Der Schatz des Gregor Gropa

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7

Sein Vater sollte Recht behalten. Marius blieb seiner finanziellen Lage wegen keine andere Wahl, als sich am nächsten Tag auf den Weg zu Herrn Weigelt zu machen. Er wusste, in welcher Straße dieser sein Anwesen hatte, die Gegend war als Wohnsitz vermögender Familien bekannt. Mit dem Fahrrad brauchte Marius keine zehn Minuten, und das musste er nehmen, da ihm kein Auto zur Verfügung stand.

Sein Fahrrad stand im Keller. Marius pumpte die Reifen auf und trug das Rad die Treppe hoch. Im Hof begann er zu frieren. Er erinnerte sich, dass es in Deutschland auch im frühen Frühjahr empfindlich kühl sein konnte, nahm aus dem Schrank seines Vaters den dicksten Mantel, der zu finden war und schwang sich aufs Rad.

Sein Weg führte ihn auf die Seckenheimer Straße über die Otto-Beck-Straße die Augustaanlage querend zum Haus der Weigelts. Bereits etwa einhundert Meter vor dem Grundstück stellte Marius sein Fahrrad ab, band es an einen Zaun und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Herr Weigelt war einer der angesehensten und reichsten Männer der Stadt. Marius wollte vermeiden, ihm mit einem schmutzigen Fahrrad zu begegnen.

Das Anwesen hütete sich mit einer mannshohen Hecke vor neugierigen Blicken. Marius hatte Mühe, darüber hinweg zuschauen. Er machte sich so lang, wie ihm möglich war und lugte über die Hecke, bis ein Mann mit seinem Hund daher kam, der zu knurren begann. Der Mann fragte scharf nach, was Marius hier zu suchen hatte. „Ich möchte hier arbeiten“, gab Marius schüchtern zur Antwort.

„Und zuvor wollten Sie nachsehen, wie Ihr künftiger Arbeitsplatz aussieht, was? Hier wohnt Herr Weigelt, ein honoriger älterer Herr, der in dieser Stadt eine hohe Wertschätzung genießt. Sie können von Glück reden, falls er Sie einstellen sollte.“ Der Mann schaute Marius geringschätzig von Kopf bis zu den Zehenspitzen an und bemerkte den altmodischen Mantel samt der billigen Schuhe. „Wenn er überhaupt daran denkt, Sie einzustellen“, fügte er herablassend hinzu, zog seinen fortwährend knurrenden Hund von Marius weg und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Straße hinab.

Der Zugang zum Haus war durch ein hohes schmiedeeisernes Tor verwehrt. Etwas unterhalb der Spitzen waren Drachen und andere Fabelwesen angebracht worden, die wohl dazu dienen sollten, den Besuchern dieses Anwesens, den nötigen Respekt einzuflößen.

Die Klingel war so klein, dass Marius sie suchen musste. Ein Weilchen verging, bis eine Stimme ertönte, die fragte, wer da sei. Marius gab höflich Antwort und wurde gebeten zu warten.

Marius sah zum Haus, welches auf einem sanften Hügel thronte. Dieses hatte blütenweiße Wände und himmelblaue Fensterläden, dem oberen Stockwerk war eine Terrasse vorgebaut, das Dach aus karminroten Ziegelsteinen errichtet. Der Garten war groß, dass selbst eine Eiche mit ausladender Krone und zwei Nadelbäume Platz fanden. Der weitläufige Rasen wies eine sattgrüne Färbung auf, etwas abseits des Hauses erkannte Marius mehrere Gemüsebeete. Zum Haus führte ein Weg, der von Kieselsteinen bedeckt und mit steinernen Statuen gesäumt war.

Kaum hatte Marius den Blick gesenkt, wurde die Eingangstür nach einem Summton aufgestoßen, und ein junger Mann rannte auf das Tor zu. Unter seinen Füßen knirschte der Kies, mit schnellen Schritten hatte er Marius erreicht und ihm das Tor so weit geöffnet, wie es möglich war.

„Bist du der Sohn von Konrad?“, fragte er aufgeregt.

