Der Schatz des Gregor Gropa

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4

Nachdem Marius in der Bowling-Halle den Eingang verschlossen hatte, ging er Steinchen vor sich her tretend zu seiner Wohnung, betätigte im Flur den Lichtschalter und klickte ihn hektisch hin und her. Wie am gestrigen Tag und in der Woche zuvor ging Marius kein Licht auf, da ihm der Strom abgeschaltet worden war. In seiner Not hatte sich Marius der Ratschläge seines sparsamen Vaters erinnert, zeitig das Bett aufzusuchen und die Leistung des Kühlschranks zu halbieren, doch war das Elektrizitätswerk unerbittlich geblieben. Marius boxte sich vor Ärger in die linke Hand, dann ging er unter die Dusche. Wasser bekam er, noch.

Später saß er am Küchentisch und wusste nicht, was er machen sollte. Alle Arbeit war getan. In Coldsville gab es für ihn keine andere als jene, die er bisher erledigt hatte. Um neue Pläne zu schmieden, war er nicht in der Stimmung. Marius wusste, dass sich ihm lediglich zwei Alternativen boten. Entweder er ging auf Arbeitssuche nach Sydney, oder er kehrte nach Deutschland zurück.

Auf dem Hof machten sich die Hunde seiner Nachbarin bemerkbar. Die Dobermänner bellten gewöhnlich, wenn ihnen jemand unbekannt vorkam, der sich dem Haus näherte oder den sie nicht riechen konnten. Der Briefträger Dave kam jeden Tag. Marius war daran gewohnt, Briefe zu bekommen, die kein Mensch haben wollte.

Seine Nachbarin begann zu schimpfen. Die bösen Worte galten nicht ihren Hunden, sondern dem Briefträger. Der sollte die Tür seines Wagens gefälligst behutsamer schließen, der Radau störte sie beim Fernsehen, keifte sie, während ihre Dobermänner weiterhin bellten, als ob es kein morgen geben würde. Marius musste grinsen. Dave machte das Bellen der Hunde täuschend echt nach.

Marius stand auf und nahm ein Glas aus dem Schrank. Sogleich verging ihm die Heiterkeit. Er erinnerte sich der besseren Zeiten, in denen er gewohnt war, Dave ein Glas Sekt einzuschenken, wenn der Briefträger oder eines seiner Kinder Geburtstag hatte, und die durften auffallend häufig diesen Tag feiern. Marius füllte das Glas mit Leitungswasser. Dann wartete er, bis Dave bei ihm klingelte.

Er brauchte einen Moment, um darauf zu kommen, dass ohne Strom auch seine Klingel nicht funktionierte, und er ging zur Tür. Als er sie geöffnet hatte, sah er Dave mit erhobener Faust vor ihm stehen. Die Faust hatte nicht Marius gegolten, sondern der Tür, aber die war ja jetzt offen. Er streckte dem Briefträger sein Glas entgegen und versuchte zu lächeln: „Hi, Dave. Denk dir einfach da wäre Sekt drin. Oder ein gutes Bier. Aber bei der Hitze hilft eh nur Wasser.“

„Wieso funktioniert deine Klingel nicht, Marius?“

„Sie haben mir den Strom abgestellt. Aber kaltes Wasser bekomme ich weiterhin.“

Dave leerte das Glas in einem Zug. „Halleluja, das tut gut. Was hast du gesagt? Du bekommst keinen Strom mehr?“, fragte er verwundert. Dave kniff die Augen zusammen, als ob er in die Sonne schauen würde. Wie hatte sich Marius nur verändert. Früher war Dave mit ihm um die Häuser gezogen, viele waren ja nicht da und bezahlt hatte gewöhnlich der Deutsche. Marius war nicht nur wegen seines Großmutes ein guter Kumpel gewesen, bisweilen etwas zu geschwätzig, dann wieder wortkarg und melancholisch, doch gewöhnlich bei guter Stimmung und nach ein paar Drinks zu Scherzen und Streichen aufgelegt, ohne dabei dreist oder respektlos zu sein.

„Ich habe einfach kein Geld mehr“, gestand Marius und breitete vor Verlegenheit seine Arme aus.

