich keine Zigarre an.«

»Gott sei Dank alles beim Alten«, sagte Fickler und entkorkte einen Flachmann. Während der Versammlung würde Hecker ihn bremsen müssen, notfalls mit der Pistole. Mehr als einmal hatte der Konstanzer die Republik ausrufen wollen. Aber militärisch waren die Demokraten unterlegen. Ohne Waffen und gelernte Soldaten war an eine Erhebung nicht zu denken.

»Schnaps hilft am besten gegen Durst«, erklärte Fickler. »Wie auch ein Glas saftiges Bier!«

»So früh bitte keinen Alkohol.«

»Herr Doktor muss gläubig geworden sein. Oder der Umgang mit dem Adventskollegen färbt ab!«

»Adventskollege?«

»Advokat, Advent! Das macht keinen Unterschied. Solange die Sonne jeden Morgen aufgeht.«

»Wahrscheinlich könnte ein Gläsle Wein nicht schaden, am besonderen Tag, als Frühschoppen sozusagen? Struve verwaltet derweil die Liste. Trotz aller Schrullen ist er ein pflichttreuer Mann.«

»Schnell dem Schriftführer schönen Tag wünschen«, verkündete Fickler und wischte sich Bierschaum vom Mund. »Joseph Fickler, Abgeordneter im badischen Parlament und Herausgeber der ›Konstanzer Seeblätter‹.«

Struve lächelte mehr sauer als süß und blickte von seiner Liste kaum auf. Vom Alkoholdunst, der ihm entgegenwehte, war er nicht angetan. Um ein Uhr waren fast zweihundert Männer versammelt und Hecker eröffnete die Versammlung. Struve, erster Redner, trat hinter das Pult, erbat sich Ruhe und redete sehr monoton, worauf die gute Stimmung verschwand. Hecker überlegte, wie seine Schädelforscherkollegen ihn einschätzten. Fickler stellte Fragen und Struve ließ ihn gewähren. Auf das Missverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zu sprechen kommend, duldete dieser aber keinerlei Einwand mehr: »Dringend muss ein Ausgleich zwischen beiden geschaffen werden! Die einen schuften und andere verprassen!« Struve schüttelte den Kopf und verschwand in der Menge. Hecker war der Meinung, dass Applaus angebracht sei, ging nach vorne und machte es vor, bevor er anhob: »Meine Freunde, hart sind die Entbehrungen des Volkes, vor allem auf dem Land. Dem steht ungesunder Luxus von 38 Fürstenhäusern gegenüber. Wer dieses Missverhältnis auch nur erwähnt, landet hinter Gittern! Die deutschen Lande müssen dieselben Rechte bekommen wie Amerika: Pressefreiheit, Gewissensfreiheit, Lehrfreiheit, Vereidigung des Militärs auf eine Verfassung sowie ordentliche Geschworenengerichte. Dreizehn Forderungen sind es, nicht mehr, nicht weniger! Fickler wird sie in seinen ›Seeblättern‹ und Struve im ›Deutschen Zuschauer‹ publizieren. Wir beschreiten unseren außerparlamentarischen Weg weiter und verbreiten demokratische Gedanken wie ein Feuer!«