Marius nickte.

„Du machst jetzt das, was dein Vater gemacht hat?“

Marius zögerte mit der Antwort und murmelte ein „Mal sehen, hoffentlich“ daher.

„Komm rein. Mein Großvater wartet auf dich“, sagte der auffallend große wie kräftige Mann. Er schien sich auf Marius gefreut zu haben, sein breites rosiges Gesicht strahlte vergnügt. Dann rannte er genauso schnell zum Haus zurück. Marius sah ihm nach, während das Tor wieder in das Schloss fiel und er dabei erschrak. Den Weg zum Haus legte er mit wackligen Beinen zurück.

Marius hörte, wie der junge Mann im Foyer nach seinem Großvater rief. „Opa, Opa, er ist da, er ist da. Komm ganz schnell her.“

Dem Großvater war nicht vergönnt, sein Tempo selbst zu bestimmen. Marius hatte durch den geöffneten Eingang sehen können, wie der im Rollstuhl sitzende Mann durch einen langen Flur geschoben wurde, nachdem sich die Tür eines Fahrstuhls hinter ihm geschlossen hatte. Der junge Mann gestikulierte wild und forderte Marius auf, seinen Großvater zu begrüßen. Der lächelte gütig und streckte Marius die Hand entgegen. „Mein Enkelsohn Boris freut sich, dass Sie gekommen sind, Herr Kilian, und ich freue mich auch. Seien Sie willkommen in meinem Haus.“

„Guten Tag, Herr Weigelt“, sagte Marius und war bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. Marius wusste, dass Herr Weigelt fast neunzig Jahre zählte. Sein Gesicht sah erstaunlich frisch aus, die Falten zeigten sich wenig ausgeprägt. Die Nase war lang und schmal und nicht so dick und knollig wie bei anderen Männern seines Alters. Die Augen waren tief und grau und von dichten Brauen überwölbt. Marius glaubte, einen dunklen Fleck auf der Iris des rechten Auges erkannt zu haben. Auf der Stirn war eine Narbe zu sehen.

Herr Weigelt trug einen himmelblauen Anzug mit dunkler Krawatte. Marius fühlte sich in seiner Bekleidung unwohl, die im Vergleich zu der von Herrn Weigelt als schäbig zu bezeichnen war und verwünschte sich für seine Leichtfertigkeit, keinen angemesseneren Aufzug gewählt zu haben. Der alte Herr schmunzelte.

„Es fällt sogleich auf, dass Sie zuvor in Australien waren. Ihren Mantel würden Sie in Deutschland besser im Januar getragen haben. Ist das nicht der Mantel Ihres Vaters? Er trug ihn, wenn er bei Kälte im Garten den Boden umgrub. Nehmen Sie ihn einfach ab und hängen ihn an der Garderobe auf.“

Marius kam der Aufforderung sofort nach.

„Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Bedauern ausdrücken, dass Ihr lieber Herr Vater verstorben ist? Wie dramatisch und bedrückend muss das für Sie gewesen sein, ihn verloren zu haben und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, so ist der Tod Ihres Vaters auch für mich und meine Familie eine besonders schmerzliche Tatsache.“ Herr Weigelt tippte sich an die Stirn. „Herrje, was rede ich für einen Unsinn? Tatsache, welch ein unpassendes Wort. Bitte verzeihen Sie mir, junger Mann.“

„Ich möchte Ihnen für Ihre Anteilnahme danken, Herr Weigelt.“

„Das ist eine Selbstverständlichkeit. Würden Sie mir bitte in die Bibliothek folgen?“

Boris sprang zu einer Tür und öffnete sie. Marius fiel erst jetzt der Mann auf, der Herrn Weigelts Rollstuhl schob. Er war eher klein und schlank und sein Alter schwerlich zu schätzen. Er hatte ein kantiges Gesicht, in dem kleine grüne Augen funkelten. Durch die Ungeduld von Boris ließ sich dieser Mann nicht aus der Ruhe bringen, und er bewegte den Rollstuhl behutsam durch die Tür. Marius folgte ihnen. Kaum war er hindurch, knallte Boris hinter ihm die Tür zu, drängelte sich an den Männern und dem Rollstuhl vorbei und lief zu einem Tisch, an dem eine Frau saß. Die sprang von ihrem Sitz auf und rief: „Nicht so stürmisch, mein Sohn. Du wirfst sonst den ganzen Tisch um.“