„Verdammt. Im Sommer keinen Strom zu haben ist besonders bitter“, war Dave mitfühlend. „Die olle Adams hat Strom. Aber von ihr bekomme ich beim besten Willen kein Wasser aus dem Kühlschrank. Die Alte würde mir nicht mal Wasser aus dem Trog geben, aus dem ihre verdammten Köter saufen. Das kannst du vergessen, dass sie dir ein Verlängerungskabel reicht. Hier, die beiden Briefe sind für dich. Einer ist von deinem Vater aus Deutschland. Ja, ich hab’ hinten drauf geschaut, woher er kommt. Der ist jedenfalls keine Rechnung wie der andere Brief. Das ist schon mal was, nicht wahr?“

Marius murmelte „Na, immerhin“ und nahm die Briefe und das leere Glas an sich. Dave fehlten die Worte. Lediglich ein Satz fiel ihm ein. „Ich hoffe, dass wir uns nächste Woche wiedersehen.“

„Wenn ich Geld haben sollte, lade ich dich auf ein Bier ein“, machte Marius sich selbst Mut.

„Nein, dann lade ich dich ein.“

Marius legte die Briefe auf den Küchentisch und überlegte, welchen er zuerst öffnen sollte. Was von dem Brief vom Elektrizitätswerk zu erwarten war, konnte er mehr als erahnen. „Bezahlen Sie Ihre Rechnungen, und wir beliefern Sie mit Strom.“ So einfach konnte das Leben sein. Was ihm sein Vater schrieb, wollte er sich lieber nicht vorstellen.

Marius schüttete am Spülbecken Wasser in sein Gesicht, um die Hitze im Haus besser ertragen zu können. Dann öffnete er den einen Brief. Da stand drin, was er befürchtet hatte. Er legte die Mahnung zu den anderen und griff nach dem Brief seines Vaters. Bevor er zum Messer langte, drehte er ihn langsam zwischen den Händen. Schließlich überwand er sich und schlitzte ihn auf. Im Umschlag befand sich ein kleinerer, der auf den Boden fiel. Marius bückte sich, sah auf das in Blau gehaltene Papier, fuhr mit dem Daumen hinein und öffnete ihn.

Marius konnte seiner Überraschung kaum Ausdruck verleihen. Im Umschlag befanden sich zwei große Geldscheine. „Eintausend Euro! Vater, hab’ tausendfachen Dank!“, rief er und warf einen sehnsüchtigen Blick zur Lampe, die ihrer Verwendung beraubt nutzlos von der Decke hing.

Frohen Mutes begann Marius den Brief seines Vaters zu lesen. Seine gute Stimmung trübte sich sofort ein und sank, je mehr er davon las, ins Bodenlose. Sein Vater machte ihm bittere Vorwürfe, von Zeile zu Zeile wurden sie heftiger. Nichts sei dem Sohn gelungen, Misserfolg reihte sich an Niederlage, was er auch angepackt hatte, war ohne Erfolg geblieben. Alles Geld war zum Teufel, nicht nur das eigene Vermögen hatte Marius mit seinen Unternehmungen verpulvert, auch jenes seines Vaters hatte er damit aufgebraucht.

„Nimm diese eintausend Euro“, war in den letzten Zeilen zu lesen, wobei sich Marius wunderte, dass diese Worte in einer ihm fremden Handschrift geschrieben waren. „Verwende sie tunlichst nicht zum Abbau Deiner drängendsten Schulden, sondern steige in das nächste Flugzeug und komme so schnell Du kannst zu Deinem kranken Vater nach Deutschland. Ich leide an Krebs. Die Geschwüre haben von meinem ganzen Körper Besitz ergriffen. Wenn Du mich lebend sehen willst, so spute Dich. Sonst ist es zu spät!

P.S.: Was auch immer geschehen ist. Du bist und bleibst mein Sohn!“

Marius war wie vom Donner gerührt. Das hatte er in seinen schlimmsten Träumen nicht befürchtet. Als er noch an das Stromnetz angeschlossen war, hatte ihm sein Vater per E-Mail mitgeteilt, dass er an Magenbeschwerden litt und mit dem Essen Maß halten müsse. Den Krebs hatte er mit keinem Wort erwähnt. Und jetzt lag sein Vater im Sterben.

5

Herr Weigelt saß in der Cafeteria des Krankenhauses und wartete darauf, dass sein Diener ihm Kaffee und Kuchen brachte. Als beides auf dem Tisch stand und Herr Weigelt in seiner Tasse rührte, schien er die Frage seines Dieners überhört zu haben.

„War es richtig, diesen Brief nach Australien zu schicken?“, wiederholte sich dieser.