Karlsruhe, Dezember 1847

Hecker marschierte vor dem Karlsruher Schloss auf und ab. Er hatte sich zu einer neuen Kandidatur bereit erklärt und war in die zweite badische Kammer gewählt worden. Vor einer Woche trat der Landtag zusammen. Am Empfang des Großherzogs nahm er nicht teil. Katzbuckeln vor dem Diktator stieß ihn ab! Viele Badener hielten seine Legitimation für unangreifbar. Man müsse nur das prachtvolle, Versailles so ähnliche Schloss betrachten, um die Verdienste des Mannes anzuerkennen, bekam er in der Stadt zu hören von Narren, die in Abhängigkeit vom Pseudo-Sonnenkönig lebten. Als ob Herr Faulpelz selbst Steine geklopft hätte! Seine zahlreichen Untertanen schufteten von morgens bis abends, um die hohen Abgaben zu erbringen. Zwei Wachen, gezwängt in schmale, spitze Häuschen, beobachteten ihn. Für Leopold arbeiteten über sechshundert Menschen: Palastsoldaten, Diener, Mägde, Hofräte, Kämmerer, Mundschänke, Zeremonienmeister, Hofjägermeister, vor dem Schloss, im Spiegelsaal und Marmorsaal mit hunderttausend Büchern und in zahlreichen anderen Räumen. Hinter dem Prunkschloss mündeten Alleen in die umliegenden Ortschaften, angelegt, um Jagdgründe zu erschließen. Markgraf Karl Wilhelms erstes Schloss in Durlach, zwischen Turmberg und Sümpfen gelegen, bot wenig Gelegenheit zur Jagd, und dann missgönnten die Bürger ihm auch noch Freudenmädchen! Es war nicht leicht, ein Diktator zu sein! In zwanzig Minuten würde Badens zweite Kammer zusammentreten, um ihre Antwort auf die Thronrede des Großherzogs zu diskutieren. In der ersten Kammer saßen für immer und ewig Prinzen, die Häupter der sogenannten standesherrlichen Familien, katholischer Landesbischof, protestantischer Prälat, acht Abgeordnete des gutsherrlichsten Adels, zwei Abgeordnete der Universitäten und acht vom Großherzog ernannte Mitglieder. Die zweite Kammer bestand aus 22 Abgeordneten der Städte und 41 Abgeordneten der Ämter. Zweijährlich fand ein Landtag statt. In der Zwischenzeit tagte ein Ausschuss beider Kammern. Ohne Bewilligung der Stände der ersten Kammer durften aber weder eine Steuer aufgelegt noch Gesetze verabschiedet werden. Hecker ließ das Schloss hinter sich und ging über den kopfsteingepflasterten Marktplatz. Bei der Pyramide über Karl Wilhelms Gruft schnitt er eine Grimasse. Angeblich war Markgräfchen hier nach dem Verdauungsschlaf die Idee zur Stadtgründung gekommen. Ein Untertan, der ebenfalls über den Platz schlenderte, hielt den Fremden für nicht richtig im Oberstübchen. Kurz vor dem Ettlinger Tor seinerseits den Kopf schüttelnd wegen des allzu pompösen Tempeldaches, bog Hecker rechts ab und ging noch dreihundert Meter geradeaus. Trotz schlechten Wetters standen einige Abgeordnete vor dem Parlamentsgebäude und plauderten. Im Haus befanden sich neben den Sitzungssälen erster und zweiter Kammer Büros der Kommissionen sowie Wohnungen von Präsidenten und Archivaren. Es kam ihm wie eine verschämte Burg vor, in der man dürftige, der Monarchie entrissene Demokratiefetzen verwahrte. Ein weißhaariger Herr winkte ihm zu. Adam Itzstein, liberaler Politiker, gehörte zu den wenigen Menschen, die ihn beruhigen konnten. Seit Jahren lud er liberale Politiker in sein Haus ein. Gemeinsam betraten sie den Sitzungssaal: hohe, mit grünem Tuch bezogene Wände, überlange Fenster, amphitheatralisch angeordnete Bänke und eine Galerie, die auf römischen Säulen ruhte. Ebenso gut hätte man sich vis-à-vis in der katholischen Kirche treffen können!

 

»Grandiose Architektur, nicht wahr?«, rief eine vertraute Stimme. Er drehte sich um und Fickler klopfte ihm Gorillapranken auf die Brust. »Spannende Sitzung, aufreibender Tag!«

Hecker winkte ab. »Dankadresse der zweiten Kammer der Ständeversammlung an seine königliche Hoheit, den Großherzog, auf seine Thronrede? Bereits die Wortwahl verleitet zum Schnarchen!«

»Nach heftiger Ängstlichkeit kann es nur aufwärts gehen!«

»Man wird sehen«, sagte Hecker, kaum überzeugt.

Präsident Karl Mittermaier, in biederes Tuch gekleidet, rügte sie mit Blicken. Nichts konnte so wichtig sein wie das, was er zu referieren hatte. Abermals überzeugte er sich von der Sauberkeit seiner Brillengläser: »Durchlauchtigster Großherzog! Gnädigster Fürst und Herr! Im Namen des treuen Volkes, das beglückt durch die Worte sich fühlt, mit welchen sein geliebter Fürst in feierlicher Stunde die Vertreter des Landes begrüßte, bringen wir ehrfurchtsvolle Huldigungen unwandelbarer Ergebenheit dar.«

»Fehlen nur noch Schalmeien«, kommentierte Hecker halblaut.

»Doucement! Der Abgeordnete muss sich ruhig verhalten während der Eröffnung!« Demonstrativ bediente der Redner sich des Französischen, Sprache aller Vornehmen und Betuchten.

Hecker drehte die Hand, wie um den Ablauf zu beschleunigen.