„Mama, weißt du wer da ist?“

„Lass dich umarmen, Boris. Ich weiß, wie sehr du dich über den Besuch von Herrn Kilian freust.“

Die Mutter von Boris war weder klein noch gebrechlich, verschwand jedoch in den Armen ihres hünenhaften Sohnes. „Drück mich nicht so fest, ich bin nicht aus Eisen.“

„Entschuldigung, Mama. Ich lass dich jetzt los.“

„Sie müssen Herr Kilian sein“, wandte sie sich Marius zu. „Ich bin Frau Weigelt. Der große Junge hier ist mein Sohn, und meinen Vater haben Sie bereits kennengelernt.“

Frau Weigelt lächelte, Marius auch. Frau Weigelt war eine schöne Frau. Sie mochte fast einen halben Kopf größer als Marius gewesen sein, trug dichte, aber kurz gehaltene schwarze Haare, hatte eine schmale gerade Nase, ein leicht vorstehendes Kinn und wie ihr Vater tiefe, aber dunkle Augen. Ein angenehmer Duft ging von ihr aus. Frau Weigelt machte Eindruck. Marius hörte kaum hin, als er gefragt wurde, ob Kaffee gewünscht sei.

Der kleine schlanke Diener, der, wie Marius vernahm, auf den Namen Karl hörte, servierte Kaffee und Pralinen. Herr Weigelt schwärmte von seiner Bibliothek und sprach von zehntausenden von Bänden, die er im Verlauf von Jahrzehnten unermüdlich zusammengetragen hatte. Marius musste seinen Blick von Frau Weigelt losreißen, um dem ihres Vaters folgen zu können. „Ich habe sämtliche Klassiker gesammelt, Sie finden hier aber auch bekannte Werke der Moderne. Viele davon habe ich gelesen, meine Tochter ebenso, mein Enkel leider kein einziges. Er frönt anderen Leidenschaften.“

Marius schaute zum Stuhl, wo zuvor Boris Platz genommen hatte. Er war leer. Boris hatte seine Tasse Kaffee mit einem großen Schluck ausgetrunken, sich den Mund mit Pralinen voll gestopft und in eine Ecke der Bibliothek verzogen, wo eine Modellrennbahn stand. Dort ließ er ein Rennauto im Kreis herum sausen, bis es aus der Bahn flog.

Frau Weigelt versuchte für Marius eine Erklärung abzugeben, was ihr nicht leicht zu fallen schien. „Boris ist achtzehn Jahre alt und liebt schnelle Autos. Einen Führerschein hat er aber nicht und wird auch nie einen machen dürfen. Er hat leider, als er in meinem Bauch war, zu wenig Sauerstoff abbekommen. Das wird ihn sein ganzes Leben lang prägen. Aber er ist mein Sohn!“

„Und er ist mein Enkel! Mein einziger.“ Herr Weigelt klopfte zur Bestätigung auf den Tisch.

Marius wusste nicht, was er sagen sollte, nickte eifrig und griff dann zur Tasse und einer Praline. Karl schenkte ihm nach.

„Kommen wir zur Sache, Herr Kilian“, sagte Herr Weigelt. „Ich bin ein Mann der Tat. Das Zaudern und Zögern überlasse ich tunlichst anderen. Ich benötige einen Mann, der für mich arbeitet, so wie es zuvor Ihr Herr Vater getan hat. Sie wissen sicher, welche Art von Arbeit hier auf Sie zukommen würde? Vorausgesetzt, dass ich Sie einstelle.“

 