Herr Weigelt legte den Löffel auf die Untertasse und ließ sich mit der Antwort Zeit. „Es war sein letzter Wunsch. Hätte ich ihm diesen etwa abschlagen dürfen?“

„Ich möchte das Geld in diesem Brief mit keinem Wort erwähnen. Natürlich mussten Sie diesen letzten Wunsch Herrn Kilians respektieren, Sie sind schließlich ein Ehrenmann.“

„Was haben Sie dann an diesem Brief auszusetzen? Sie wissen ja überhaupt nicht, was darin steht.“

„Ihnen ist bekannt, Herr Weigelt, dass ich diesbezüglich eine Vermutung hege?“

„Selbstverständlich weiß ich das. Aber in diesem Schreiben ist absolut nichts zu lesen, das Ihre Vermutung bestärken würde. Der Brief ist rein privater Natur.“

„Ich muss leider befürchten, dass Sie weiterhin das in die Tat umsetzen wollen, wovor ich Sie zu warnen versucht habe.“

„Mein lieber Karl, Sie verkennen Ihren Platz.“

„Ich bin mir meiner Stellung durchaus bewusst, Herr Weigelt, und nichts liegt mir ferner, als daran rütteln zu wollen. Ich glaube mich jedoch befugt zu sehen, Sie und Ihre Familie vor jedweder Gefahr beschützen zu müssen.“

„Das ehrt Sie, Karl“, sagte Herr Weigelt, ohne eine Spur von Spott in seine Stimme zu legen.

„Und Sie wollen weiterhin an Ihren Absichten festhalten?“

„Bei allem Respekt, aber diese Entscheidung überlassen Sie bitte mir.“

„Sie kennen ihn nicht“, blieb der Diener beharrlich. „Über welche Fähigkeiten verfügt dieser Sohn Herrn Kilians überhaupt? Das sollte nicht weiter verwunderlich sein, dass ein Vater seinem Sprössling eine Empfehlung ausspricht, wenn er damit seinen eigenen Interessen dienen kann.“

Herr Weigelt verzog das Gesicht. „Ihnen sollte hinlänglich bekannt sein, dass ich mich für das Wohlergehen der Familie Kilian in besonderem Maß verpflichtet fühle. Der Wunsch von Konrad Kilian ist für mich bindend. Was haben wir denn über dieses Thema weiterhin zu reden?“

Herr Weigelt biss in seinen Apfelkuchen und wünschte sich Ruhe. Sein Diener gönnte sie ihm, solange er aß und trank. Als Herr Weigelt damit fertig war, versuchte Karl ihn erneut von seinem Vorhaben abzubringen. „Herr Weigelt, niemand kann Sie dazu zwingen, diesen Sohn in Ihre Dienste zu nehmen. Sie kommen bereits für die Kosten der Beerdigung Herrn Kilians auf. Dafür müsste sich sein Sohn verantwortlich sehen und mitnichten Sie selbst.“

 

„Fangen Sie schon wieder an“, schüttelte Herr Weigelt den Kopf. „Lassen Sie es endlich gut sein. Auf dem Teller fehlt die Serviette. Das hätte Ihnen auffallen müssen.“

Karl holte umgehend sein Versäumnis nach. „Ihnen scheint die Krankenhausluft nicht gut zu bekommen“, lächelte Herr Weigelt grimmig. „In meinem Haus wäre Ihnen dieses Versäumnis niemals unterlaufen.“

„Da mögen Sie Recht haben, Herr Weigelt. Ich halte es jedoch für meine Pflicht, Sie auf einen möglicherweise fatalen Fehler aufmerksam zu machen, dessen Auswirkungen meinen kleinen Fauxpas bei weitem übertreffen würde. Sie wissen doch worauf ich anspiele?“, konnte sich der Diener schwerlich beherrschen.

Herr Weigelt zog die Schultern hoch. „Was soll denn passieren? Dieser junge Mann, der die letzten Jahre keinen Fuß in seine Heimat setzen wollte, hat keinen Schimmer, was sich lange vor seiner Zeit ereignet hat. Nichts weiß er, und dabei wird es auch bleiben. Aber jetzt fahren Sie mich in mein Haus. Der Tag war anstrengend genug.“

6

Der Bus fuhr zweimal am Tag von Coldsville nach Sydney. Einer am frühen Morgen, der nächste, wenn die Sonne längst untergegangen war. Die Morgenluft war angenehm kühl. Marius stand an der Haltestelle, die sich lediglich einige Meter von seiner Wohnung entfernt befand und wartete. Die Augen hielt er dabei auf seine Schuhe gesenkt. Das Haus, in dem er gelebt hatte, wollte er nicht mehr sehen. Kamen Leute vorbei, unterließ es Marius, zu ihnen aufzuschauen. Er ärgerte sich, dass er nicht bereits am Abend zuvor nach Sydney gefahren war, wobei es für den gestrigen Flug sowieso zu spät gewesen wäre.