»Wir teilen die Gefühle tiefer Betrübnis Eurer Königlichen Hoheit über den schaudererregenden Brand, welcher so viele Familien in Trauer versetzte. In lebhaftem Andenken stehen die schweren Prüfungen, welche im verflossenen Winter die Not auch unserem Vaterlande auferlegte. Eure Königliche Hoheit haben mit dem edelsten Eifer für das Wohl Ihres Volkes zur Minderung des Notstandes wohltuende Anordnungen erlassen. Eure Königliche Hoheit, gewohnt, überall, wo Hülfe notwendig ist, durch teilnehmende Unterstützung lindernd zu wirken, haben auch bei der Hülfe für Notleidende als hohes Vorbild vorgeleuchtet. Es ist nun darüber zu entscheiden, ob man angesichts der anstehenden Themen unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen sollte. Ein entsprechender Antrag dreier Mitglieder liegt vor.«

Hecker meldete sich zu Wort: »Es gibt nicht einen Kammerbeschluss, der besagt, dass etwas in geheimer Sitzung verhandelt werden soll! Wenn ein solcher Kammerbeschluss aber nicht existiert, wird Gewalt am Recht geübt. Man kann nicht auf bloßes Verlangen einzelner Mitglieder den Saal schließen, sondern die Kammer muss den förmlichen Beschluss aussprechen. Die Sitzung betrachten wir nicht für geheim und fühlen uns auch nicht verpflichtet, ein Geheimnis darüber zu bewahren!«

Mittermaier warf ihm Ungerechtigkeit vor, da er den Paragraphen 78 der Verfassung nicht berücksichtige. Dieser binde.

Geheimrat Nebenius eilte dem geschätzten Kollegen Mittermaier zu Hilfe. Mit dünnem Spazierstöckchen bewaffnet, erlaubte sich der Teilnehmer der legendären Geschäftsordnungssitzungen im Jahr 1819 mahnende Worte.

Abgeordneter Hägelin und mit ihm noch einige Mitglieder verlangten, bereits die Diskussion über die mögliche Geheimhaltung geheim zu halten.

Hecker schmetterte die Faust auf den Tisch.

Nebenius drückte sich die Hände auf den strapazierten Kopf. Dieser junge Mann war vraiment eine Geißel altehrwürdiger Abgeordneter!

»Unsere Öffentlichkeit ist bedroht, wenn die Regierung drei Mitglieder findet, die da sagen, das Publikum soll hinausgejagt werden!« Hecker winkte Nebenius zu, was den Kollegen nicht zum ersten Mal erzürnte.

Fickler applaudierte in Richtung seines Freundes und mehrere Abgeordnete schlossen sich an.

Der Präsident schwankte hin und her. Um diesen Tumult zu beenden, musste er eine Entscheidung treffen. Niemand sollte den lieben Großherzog beunruhigen. Gerade am Tag der Eröffnung war Harmonie zu demonstrieren. Nur das prächtige Baden besaß ein Parlament. Kein Revoluzzer durfte es in Misskredit bringen! »Abstimmung«, verkündete er mit angewinkeltem Arm.

»Unerhört«, sagte Hecker und haute beide Fäuste auf den Tisch.

»Ruhe im Saal! Man wird nun in der Frage abstimmen. Jawohl. Der Präsident hat gesprochen!«

»Kokolores vor allem«, rief Fickler.

Itzstein ging zu Hecker und redete ihm zu, während Mittermaier die beiden leicht zugekniffenen Auges beobachtete. Hecker verschränkte die Arme und lauschte seinem Freund. Ohne etwas zu erwidern, drehte er sich zu Fickler um, der nickte. Um alle Ja-Stimmen zu ermitteln, benutzte der Präsident die Finger wie ein Grundschullehrer beim Einmaleins. »Vierundzwanzig Abgeordnete, mehr als ein Viertel, votieren für geheime Sitzung! Befriedigendes Ergebnis!«

»Fragt sich nur für wen!«, rief Hecker. »Man kann von einem Anschlag auf die Geschäftsordnung sprechen!«

»Was soll das bedeuten?«, fragte Mittermaier, auf den Fersen wippend.

»Geht das so weiter«, sagte Hecker, »werden wir zukünftig bei jeder Abstimmung einen Antrag auf Absetzung der Regierungskommissare stellen.«

Lorenz Brentano erklärte, dass er ihn unterstützen werde.

Mittermaier fiel fast hin. »Man muss sich wohl verhört haben! Niemand setzt hier einen Regierungskommissar ab!«

Nachdem die Saaldiener das Publikum ins Freie geführt hatten, setzte er das Protokoll fort und stellte den Inhalt der Thronrede zur Diskussion.