„Mein Vater hat sich um Ihren Garten gekümmert.“

„Exakter formuliert hat er meine Lieblinge groß gezogen. Meine Tochter und Boris sind schon groß, da musste er nicht mehr Hand anlegen. Ihr Vater hat meine Tomatenzucht weitergeführt. Seit ich ein alter, klappriger Mann geworden bin und mein restliches Dasein im Rollstuhl zubringen werde, war ich hierzu nicht mehr in der Lage, wie sehr ich das auch bedaure. Ihr Vater hat diese Arbeit zu meiner vollkommenen Zufriedenheit ausgeführt. Er sagte mir, Sie hätten ebenso weitreichende Kenntnisse über Tomaten, wie er sie sein Eigen nennen durfte?“

„Mein Vater war ein Meister auf diesem Gebiet, ich kann mich in dieser Hinsicht lediglich als einen Lehrling bezeichnen“, antwortete Marius und hätte sich beinahe auf die Zunge gebissen, musste er befürchten, dass seine aufrichtige Bescheidenheit ihn um die dringend benötigte Anstellung bringen könnte.

„Die Arbeit ist fordernd, Herr Kilian“, Marius musste schwer schlucken, „aber dank Ihres Vaters bringen Sie einen erheblichen Vertrauensvorschuss mit. Gewöhnlich sprechen Väter gut, um nicht zu sagen zu gut über ihre Söhne, so dass ich mich einer gewissen Skepsis schwerlich erwehren konnte“, sagte Herr Weigelt und tauschte mit seinem Diener Blicke, während Marius mit klopfendem Herzen auf den Teppich schaute und das Schlimmste befürchtete.

„Menschen, denen ich in der Regel mein Gehör zu gewähren bereit zeige, rieten mir davon ab, Sie in meine Dienste zu nehmen, Herr Kilian. Ich kam unweigerlich ins Grübeln, wägte ab, geriet ins Wanken, traf etwas voreilig eine Entscheidung und kam letztendlich zu einem anderen Entschluss.“ Herr Weigelt blickte Marius direkt in die Augen, der wagte kaum zu atmen und hielt seine Hände krampfhaft still. Herr Weigelt war die Ruhe selbst: „Mein Entschluss lautet, Sie für mich arbeiten zu lassen, da ich nicht umhin komme, der Urteilskraft Ihres Vaters mein Vertrauen zu schenken.“

Marius stieß einen Seufzer aus und wäre auf seinem Stuhl vor Erleichterung beinahe vornüber gesunken. Herr Weigelt fuhr unbeirrt fort: „Ich möchte guter Hoffnung sein, dass Sie diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit bewältigen werden. Bei aller Herausforderung möchte ich behaupten, dass die Arbeit in meinem Haus auch ihre schönen Seiten hat. Allerdings sollte Ihnen durchaus bewusst sein, dass ich meine Ansprüche habe. Ich möchte im Sommer einer ganzen Menge prächtiger Tomaten beim Gedeihen zusehen und sie nach ihrer Reife verzehren. Auf diesen Einheitsbrei aus dem Supermarkt kann ich dankend verzichten. Bei der Sortenvielfalt, die uns diese prächtige Frucht bietet, sollte alles dabei sein, was mein Herz höher schlagen lässt. Weder die winzige Johannisbeertomate noch das schwergewichtige Ochsenherz dürfen fehlen, von der Zebra-Tomate und dem Andenhorn ganz zu schweigen. Ein bunter mannigfaltiger Reigen von roten, weißen, grünen, schwarzen, gelben und gestreiften Tomaten soll meinen Garten bereichern. Sie werden viel zu tun haben, junger Mann, aber keine Angst, ich gewähre Ihnen großzügig Hilfe. Meine Tochter..“, das Herz von Marius begann wieder heftig zu schlagen, Frau Weigelt zeigte ihre blendend weißen Zähne, „meine Tochter kann Ihnen dabei leider keine Hilfe sein.“

„Wer dann?“, fragte Marius arglos und dachte an den Diener Herrn Weigelts.

„Mein Sohn Boris“, verkündete Frau Weigelt mit kokettem Augenaufschlag. Dem war eines seiner Rennautos verunglückt. „So ein Mist“, rief er quer durch die Bibliothek. Dann hob Boris den Wagen zurück in die Spur und spielte weiter. Marius machte den Mund auf und wollte etwas sagen, Frau Weigelt kam ihm zuvor.

