Der Schatz des Gregor Gropa

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9

Obwohl Marius nicht recht einzuschätzen wusste, was ihn erwartete, hatte er sich den ersten Tag in den Diensten Herrn Weigelts anders vorgestellt. Herr Weigelt selbst war nicht im Haus. Sein Diener Karl hatte ihn in eine Klinik zu einer ambulanten Behandlung gefahren. Reine Routine sei dies, ließ Herr Weigelt ihm ausrichten.

Boris hatte Marius das Tor geöffnet. Bei ihrer ersten Begegnung war er zum Eingang gerannt und hatte Marius kaum erwarten können. Heute schlich er wie von einer Zentnerlast beschwert über den mit Kies bestreuten Weg, sagte kein Wort außer „Morgen“ und ging mit gesenktem Kopf zurück ins Haus. Dabei bewegte sich Boris so langsam, dass Marius ganz kleine Schritte machte, um auf seiner Höhe zu bleiben. Boris hielt sich die rechte Wange. Sie war geschwollen. Er führte Marius in die Bibliothek und nahm in einem der großen Sessel Platz, ohne Marius einen anzubieten.

„Boris, haben Sie Zahnschmerzen?“

„Duz’ mich“, brachte er mühsam hervor.

„Hast du Zahnschmerzen?“

Boris nickte, tippte auf die Backe, murmelte was von „Weisheit“ und grinste für einen Augenblick, um sogleich aufzustöhnen.

„Du musst zum Zahnarzt.“

Die Augen von Boris weiteten sich, dann hob er den Zeigefinger der linken Hand und schwenkte ihn heftig hin und her. „Nein! Dann lieber Backe dick!“

„Du musst sie wenigstens kühlen.“

Boris hob die Schultern.

„Habt ihr in eurem Kühlschrank Eiswürfel?“

Boris brachte statt einer Antwort nur ein Wimmern zustande.

„Bleib hier, ich schaue nach, ob ich Eis auftreiben kann.“

Marius suchte nach der Küche. Im Haus fanden sich viele Zimmer. Die Orientierung wurde ihm leicht gemacht, da über den Türen in großen Buchstaben, die in einer schönen, makellosen Schrift geschrieben waren, der Verwendungszweck jedes Zimmers stand.

Das Wohnzimmer war so groß wie die Wohnung seines Vaters. An den Wänden hingen Gemälde, vornehmlich mit Motiven aus der Schifffahrt vergangener Zeiten. Die Ausmaße des Fernsehers glichen der einer Kinoleinwand. Sessel und Sofa waren mit Leder überzogen, in der Luft hing ein angenehmer Duft nach Lavendel. Auf einem Tisch stand eine Vase, die mit den Mustern verschiedenfarbiger Tomaten geschmückt war. Marius bemerkte neben dem Kamin ein Bild, das kein Schiff zeigte, sondern eine Tomatenpflanze in Öl auf Leinwand. Über der Tür entdeckte er einen Kunstdruck von Warhols Ketchup-Dosen. Auf einer Anrichte standen edle Tropfen in Flaschen jedweder Form und Größe, die Etiketten verrieten ihre Herkunft aus vielen Ländern der Erde. Marius hielt eine Flasche Whisky in die Höhe, bis ihm die zu der Kühlung von Boris geschwollener Wange erforderlichen Eiswürfel einfielen und er sich auf den Weg in die Küche machte.