»Sehr gerne«, meldete Hecker sich zu Wort. »Nach den gesalbten Worten fragt man sich, wer im großartigen Großherzogtum überhaupt arbeitet.«

»Bitteschön?«

»Es ist immer nur um wohlhabende Klassen gegangen. Dass diese aber nichts bewirken, weiß jedermann.«

»Um Gottes willen! Kein Frevel!«

»Ehrenpflicht der Abgeordneten ist es, die Unbemittelten besonders herauszuheben und nicht ihrer nur mit langen Sätzen zu gedenken, besonders in Zeiten der Not. Im vergangenen Hungerwinter gab es rührende Beispiele. Eine Familie, deren ganze Habe aus zwei Loth Kaffee und einem Stück Brot bestand, ließ die Hälfte davon einer noch ärmeren Tagelöhnerfamilie zukommen. Das ist mehr wert, als wenn Rothschild eine Million schenkt. Solche Akte gehörten mit goldenen Worten in einer solchen Adresse erwähnt. Besonders, da es die Armen betrifft, die nur zu oft von den Besitzenden verachtet werden.«

Geheimrat Nebenius gab zu bedenken, dass Thronreden nicht alles beinhalten können.

Staatsminister von Dusch erläuterte, dass man verschiedene Abstufungen von wohlhabenden Klassen benannt habe, und wer einem Bedürftigen spende, sei doch verhältnismäßig wohlhabender als dieser.

»Wenn ein Bettler einem anderen Bettler etwas gibt, kann man nicht sagen, jener ist wohlhabend! Unser Mittelstand verschwindet! Der Staat muss freie Genossenschaften gründen und die Arbeiter am Gewinn beteiligen. Das ist aber nur in einer freien Gesellschaft, ohne Polizeiaufsicht, mit Freiheit der Presse, möglich. Unser Regent muss geben, was die Zeit gebietet. Wir Abgeordneten wären unwürdig, wenn wir nicht einmal einen Wunsch an die Krone brächten. Mit offenem Vertrauen muss man vor den Fürsten treten und ihm sagen, du gibst, was du kannst, und du kannst es geben. Als die ersten Schriftsteller gegen das Feudalwesen auftraten, hielt man sie für töricht und aberwitzig. Weil man nicht dachte, dass ein freies Bürgertum entsteht, das geringschätzig auf die geharnischten Ritter herabsieht! Würde heutzutage ein Ritter auftreten mit seinem Schild, man würde ihn auslachen. Das Parlament muss für die Souveränität seines Landes kämpfen!«

Er stürmte in den angrenzenden Garten, hinter ihm Itzstein. Nur Fickler blieb noch einen Moment sitzen und trank Schnaps, was Mittermaier nicht sehen wollte. Er hätte den Lümmel rügen müssen. Doch pochte sein armes Herz bereits zu stark. Aufreizend langsam schraubte der Konstanzer den Deckel auf das Fläschchen und begab sich ebenfalls ins Freie, wo Itzstein versuchte, Hecker zu besänftigen: »Es war nur eine Sitzung. Weitere folgen.«

»Mit mehr Gerede und noch größerem Unsinn! Die neue Kandidatur wird nichts bewirken!«

»Geduld, immer Geduld. Wir sollten nicht all die erkämpften Rechte in Baden vergessen: fortschrittlichste Verfassung im deutschen Bund, liberale parlamentarische Kultur und viele Reformerfolge der zweiten Kammer. Insgesamt ein mühsamer, aber guter Weg.«

»Wir werden ihn schwer zu Ende gehen können!«, widersprach Hecker.

»Aber weshalb denn nicht?«

»Im kriechenden Tempo dauert es noch hundert Jahre bis zur Demokratie!«

»Schwätzer von Gottes Gnaden residieren da drinnen«, sagte Fickler. »Ohne drastische Taten kein Erfolg!«

»Was soll das bedeuten?«, fragte Itzstein.

Hecker legte ihm den Arm auf die Schulter. »Die glorreiche Verfassung führte man bereits vor dreißig Jahren ein! Es mag Kollegen wie Nebenius inbrünstige Freude bereiten, sich auf ihren Lorbeeren auszustrecken, doch liberale Abgeordnete müssen voranschreiten.«

»Eben«, sagte Fickler, »ausgemistet wird der Augiasstall!«

Hinter einem Baum notierte Abgeordneter Karl Mathy die umstürzlerischen Worte. Als die Stephanskirche zum Vier-Uhr-Gebet läutete, nickte er und schlenderte davon.