Plötzlich zuckte Marius zusammen. Sally kam auf ihn zu. Zu seiner Verwunderung sagte sie kein Wort. Marius ebenso wenig, doch kamen ihm schlagartig die schönen Zeiten ihrer Beziehung zu Bewusstsein, so dass ihm vor Wehmut schwindlig zu werden drohte. Sally wusste sofort, wie es um ihn stand. Sie zog die Augenbrauen nach oben, legte ihren Kopf langsam auf die Seite und lächelte ihn schelmisch an. Dann richtete sie einen ganz herzlichen Gruß ihres Vaters aus, drückte ihm eine Dose mit selbstgebackenen Keksen in die Hände und einen Kuss auf die Lippen. Sally verlor kein weiteres Wort und ging ihrer Wege, ohne sich noch einmal umzudrehen. Marius sah ihr nach, bis sie an einer Biegung der Straße verschwunden war.

Zu seiner Erleichterung kam der Bus pünktlich. Marius nahm abseits der anderen Fahrgäste Platz und mied jeden Blick nach draußen. Vier Stunden Fahrt nach Sydney lagen vor ihm. In der letzten Nacht hatte er keine Ruhe gefunden. Nachdem der Fahrer die ersten zwanzig Kilometer über eine holprige Piste bis zur Schnellstraße nach Sydney überwunden hatte, schloss er die Augen und fand den ersehnten Schlaf.

Kurz vor dem Flughafen wachte Marius auf. Er hatte geträumt, jedoch nicht von seinem Vater. Seine bereits verstorbene Mutter war ihm im Traum begegnet. Er hatte sie lediglich von hinten gesehen. Sie saß auf einem Stuhl und war dabei, ein Bild zu malen. Marius hatte sich getraut, über ihre Schultern zu blicken. Sein Mut sollte ihm Bitterkeit bereiten, denn seine Mutter malte an einem Bild, welches einen Friedhof zeigte.

Am Flughafen fühlte sich Marius wie benommen. Nach der Passkontrolle hätte er nicht mehr gewusst, ob ein Mann oder eine Frau seine Papiere prüfte, und am Gepäckband musste er dazu aufgefordert werden, seinen Koffer aufzugeben. Kurz darauf saßen die Passagiere dicht gedrängt im Flieger. Marius versuchte, von ihnen keine Notiz zu nehmen.

Während der vielen Stunden über dem Indischen Ozean und dem Asiatischen Festland hatte Marius immer wieder auf die Uhr gesehen, bis er den Anblick kaum mehr ertragen konnte und er sie vom Handgelenk zog. Marius tat etwas, was er lange nicht mehr gemacht hatte. Er fing an zu beten, dass er seinem Vater lebend begegnete. Er flüsterte immer dieselben Worte vor sich hin, bis seine Nachbarin auf ihn aufmerksam wurde und fragte, ob sie ihm helfen könne.

Die Zeit wollte für die Passagiere während des Zwischenstopps in Singapur nicht vergehen. Für Marius verstrich sie viel zu schnell, da er befürchtete, zu spät zu kommen. Die Leute, die mit ihm flogen, nervten ihn. Sie schnarchten, wenn sie schliefen, begannen aufgeregt zu schnattern, als im Flugzeug die Sonne aufging und mäkelten, weil das Essen nicht schnell genug kam. Marius fand keine Ruhe und zählte Minute um Minute.

Endlich hatten sie Frankfurt erreicht. Ein böiger Wind empfing die Passagiere auf dem Rollfeld, die Leute knöpften ihre Jacken bis oben hin zu. Marius war für den Vorfrühling in Deutschland viel zu leicht angezogen, und er begann heftig zu frieren.

Im ICE nach Mannheim stand Marius, da er nach dem Flug nicht mehr sitzen konnte. Während das Flugzeug auf die Minute pünktlich gelandet war, hatte der Zug Verspätung. Marius trat von einem Bein auf das andere und verwünschte die Bahn, dabei war die frei von Schuld für den Brand einer Fabrik, die sich in unmittelbarer Nähe der Gleise befand.