Alle Gebrauchsgegenstände im Haus der Weigelts schienen Übermaße zu haben, so auch der Kühlschrank. Der war mit Getränken und Speisen vielfältiger Art bis zum Rand gefüllt. Im Eisfach fand sich das Gesuchte. Marius griff nach mehreren Eiswürfeln, wickelte sie in ein Tuch und wollte zu Boris gehen. Die Neugier hielt ihn davon ab. Er schob das Tuch in das Eisfach, verschloss den Kühlschrank und stieg die Treppe hoch. Wie im Erdgeschoss stand über jeder Tür geschrieben, was sich dahinter verbarg. „Mamas Schlafzimmer“ hätte Marius besonders interessiert, wenn sich Herrn Weigelts Tochter nicht in Australien aufgehalten hätte. „Boris seine Burg“ befand sich gleich daneben, das Zimmer von seinem Großvater links von jenem seiner Tochter, am Ende des Ganges sah Marius, wo der Diener Karl seine Behausung hatte. Überall hingen Bilder, die Landschaften, Schiffe und Häfen zeigten, auch bunte Kritzeleien in blauen und gelben Rahmen waren zu sehen, die er Boris zuschrieb.

Marius stieg wieder hinab, sah eine Treppe in das Untergeschoss führen, las die Buchstaben „Zum Schwimmbad“ und konnte nicht umhin, ihnen zu folgen.

Der Anblick raubte ihm den Atem. Das Hallenbad war groß und breit wie ein städtisches, in dem aber kein einziger Mensch schwamm, das Wasser ruhig wie in einem Ententeich, jedoch nicht so trüb, sondern kristallklar. Marius sah auf den Boden des Beckens hinab. Der Grund war nicht mit schnöden schmucklosen Fliesen belegt. Mosaiksteine formten Bilder, die den Motiven antiker römischer Villen entnommen zu sein schienen. Marius wollte das Kolosseum erkannt haben. In der Tiefe erspähte er tatsächlich mit Dreizack und Schwertern bewaffnete Gladiatoren, sowie Löwen, die mit Tigern kämpften. Plötzlich glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können, denn er entdeckte entlang des rechten Beckenrandes das Wrack eines Schiffes. Der Mast mit dem Krähennest lag zerbrochen neben dem Wrack, im Schiffsbauch klaffte ein großes Loch, und eine Kanone nebst Kugeln ruhte neben dem Bug. Marius umlief staunend das Becken und entdeckte unweit des Hecks eine Truhe, in der ein großer Schatz verborgen sein mochte. Er schätzte die Tiefe des Beckens auf mindestens fünf Meter, tatsächlich waren es sieben, wie er einer Markierung in roter Farbe entnehmen konnte. Das Wrack lag auf dem Beckengrund zur Fensterfront hin, so dass man vom Rand der gegenüberliegenden Seite gefahrlos hineinspringen konnte. Mit offenem Mund blieb Marius stehen und schüttelte den Kopf. Wie hätte er auch so etwas erwarten können? Dann erinnerte er sich der dicken Backe von Boris und eilte nach oben.

Als Marius ihn mit den im Tuch eingewickelten Eiswürfeln aufsuchte, entschuldigte er sich dafür, dass es so lange gedauert hatte. „Ich wusste nicht, wo die Küche ist, ich musste sie zuerst suchen.“

Boris guckte ungläubig, schließlich bat er um einen der Eiswürfel und legte ihn sich auf den schmerzenden Zahn. Marius band das Tuch mit dem übrigen Eis dem wimmernden Boris um den Kopf, machte über dem Haaransatz einen Knoten und trug dafür Sorge, dass die Würfel dicht an der geschwollenen Wange lagen. „Leg die Hand drauf“, wies Marius ihn an. Boris gehorchte und gab ein Grunzen von sich. Kurz darauf verzog er das Gesicht und spuckte den Eiswürfel, den er sich in den Mund gelegt hatte, wieder aus. Marius bückte sich mit einem Taschentuch in der Hand, nahm das Eis auf, ging zu einem der großen Fenster der Bibliothek, öffnete es und warf den Würfel in den Garten. Dann überlegte er, was noch zu tun wäre. Endlich schlich sich die ihm aufgetragene Arbeit ins Bewusstsein, und er fragte nach.

