Franz Kafka: Sämtliche Werke

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Eine Mutter mit ihren Kindern beginnt auf der saubern Straße den Sonntagspaziergang. Das erinnert mich an Gottfried Keller, der von seiner Mutter erzogen wurde.

Im Wiesenland überall die sorgfältigsten Zäune; manche sind aus grauen wie Bleistifte zugespitzten Stämmen gebaut, oft aus halbierten solchen Stämmen. So teilten wir als Kinder Bleistifte, um den Graphit herauszubekommen. Derartige Zäune habe ich noch nie gesehn. So bietet jedes Land Neues im Alltäglichen und man muß sich hüten, der Freude über solche Eindrücke nachgebend das Seltene zu übersehn.

Richard: Die Schweiz in den ersten Morgenstunden sich selbst überlassen. Samuel weckt mich angeblich beim Anblick einer sehenswerten Brücke, die aber schon vorbei ist, ehe ich aufschaue, und verschafft sich durch diesen Griff vielleicht den ersten starken Eindruck von der Schweiz. Ich sehe sie zuerst, viel zu lange Zeit, aus innerer in äußerer Dämmerung an.

Ich habe in der Nacht ungewöhnlich gut geschlafen, wie in der Eisenbahn fast immer. Mein Schlaf in der Eisenbahn ist förmlich eine reinliche Arbeit. Ich lege mich hin, den Kopf zu allerletzt, probiere kurz zum Vorspiel einige Lagen, sondere mich von der ganzen Gesellschaft ab, wie sie mich auch von allen Seiten anschauen möge, indem ich mit dem Überzieher oder der Reisemütze mein Gesicht verdecke und werde von dem anfänglichen Behagen einer neu eingenommenen Körperlage in den Schlaf geweht. Am Anfang ist das Dunkel natürlich eine gute Hilfe, im weiteren Verlaufe ist es fast überflüssig. Auch die Unterhaltung könnte fortgehn wie früher nur ist es schon so, daß der Mahnung, die ein ernsthaft Schlafender bildet, auch ein entfernt sitzender Schwätzer nicht widerstehen kann. Denn es gibt kaum einen Ort, wo die größten Gegensätze in der Lebensführung so nah, unvermittelt und überraschend neben einander sitzen wie im Koupee und infolge der fortwährenden gegenseitigen Betrachtung in der kürzesten Zeit auf einander zu wirken anfangen. Und wenn auch ein Schlafender die andern nicht gleich wieder einschläfert, so macht er sie doch stiller oder steigert gar ganz gegen seinen Willen ihre Nachdenklichkeit zum Rauchen, so wie es leider bei dieser Fahrt geschehen ist, wo ich in der guten Luft unaufdringlicher Träume Wolken von Zigarettenrauch eingeatmet habe.