Der ICE traf mit einer halbstündigen Verspätung in Mannheim ein. Marius sprang aus dem Zug und hetzte zu einem Taxi. Den Fahrer bat er inständig, sich zu beeilen, doch gerieten sie in starken Verkehr, kaum dass der Wagen den Bahnhof verlassen hatte. Der Fahrer spürte die Ungeduld von Marius und gab sich Mühe, ihn abzulenken. Als er erfuhr, dass sein Fahrgast aus Australien eingeflogen war, drehte er die Heizung auf. Der Fahrer fragte Marius, was er sonst für ihn tun könne. „Schneller fahren“, herrschte Marius ihn an, aber der freundliche Mann verwies auf die Kolonne der Fahrzeuge, die sich quälend langsam durch die Straße schob.

Es begann zu dunkel zu werden, als sie endlich das Klinikum am Neckarufer erreicht hatten. Marius ließ einen Geldschein auf den Sitz fallen und riss den Koffer an sich. An der Information fragte er sich verhaspelnd nach dem Namen Kilian.

„Welche Abteilung?“

„Onkologie!“

„Herr Kilian liegt im Zimmer 432, im vierten Stock. Sie müssen durch den Gang bis ans Ende gehen, dann links, danach rechts den Gang entlang und wieder bis zum Ende. Dort ist ein Fahrstuhl. Wenn Sie oben sind, dann nochmals scharf links, und Sie sind da.“

Marius fegte mit dem Koffer durch die Gänge. Einmal nahm er die falsche Richtung, ein Mann, der an Krücken ging, wies ihm den richtigen Weg. Den Fahrstuhl ließ er unbeachtet und sprang stattdessen mit dem Koffer an der Hand die Treppen nach oben. Als Marius die „Onkologie“ erreicht hatte, war ihm die Zimmernummer entfallen. Er fragte aufgeregt eine der Krankenschwestern um Rat. Die Schwester hatte eben mit ihrer Schicht begonnen. Viel zu langsam suchte sie auf dem Bildschirm nach. „Ach, da hab’ ich’s. Nummer 432.“ Marius eilte davon. Die Schwester fuhr plötzlich mit der Hand zum Mund und erschrak. „Herr Kilian, bitte warten Sie!“, rief sie ihm hinterher. Sie bemerkte auf ihrem Schreibtisch den Brief und einen großen braunen Umschlag, die für Marius gedacht waren und nahm sie an sich. Marius hatte die Hand an der Türklinke. Die Schwester kam auf ihn zugelaufen. „Herr Kilian, ich muss Ihnen etwas sagen.“

„Was denn?“, fragte er leise und wagte kaum zu atmen.

„Das tut mir sehr leid, aber Ihr Herr Vater ist in der letzten Nacht verstorben. Mein aufrichtiges Beileid. Den Brief und den Umschlag soll ich Ihnen geben. Die sind von Ihrem Vater.“

Marius blieb es versagt, seinen Vater noch einmal zu sehen. Sie hatten den Leichnam bereits aus dem Krankenhaus gebracht. Die Schwester bot ihm einen Stuhl und Kaffee an, er lehnte ab. Marius wollte nach Hause.

Seine nächste Fahrt mit einem Taxi verlief zügiger. Sie endete in der Schwetzingerstadt. Marius zahlte, ließ sich den Koffer geben, bedankte sich und ging zum Gebäude mit der Nummer Fünfzehn. Trotz der Müdigkeit im Kopf und der Trauer im Herzen, ließ er seinen Blick über Haus und Hof schweifen und glaubte, alles so vorzufinden, wie er es in den fünf Jahren seiner Abwesenheit in Erinnerung behalten hatte.

Nach dieser langen Zeit tat sich Marius schwer, am Bund den passenden Schlüssel zu finden. Er hatte mit dem zweiten Glück und stieg schwerfällig nach oben in den dritten Stock. An dieser Tür wusste er sofort, welcher Schlüssel passte. Er machte sie mit zittrigen Händen auf, war froh niemandem im Treppenhaus begegnet zu sein und zog schnell die Tür hinter sich zu.

In der Wohnung herrschte eine unangenehme Kühle. Er öffnete die Fenster, sorgte für Durchzug, drehte an den Ventilen der Heizkörper und war erleichtert, als diese sich rasch erwärmten. Marius schaute in jedes Zimmer. In seinem schien die Zeit stehen geblieben zu sein, in den übrigen entdeckte er nur wenige Veränderungen. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder, die seine Mutter gemalt hatte, bis sie verstorben war. Marius schaute auf die Eingangstür. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie geöffnet wurde und seine Eltern die Wohnung betraten, um ihren Sohn willkommen zu heißen.