„Boris?“

„Hmmh?“

„Wo hat mein Vater die Samen für die Tomaten aufbewahrt?“

Marius fand alles so vor, wie er dies erwartet hatte. Sein Vater hatte für beste Ordnung gesorgt. In einem Schuppen aus Kiefernholz, der sich im Garten gleich neben den Beeten befand und der in seiner Größe einer geräumigen Garage glich, waren zahlreiche kleine Tüten mit Samen in verschiedenfarbigen Karteikästen untergebracht. In dem roten fanden sich Sorten wie „Harzfeuer“, die nach der Reife rote Früchte tragen sollten, im grünen Samen der „Evergreen“, in dem schwarzen fand er „Black Crim“ und in dem weißen die „Weiße Schönheit“ vor. In dem blauen Kasten hatte sein Vater andere ausgefallene Sorten wie den Samen der „Zebra-Tomate“ oder dem „Andenhorn“ gelagert.

Auf einem Regal an der Wand waren Töpfchen zur Anzucht gestapelt, auf dem Boden sah Marius einen gelben Sack mit schwarzer Erde. Die Töpfchen waren sauber und wiesen keinerlei Rückstände auf. Marius zählte zehn davon ab, füllte sie mit der Erde, wählte zehn verschiedene Samensorten aus, legte, um Verwechslungen zu vermeiden, die angebrochene Tüte vor den Topf und begann, den Samen in die Erde zu drücken.

Boris saß im Schneidersitz vor dem Tisch, auf den Marius die Töpfchen gelegt hatte und beobachtete mit Argusaugen jeden Handgriff. Marius konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vom Tuch, das er Boris um die geschwollene Wange gebunden hatte, triefte das geschmolzene Wasser und hinterließ eine Lache auf dem Boden. Boris ließ sich davon nicht stören. Er gab Marius die Anweisung, die Samenkörner tiefer in die Erde zu drücken. „Warum soll ich das tun?“, fragte Marius ohne Argwohn. Boris gab eine scharfe Antwort. „Weil nur die starken Samen Licht bekommen sollen, die schwachen bleiben unten und sterben.“

„Hast du das von meinem Vater gelernt?“

„Nein, das hat mir mein Opa beigebracht. Der sagt, dass die Natur nun mal so ist. Drückst du die Körner jetzt tiefer in die Erde?“

Marius tat so als ob und reckte, nachdem er der Erde den ersten Schuss Wasser aus einem hölzernen Becher gegönnt hatte, die Daumen nach oben. „Ein Anfang ist getan. Jetzt muss ich die Töpfchen beschriften, damit wir wissen, wo welche Art von Samen drin steckt. Verstehst du mich, Boris?“ Der sprang wie von der Tarantel gestochen aus seinem Schneidersitz und rief „Das mache ich!“ Aus einem Schrank holte Boris einen Stift und Etiketten, ließ sich von Marius die Tomatenart nennen und schrieb sie auf das Papier. Dann löste er die Etikette ab und reichte sie Marius. Der las „Andenhorn“ und war beeindruckt. Boris hatte eine schöne Schrift, sie las sich sehr gut. Marius glaubte, die Schrift als jene erkannt zu haben, die er über den Türen im Haus gesehen hatte.

„Gell, ich kann gut schreiben.“ Marius nickte, Boris freute sich.

„Geht’s denn besser mit den Zahnschmerzen?“

Boris riss das Tuch vom Kopf und ließ es zu Boden fallen. „Viel besser.“

Neben den Samenkörnern hatte Marius’ Vater für den Mulch gesorgt. Sein Vater hatte auf Mulch jeden Eid geschworen. „Der ist für Tomaten genauso wichtig, wie für uns Menschen die Luft“, erinnerte sich Marius an seine Worte. Ein großes Fass bewahrte den Rindenmulch auf, der einen angenehmen Duft verströmte. „Sobald es ein wenig wärmer ist, müssen wir den auf die Beete verteilen“, sagte Marius. Boris hörte aufmerksam zu und stellte Marius eine Frage. „Kannst du das alles so gut wie dein Vater das konnte?“

 

„Ich werde jedenfalls mein Bestes tun“, gab er zögerlich zur Antwort und ahnte, dass er weder die Bedenken von Boris, geschweige denn seine eigenen zerstreuen konnte.