„Ich bin zur Zeit beruflich sehr eingespannt und ab nächster Woche für ein halbes Jahr im Ausland“, erklärte sie im kühlen Tonfall einer Geschäftsfrau. Ihr Blick indes verriet Unruhe und Anzeichen von Furcht, vor allem wenn ihre Augen auf den Diener Karl trafen, wie Marius bemerkte. Als Frau Weigelt auf ihren Sohn zu sprechen kam, wurde sie wieder warmherzig und ihr flackernder Blick begann sich zu beruhigen. „Ich lasse Boris höchst ungern allein, aber mir sind leider die Hände gebunden. Mein Vater ist eine starke Persönlichkeit, der kommt selbstverständlich allein zurecht, aber Boris benötigt eine abwechslungsreiche Beschäftigung. Ihr Herr Vater stellte im Umgang mit meinem Sohn großes Geschick unter Beweis. Hat er verschwiegen, dass Boris Ihnen beim Anbau der Tomaten behilflich sein soll?“

Davon war in dem Brief keine Rede gewesen, auch bei ihren Telefonaten und in den E-Mails hatte sein Vater Boris nie erwähnt, immer nur von dem Garten und vor allem von Tomaten war die Rede gewesen. Schließlich fiel Marius ein, dass sein Vater ihn in seinem letzten Brief darum gebeten hatte, dem Enkel Herrn Weigelts ein guter Freund zu sein.

„Nehmen Sie die Arbeit an, junger Mann?“, unterbrach Herr Weigelt die Gedanken von Marius und erweckte den Eindruck, als ob er die Antwort kaum abwarten konnte. „Über das Gehalt werden wir uns problemlos einigen. Ich bin beim besten Willen nicht als alter Knauser bekannt. Seien Sie kein Frosch, und geben Sie mir die Hand, Herr Kilian. Mein Handschlag gilt wie ein Vertrag.“

Marius konnte sich nicht erlauben, zögerlich zu sein. Er willigte mit Herrn Weigelt ein und spürte seinen festen Händedruck. Frau Weigelt strahlte wieder und sagte, dass Marius seinen Entschluss nicht bereuen werde. Ihr Vater ließ seinen Diener Sekt bringen. Marius hätte gut daran getan, bedächtig zu trinken. Der lange Flug, der mangelnde Schlaf, und die Ereignisse der letzten Tage begannen ihren Tribut zu fordern. Der Handschlag mit Herrn Weigelt ließ jedoch eine große Last von seinen Schultern fallen, und das durfte gefeiert werden. Marius nahm einen tiefen Schluck. Als er das Glas geleert hatte, musste er sich an seinem Stuhl festhalten, um nicht herunterzufallen. Der Diener Karl bemerkte seine Unpässlichkeit und bot ihm mit hochgezogenen Augenbrauen ein zweites Glas an. Marius schaute zu ihm auf, rang sich zu einem Lächeln durch und lehnte dankend ab.

8

Bevor Marius seine Arbeit bei Herrn Weigelt beginnen konnte, musste sein Vater zu Grabe getragen werden. Der März hatte häufig kalten Regen gebracht, die Wege auf dem Mannheimer Hauptfriedhof waren mit Pfützen übersät. Die Vögel begannen in diesem Jahr spät zu singen und mussten daran noch üben, Erdkröten krochen über verschlammte Wege auf der Suche nach einem Gewässer für ihren Laich, die ersten Blumen hatten sich aus der aufgeweichten Erde gewagt und sehnten sich nach Sonne.

Marius zählte die Köpfe der um seinen Vater Trauernden und kam auf acht. Darunter waren außer ihm selbst Herr Weigelt, sein Diener Karl, Boris und vier Männer, die wie sein Vater eine große Vorliebe für Tomaten hegten, denn sie hatten sich im Kondolenzbuch als „Freunde der Paradeiser“ ausgegeben. Keine einzige Frau war dabei. Nach Mutters Tod hatte sein Vater keine andere Frau mehr kennengelernt, Geschwister hatten weder er noch sein Sohn.