Marius wollte auf der Couch zur Ruhe kommen und die Augen schließen. Vor der Couch stand jedoch der Tisch, auf dem er den Brief seines Vaters gelegt hatte. Marius bereitete es Furcht, ihn zu lesen, und er starrte zur Decke. Schließlich überwand er sich, griff mit zittrigen Händen nach dem Brief und öffnete ihn.

Lieber Marius,

Du wirst überrascht sein, eine fremde Handschrift zu lesen, doch bin ich nunmehr zu schwach, um selbst schreiben zu können und bat einen Vertrauten, meine Worte zu Papier zu bringen. Du musst keine Furcht haben, lieber Sohn, diese Worte fallen nicht so harsch aus, wie jene im vorigen Brief, als ich erbost war, dass Du für lange Zeit nichts hast von Dir hören lassen. Es geht dem Ende zu, und ich möchte milde sein.

Bevor ich sterbe, komme ich nicht umhin, Dir für Deinen weiteren Lebensweg etwas ans Herz zu legen. Leider ist das Erbe, das ich Dir hinterlasse, zumindest in finanzieller Hinsicht überschaubar, was auch ohne jeden Zweifel darin begründet liegt, dass Du den Großteil meines Geldes ebenfalls in Australien gelassen hast. Das war keine gute Idee von Dir, mitten im Nirgendwo eine Kegelbahn zu betreiben. Dieses Missgeschick ging nicht nur über Deine Kräfte. Deine Mutter hätte das womöglich mit ihrem Weitblick, der mir verlustig ging, verhindern können. Aber zu ändern ist das nicht mehr. Jetzt musst Du neue Wege gehen. Damit Du auf die Beine kommst, möchte ich Dir eine Arbeit anbieten. Sie wird Dir nicht zur Gänze fremd sein, denn es ist jene, die ich bisher selbst verrichtet habe. Bitte höre auf den Rat Deines alten Vaters, und nimm die Arbeit bei Herrn Weigelt an. Sie ist nicht immer einfach, aber anständig bezahlt. Du sollst Dich bei Herrn Weigelt um den Garten kümmern und seinem Enkelsohn ein guter Freund sein. Das ist alles. Ich habe bei ihm ein gutes Wort für Dich eingelegt. Herr Weigelt erwartet Dich baldmöglichst zu einem Gespräch. Gehe hin sobald Du kannst.

Falls Du in Deiner freien Zeit eine sinnvolle Beschäftigung suchst, so habe ich eine Anregung für Dich. In dem braunen Umschlag findest Du ein Schriftstück, das Dein Großvater geschrieben hat. Du hast ihn nie kennenlernen dürfen, weil er lange vor Deiner Geburt im Gefangenenlager in Russland verstorben ist. Auch ich habe lediglich einige verschwommene Erinnerungen an ihn. Als er in den Krieg ziehen musste, war ich ein kleiner Junge. Das meiste habe ich gelesen, dann schwanden meine Kräfte, und die Augen wollten auch nicht mehr so wie früher. Aber keine Bange, die Schrift Deines Großvaters liest sich mühelos. Nur das Geschriebene war nicht immer leicht zu verkraften. Dieser Bericht sollte wohl eine Art Beichte für das sein, was er damals im Krieg erlebt hat. Ich war über manche Einzelheiten selbst erschrocken, aber auch erleichtert, dass mein Vater kein Mörder war. Erst als ich sterbenskrank im Bett lag, begann ich seinen Bericht zu lesen. Mache Dir selbst ein Bild, wenn Du die nötige Muße hierfür gewonnen hast, aber warte nicht so lange damit, wie ich es tat.

Jetzt muss ich schließen, mein Sohn. Ich kann nicht mehr. Ich hoffe, Dir ein guter Vater gewesen zu sein, so wie Deine Mutter eine gute Mutter gewesen ist. Lebe wohl!

Dein Dich liebender Vater

Die Hände von Marius begannen zu zittern, Tränen rannen über seine Wangen, und er rang um Fassung. Als die Schwester ihm im Krankenhaus die Todesnachricht übermittelt hatte, waren seine Augen trocken geblieben. Zu keiner Gefühlsregung war er fähig gewesen, jetzt war Marius dankbar, dass sein Vater in diesem Schreiben versöhnliche Worte gefunden hatte. Er küsste den Brief, legte ihn behutsam auf den Tisch und seufzte so tief und heftig, wie nie in seinem jungen Leben zuvor.