Boris legte den Kopf zur Seite. „Dein Vater hat alles richtig gemacht“, sprach er treuherzig. Dann verkündete Boris, dass er großen Hunger habe.

Boris schaufelte ganz schön was weg. Sein Großvater, der aus der Klinik zurückgekehrt war, sah es mit Wohlwollen. „In meinem Alter soll ich ja Diät halten. Das legen mir meine Ärzte ans Herz. Dabei ist meines so alt geworden, weil ich im Leben auch mal fünf habe gerade sein lassen. Iss mein Junge, damit du groß und stark wirst, aber das bist du ja schon.“

Sie saßen in der Küche und ließen es sich gut gehen. Karl hatte Steaks in die Pfanne gelegt, dazu reichte er Pommes frites. Lediglich zwei Teller standen auf dem Tisch. Karl nahm nichts zu sich, Herr Weigelt knabberte an einem Apfel. „So weit ist es mit mir gekommen“, grummelte er vor sich hin und ließ sich von Karl ein Glas Orangensaft reichen. Er nahm ein paar kleine Schlücke, dann sollte Marius Bericht erstatten. Der schluckte hastig ein Stückchen Fleisch hinunter und sprach über Samen, Mulchen und der Hoffnung auf einen warmen Frühling. Herr Weigelt schien wenig darauf zu achten.

„Früher habe ich nie etwas darauf gegeben, was mir meine Ärzte anordnen wollten. Damals konnte ich mir das auch leisten. Heute wird man bescheidener und vor allem demütiger und hört mit einem Ohr hin. Diese Quacksalber können einem das Leben vergällen, nicht wahr, Karl?“

„Mit einem Ohr hinhören, Herr Weigelt. Das ist die richtige Methode“, sagte Karl und legte die Bratpfanne in die Spülmaschine.

„Leider scheine ich heute mit beiden Ohren zuzuhören, sonst würde ich nicht einen Apfel essen und Orangensaft trinken. Nichtsdestoweniger leiste ich mir ab und an meine Sünden.“

Marius hatte sein Mahl beendet und wusste nicht, was er tun sollte. Er nahm schließlich den Teller und legte ihn in die Spülmaschine. Karl nickte knapp und schielte lauernd zu Boris. Der wollte Schokolade haben, Karl den Teller. Boris verschränkte trotzig die Arme, sein Großvater kicherte. „Die beiden haben es nicht so miteinander“, wandte er sich an Marius.

„Ich lasse mir nicht gerne auf der Nase herumtanzen, Herr Weigelt.“

„Schon gut, Karl. Wissen Sie, Herr Kilian, mein Diener nimmt ausschließlich diejenigen Anweisungen entgegen, die ich ihm erteilt habe, aber die führt er zu meiner völligen Zufriedenheit aus.“

Karl verlangte von Boris den Teller. Der wollte dafür in keinem Fall aufstehen. Boris nahm den Teller und streckte seinen Arm so weit aus, wie er konnte. Karl blieb an der Spülmaschine stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Boris machte sich lang und länger und fiel unter großem Gepolter vom Stuhl. Karl fing den Teller auf, bevor er auf den Fliesen zerbarst und räumte ihn, als ob nichts geschehen wäre, in die Maschine ein.

„Jetzt will ich aber Schokolade“, rief Boris vom Boden aus und trommelte heftig mit den Fäusten auf den Fliesen. Sein Großvater hielt sich den Bauch vor Lachen. „Mein lieber Karl, tun Sie mir den Gefallen und reichen Sie meinem nimmersatten Enkel eine Tafel Schokolade.“ Karl tat wie verlangt, Boris riss ihm die Tafel aus der Hand, aß munter drauf los und brach, bevor ihn sein Großvater ermahnen musste, ein Stück ab und reichte es Marius.