Zum Bedauern von Marius war die Tochter von Herrn Weigelt bereits ins Ausland verreist. Seine Frage, wohin es Frau Weigelt zog, hatte sie bei einem Telefongespräch mit Australien beantwortet. „Vielleicht habe ich in diesem Land mehr Glück als Sie, Herr Kilian.“ Frau Weigelt schien über sein missglücktes Abenteuer gut unterrichtet zu sein. Marius wünschte ihr das Glück, welches er nicht zu erzwingen in der Lage gewesen war und hoffte auf ein baldiges Wiedersehen. „In einem halben Jahr kehre ich zurück, Herr Kilian. Dann will ich guter Dinge sein, dass Sie mit dem Anbau von Tomaten mehr Erfolg hatten. Alles Gute.“

Der Pfarrer trug in der Kapelle über den Verstorbenen vor. Zwei Tage davor hatte Marius den Pfarrer aufgesucht und mit ihm ein langes Gespräch geführt. Der Pfarrer wollte von Marius über den Lebensweg seines Vaters aufgeklärt werden. Marius musste sich eingestehen, dass ihm so manches unbekannt geblieben war, vor allem was die Jugendzeit seines Vaters betraf. Über sich selbst hatte sein Vater selten etwas erzählt. So berichtete Marius dem Pfarrer über die Liebe des Vaters zu seiner Frau und zur Natur. Der Pfarrer gab in seiner Trauerrede vieles davon in seiner Rede wieder.

Der Pfarrer musste auch von Herrn Weigelt Besuch bekommen haben. Sonst wäre für Marius nicht erklärbar gewesen, dass in der Rede die Tätigkeit seines Vaters im Hause der Weigelts ebenso ausführlich beschrieben wurde. Der Pfarrer sprach von einem engen Verhältnis des Verstorbenen zu dieser angesehenen Familie. Marius wusste, dass er sich dieses Verhältnis und das hieraus entstandene Vertrauen von Grund auf erarbeiten musste.

Am Grab hielt sich der Pfarrer zurück und überließ anderen das Wort. Die vier Männer, die bisher vornehmlich geschwiegen hatten, hoben zu Marius’ Überraschung an zu singen. Besonders gut klangen ihre Stimmen nicht, aber es kam von Herzen. Sie sangen ein für Marius unbekanntes Lied, dessen Refrain auf Lateinisch erklang. Die Strophen sangen sie auf Deutsch, dessen Mannheimer Mundart schwerlich zu überhören war.

Als die Männer ihr Lied beendet hatten, spendete Boris Beifall. „Ihr habt toll gesungen“, sagte er und wollte jedem die Hand drücken, doch sein Großvater machte seinen Arm lang und zupfte ihn am Mantel, da ließ Boris davon ab. Für die Freunde seines Vaters war es sicher nicht das erste Mal, dass sie einen Kameraden ihres Kreises verabschiedeten. Marius glaubte, dass sie einem Ritual huldigten. Nach dem Lied griff einer in seinen Stoffbeutel, holte vier verschiedenfarbige Tomaten hervor und gab jedem eine. Die legten sie an den Rand der Grube, wobei sie darauf Acht gaben, dass die Abstände die gleichen waren. Danach griff der Mann nochmals in seinen Beutel, holte eine Flasche und vier kleine Gläser heraus und füllte sie. Als jeder eines in der Hand hielt, sagte einer der Männer: „Lieber Konrad, wir erheben unser Glas auf dich und trinken einen Schnaps, der aus der Frucht gebrannt wurde, die dir und uns so lieb und teuer war. Prost!“

Als sie die Gläser geleert hatten, gaben sie Marius die Hand, wünschten alles Gute und gingen ihrer Wege. Marius schaute ihnen nach. Dann hielt er vor dem Grab seines Vaters inne und nahm Abschied, indem er sich vor dem Sarg verbeugte. Erst jetzt nahm er wieder Herrn Weigelt, dessen Diener Karl und Boris wahr. Herr Weigelt lächelte milde und wies Karl an, Marius ein Taschentuch zu reichen. Boris begann zu schluchzen. „Er war ein guter Mensch, der Konrad.“

„Das war er“, bekräftigte Marius und trocknete seine Augen.