10

Nur wenig Zeit musste verstreichen, bis Marius erste Zweifel zu plagen begannen, ob er den Anforderungen seiner Arbeit gerecht werden würde. Er musste sich eingestehen, dass er einem Irrtum unterlegen war zu glauben, vieles von seinem Vater gelernt zu haben. In der Praxis jedoch blieb jede Theorie so grau wie das Fell einer Feldmaus, die frech auf einem der Beete verharrte, bis Marius einen Stein nach ihr warf.

„Das darfst du nicht, Marius“, fuhr Boris ihn streng an, „man darf Tieren nichts tun, sagt mein Großvater, und sogar der Karl ist so.“

Marius entschuldigte sich und versuchte das auszubügeln, was er beim Mulchen verpatzt hatte. Sein Vater hatte sich umsonst bemüht, dem Sohn diese Fertigkeit beizubringen. Vor dem Mulchen musste der Boden gedüngt werden, sonst würde alle Mühe vergeblich sein. Der Diener Karl hatte ihn so nebenbei zwischen Haus und Feld auf diesen wichtigen Umstand aufmerksam gemacht.

Boris begriff nicht, aus welchem Grund die zweitägige Arbeit, die er bisher geleistet hatte, schlecht gewesen sein sollte. Als Marius ihm zu verstehen gab, dass dies nicht seine Schuld gewesen war, machte er sich sofort daran, den Rindenmulch wieder einzusammeln.

Dabei gab es viel für sie zu tun, denn die Schicht hatte eine Dicke von zehn Zentimetern und lag auf drei nebeneinander liegenden, etwa fünfzehn Meter langen Beeten. Marius hatte mit dem Zollstock Maß genommen und dafür gesorgt, dass auf allen Beeten dieselbe Stärke vorherrschte. Jetzt sammelte er leise vor sich hin fluchend mit Boris den Mulch ein. Es war ein warmer Tag, sie gerieten ins Schwitzen, je höher die Sonne am wolkenlosen Himmel stieg. Am Morgen war die Luft kühl gewesen, jetzt zog Marius den Pullover über den Kopf, warf ihn auf den Rasen, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und verschnaufte für einen Moment, während Boris unverdrossen weiter arbeitete. Boris stand mit dem Rücken zu Marius, da wagte der, ein bisschen länger Atem zu schöpfen, bis er erkannte, dass er beobachtet wurde. Marius beschirmte seine Augen mit der rechten Hand, schaute, erschrak, zischte ein leises „Verdammt“ durch die Zähne und ging sofort in die Hocke, um Mulch aufzuklauben und in einen Eimer zu werfen. Herr Weigelt hatte sich auf die Terrasse schieben lassen, um ihn mit einem Fernglas bei der Arbeit beaufsichtigen zu können. Boris hatte seinen Großvater ebenfalls bemerkt und ihm begeistert zugewunken. „Hallo Opa, das macht irren Spaß, was wir hier machen. Willst du nicht mal zu uns runter kommen?“

Herr Weigelt winkte ab und ließ sich von Karl zurück in sein Haus rollen. Am nächsten Tag war von Herrn Weigelt nichts zu sehen. Marius war müde, in der Nacht zuvor hatte er schlecht geschlafen, weil er befürchtete, von Herrn Weigelt gemaßregelt oder sogleich entlassen zu werden.

Boris dagegen zeigte sich bester Laune. Der Rindenmulch hatte es ihm angetan. Immer wieder schnupperte er daran, der angenehme Duft stieg in seine Nase und ließ ihn jauchzen. „Das riecht so gut, das gibt richtig Kraft. Dir auch, Marius?“, fragte er, warf den Mulch kichernd in die Höhe und ließ ihn auf sich herabregnen. Marius blieb ihm eine Antwort schuldig. Er schätzte ab, wie lange sie brauchten, den Mulch abzutragen und kam auf den frühen Nachmittag.

Die Mittagspause verbrachten sie im Freien. Boris wollte das so. Er lief ins Haus, um Karl Bescheid zu geben. Marius durfte das nur recht sein, hoffte er auf diese Weise, Herrn Weigelt aus dem Weg gehen zu können.

Kaum hatten sie die Arbeit für die Pause unterbrochen, schaute Boris wie gebannt aus seinem gewohnten Schneidersitz heraus auf das große Eingangstor. Marius schien für ihn nicht mehr da zu sein. Der verspürte Hunger. Er sah sehnsüchtig in Richtung der Küche in der Hoffnung, die Glastür würde sich öffnen und Karl mit einem großen Tablett zu ihnen kommen, auf dem sich eine gute Mahlzeit befand. Marius hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da sprang Boris behände aus dem Mulch, rief „Das muss er sein“ und klatschte dabei begeistert in die Hände. Marius hatte einen Wagen gehört, der Motor wurde abgestellt, und der Fahrer stellte die laute Musik etwas leiser. Boris rannte zum Tor und öffnete. Marius bemerkte einen Burschen, der kaum älter als Boris war. Der Fahrer schüttelte den Kopf, während sich Boris mit der Hand gegen die Stirn schlug, „Hab’ ich glatt vergessen“ von sich gab und zum Haus rannte. Kurz darauf war er wieder im Garten. Als Boris im Laufschritt Marius passierte, wedelte er ihm grinsend mit einem Geldschein zu. Wenig später saßen beide auf dem Rasen und aßen Pizza.

Die sollte Marius gehörig im Magen liegen. Seine Augen wurden schwer, er war versucht, sich lang zu machen, traute sich aber nicht einmal, aus dem Sichtfeld der Terrasse zu verschwinden, um im Schatten der Bäume ein Nickerchen machen zu können. Im Schneidersitz, so wie Boris es zu halten pflegte, ließe sich die Pause gut aushalten, meinte Marius und kämpfte weiter gegen seine Müdigkeit an. Wenn er jetzt für ein oder zwei Momente die Augenlider senkte, konnte nicht viel passieren.

Selbst mit geschlossenen Augen fand Marius keine Ruhe. Dafür sorgte Sally. Wie aus dem Nichts tauchte sie in seinen trüben Gedanken auf und machte ihm Vorwürfe. Wie oft habe sie ihm angeboten, im Schuhgeschäft ihres Vaters in Desert Plain zu arbeiten, genauso häufig hatte er ihr Ansinnen kühl abgelehnt. „Das ist dir wohl nicht fein genug, vor anderen Menschen zu knien und ihnen an die Füße zu fassen, was?“, hatte sie damals auf ihn geschimpft. Jetzt saß Marius auf dem Rasen neben einem Haufen Mulch, und der duftete wenigstens gut.

Plötzlich vernahm er ein Räuspern. Karl stand vor ihm. Er hielt ein Tablett in der Hand. Sein Lächeln war ölig. „Herrn Weigelt fiel auf, dass Sie sich müde gearbeitet haben. Er meinte, ein Espresso könnte Ihnen nicht schaden. Wenn Sie ihn getrunken haben, und das geht ja schnell, können Sie sicher um so besser arbeiten.“

Bei den Briefen seines Vaters hatte Marius starker Nerven bedurft, wenn er sie las. Bei diesem Brief war eine Flasche Bier erforderlich, die er wie am Mittag den Espresso hinunterstürzte.

Als Marius nach Feierabend das Schreiben aus dem Briefkasten geholt hatte, glaubte er im Treppenhaus Blei in den Beinen zu fühlen und stieg mühsam Stufe für Stufe nach oben. Er legte den Brief im Wohnzimmer auf den Tisch, ging zum Kühlschrank, trank das Bier zwischen Küche und Flur, ließ dabei Öffner und Deckel achtlos auf den Teppich fallen, griff zum Öffner für Briefe und schlitzte den Umschlag auf.