Auf dem Weg zum Ausgang des Friedhofs ließ sich Herr Weigelt von Karl zu seinem künftigen Grab bringen. „Hier liegt meine Frau, Gott habe sie selig.“ Herr Weigelt hatte nichts unterlassen, seiner Gemahlin eine Ruhestätte zu bereiten, die selbst auf dem Hauptfriedhof der Stadt Aufsehen erregen musste. Der Grabstein bot vielen Namen Raum, zu sehen waren lediglich zwei; der von Helga Weigelt, geboren im Januar 1924, verstorben im Juni 2002 und der von Herrn Weigelt, geboren im September 1921.

„Wie Sie sehen, Herr Kilian, bin ich für alle Eventualitäten, die das Leben mit sich bringt, bestens gewappnet. Nach meinem Tod muss auf dem Grabstein lediglich das Sterbedatum eingetragen werden, für meinen Sarg findet sich in diesem Grab genügend Platz. Aber glauben Sie nicht, dass es mich dazu drängen würde, meiner Frau zu folgen. Wir werden uns früh genug wiedersehen, ich habe es nicht eilig. Und wenn dieser Tag gekommen ist, befinden wir uns in hervorragender Gesellschaft. Wohin sich auch unser Auge wendet, liegen auf diesem Areal des Friedhofs die Gräber namhafter Bürger unserer Stadt. Eines Tages weile ich unter ihnen, und das macht mich stolz.“

Herr Weigelt hätte viel länger vor dem Grab seiner Frau verharren mögen, aber Boris wurde unruhig. Er wollte fort von diesem traurigen Ort. Einsetzender Regen kam ihm zu Hilfe. Karl gab Boris einen Regenschirm und schob Herrn Weigelt zum Ausgang. Boris spannte den Schirm auf und hielt ihn sich über den Kopf. Karl schnippte mit dem Finger seiner rechten Hand und wies auf Herrn Weigelt. Boris verstand und hielt den Schirm jetzt über das Haupt seines Großvaters. Als sie den Parkplatz erreicht hatten, waren alle nass, nur der Kopf des alten Mannes war trocken geblieben. „Das macht nichts, dass ich tropfe. Ich bin während meiner Jugend häufig nass geworden. Das sollte einen Menschen im fortgeschrittenen Alter auch nicht mehr stören.“

 

Herrn Weigelt konnte ein paar Schritte ohne den Rollstuhl bewältigen, darauf legte er den größten Wert. Obwohl der Regen stärker fiel, trug er Karl auf, etwa dreißig Schritte vor dem Auto zu halten. Von einem Stöhnen begleitet, erhob sich Herr Weigelt, brachte seinen Körper in Balance, machte leicht schwankend die ersten Schritte und legte den Weg mit Hilfe eines Gehstocks langsam, aber beharrlich zurück, wobei er ablehnte, sich dabei von seinem Enkel beschirmen zu lassen. Als er durchnässt im Mercedes saß, Karl den Wagen gestartet und Boris es sich auf dem Rücksitz gemütlich gemacht hatte, ließ Herr Weigelt die Scheibe hinunter und verabschiedete sich von Marius. „Die Beerdigung Ihres Vaters fand in einem würdevollen Rahmen statt. Das war für uns alle schwer genug. Nun auf zu neuen Ufern! Wir sehen uns am Montag zum Dienstbeginn, Herr Kilian. Ich freue mich auf Sie.“

Marius nickte und sah dem Wagen nach, dessen Fahrer keine Eile zeigte. Marius schüttelte den Regen vom Mantel. Er zitterte vor Kälte und sehnte sich für einen Moment in den heißen Sommer Australiens zurück. Dann eilte er zu seinem Fahrrad und fuhr so schnell er konnte in die Wohnung seines Vaters.