Seine schlimmsten Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Die Mahnung der „Northern Millway Bank“ war höflich im Ton, aber unerbittlich, was die Fakten betraf. Sein Herz schlug in harten Schlägen, als er sie sah. Zahl an Zahl reihte sich aneinander, und sie wurden mit jeder Zeile größer. Zum Glück hatte er diese Schulden seinem Vater verschwiegen. Keine ruhige Minute hätte der im Krankenbett mehr gehabt.

Marius war beklommen zumute, er fühlte Druck auf der Brust und ein Würgen im Hals. Auf dem Balkon hoffte er, Linderung zu finden. Als seine Mutter noch lebte, war der Balkon reich mit Blumen geschmückt gewesen. Mit ihrem Tod waren die Blumen verschwunden. Den Vater hatten sie zu sehr an seine Frau erinnert und traurig gestimmt.

Marius angelte mit dem rechten Bein nach einem Stuhl, zog ihn her und ließ sich fallen. Draußen war es warm, am Horizont sammelten sich ein paar Wolken, die Sonne schien Marius ins Gesicht. Er schloss die Augen und sah das Grauen vor sich. Der Bankrott in Australien drohte in die nächste Pleite in Deutschland zu münden, wenn Marius die Arbeit bei Herrn Weigelt verlor. Bereits in Sydney und Coldsville hatte er alles in den Sand gesetzt, was er jemals angepackt hatte. Vielleicht würde es ihm in Deutschland mit dem Anbau von Tomaten besser ergehen.

Die Hoffnung trog, entzog sich Marius jeder Illusion. Herr Weigelt war kein Mann, der Almosen gab. Marius versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, obwohl ihm die Sonne auf den Schädel brannte. Der Enkel könnte der Schlüssel für die Lösung sein. Wenn er Boris bei Laune hielt, mochte sein Großvater über manchen Mangel seiner Arbeit hinwegsehen.

Und wenn nicht? Marius war es leid. Zu viele Sorgen hatten ihn in den letzten Jahren geplagt, nichts war ihm gelungen, das Pech schien ihm wie Teer an den Stiefeln zu kleben.

Marius ging in den Schatten der Wohnung zurück. An den Wänden hingen die Bilder und Zeichnungen seiner Mutter. Sie hatte ein Talent bewiesen, das auch außerhalb der Familie für Aufsehen gesorgt hatte. Vom Vater gab es nichts zu sehen, außer einigen Fotografien. Eine Aufnahme zeigte seine Eltern beim letzten gemeinsamen Urlaub in Italien. Das Bild hatte einen festen Platz über dem Sofa gefunden. Sein Vater hatte das Mittelmeer geliebt, weil dort die Tomaten von selbst wuchsen, die Mutter wegen des Lichts und der azurblauen See. Auch in Mannheim hatte sie viele Bilder gemalt. Seiner Mutter war es nicht schwer gefallen, geeignete Motive in der Stadt zu finden. Sie hatte den Auenwald am Ufer des Rheins und die Schiffe, die auf dem Fluss verkehrten, auf die Leinwand gebracht. Die vielen Störche mit ihren Jungen auf den Nestern im Luisenpark hatte sie ebenso gemalt, wie die prächtige Jesuitenkirche nahe des Schlosses. Verlor Marius die Wohnung, verloren die Bilder seiner Mutter ihren Platz.

 

Marius wollte seine Sorgen mit einem zweiten Bier betäuben, verwarf den Gedanken, hastete unruhig von Zimmer zu Zimmer, fand keine Ruhe und ging wieder auf den Balkon. Die Sonne war verschwunden, graue Wolken hatten sich in Windeseile ausgebreitet und den Himmel verdüstert. Ein böiger Wind kam auf und blies Marius ins Gesicht. Er begann zu frösteln und floh vom Balkon, um ins Warme zu kommen.

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