Meinen guten Schlaf in der Eisenbahn erkläre ich damit, daß mich sonst meine aus Überarbeitung stammende Nervosität durch den Lärm nicht schlafen läßt, den sie in mir anrichtet und der in der Nacht von allen zufälligen Geräuschen des großen Wohnhauses und der Gasse, von jedem aus der Ferne herannahenden Wagenrollen, jedem Zanken Betrunkener, jedem Schritt auf der Treppe angefeuert wird, daß ich oft ärgerlich alle Schuld auf diesen äußeren Lärm schiebe – während in der Eisenbahn die Gleichmäßigkeit der Fahrtgeräusche, ob es nun gerade die arbeitende Federung des Waggons ist, oder das sich Reiben der Räder, das Aneinanderschlagen der Schienen, das Zittern des ganzen Holz-, Glas- und Eisenbaues ein Niveau wie von vollkommener Ruhe bilden, auf dem ich schlafen kann, scheinbar wie ein gesunder Mensch. Dieser Schein weicht natürlich sofort z. B. einem vordringenden Pfiff der Lokomotive oder einer Veränderung des Fahrttempos oder ganz bestimmt dem Eindruck in den Stationen, der sich genau wie durch den ganzen Zug auch durch meinen ganzen Schlaf fortsetzt bis zum Erwachen. Dann höre ich ohne Erstaunen die Namen von Orten ausrufen, die ich nie zu passieren erwartet habe, wie diesmal Lindau, Konstanz, ich glaube auch Romanshorn und habe von ihnen weniger Gewinn, als wenn ich von ihnen nur geträumt hätte, im Gegenteil nur Störung. Erwache ich während der Fahrt, dann ist das Erwachen stärker, weil es wie gegen die Natur des Eisenbahnschlafes ist. Ich öffne die Augen und wende mich einen Augenblick zum Fenster. Viel sehe ich da nicht, und was ich sehe, ist mit dem nachlässigen Gedächtnis des Träumenden erfaßt. Doch möchte ich schwören, daß ich irgendwo im Würtembergischen, wie wenn ich auch dieses Würtembergische ausdrücklich erkannt hätte, um zwei Uhr in der Nacht einen Mann gesehen habe, der auf der Veranda seines Landhauses sich zum Geländer beugte. Hinter ihm war die Tür seines beleuchteten Schreibzimmers halb geöffnet, als sei er nur herausgekommen, um vor dem Schlaf noch den Kopf zu kühlen. ... In Lindau war im Bahnhof, aber auch während der Einfahrt und der Ausfahrt viel Gesang in der Nacht und weil man überhaupt in einer solchen Fahrt in der Nacht von Samstag auf Sonntag viel nächtliches Leben auf weiten Strecken, nur leicht im Schlaf beirrt, zusammenkehrt, scheint einem der Schlaf besonders tief und die Unruhe draußen besonders laut zu sein. Auch die Schaffner, die ich öfters an meiner getrübten Fensterscheibe vorüberlaufen sah, und die niemanden wecken, sondern nur ihre Pflicht erfüllen wollten, riefen in der Leere der Bahnhofsräume überlaut eine Silbe des Stationsnamens zu uns herein und weiterhin die andern. Dann lockte es meine Reisegenossen sich den Namen zusammenzusetzen oder sie erhoben sich, um durch die immer wieder abgewischte Scheibe den Namen selbst zu lesen; mein Kopf aber fiel schon zurück aufs Holz.

Wenn man aber schon einmal so gut im Fahren schlafen kann wie ich – Samuel durchsitzt die ganze Nacht mit offenen Augen, wie er behauptet – dann sollte man auch erst bei der Ankunft erwachen dürfen, um sich nicht im Augenblick des Aufwachens aus gesundem Schlaf mit fettigem Gesicht, nassem Körper, kreuz und quer gedrückten Haaren, in Wäsche und Kleidern, die 24 Stunden, ohne geputzt und gelüftet zu werden, im Eisenbahnstaub bestanden habend, in einen Winkel des Koupees gekrümmt zu finden und in diesem Zustand weiterfahren zu müssen. Hätte man jetzt die Kraft dazu, würde man den Schlaf verfluchen, so aber beneidet man nur im Stillen Leute, die wie Samuel, vielleicht nur weilchenweise geschlafen haben, aber dafür auch besser auf sich achten konnten, fast die ganze Fahrt mit Bewußtsein gemacht haben und die durch die Unterdrückung des Schlafes, dessen sie schließlich auch fähig gewesen wären, bei ununterbrochenem klarem Verstande geblieben sind. Ich war ja Samuel am Morgen ausgeliefert.

Wir standen nebeneinander beim Fenster, ich nur seinetwegen, und während er mir zeigte, was von der Schweiz zu sehen war und von dem erzählte, was ich verschlafen hatte, nickte ich und bewunderte, wie er wollte. Es ist noch ein Glück, daß er solche Zustände an mir entweder nicht merkt oder nicht richtig beurteilt, denn gerade zu solchen Zeiten ist er freundlicher zu mir, als dann, wenn ich es besser verdiene. Ernsthaft aber dachte ich damals nur an die Lippert. Ein wahres Urteil über neue kurze Bekanntschaften, besonders mit Frauen, kann ich mir ja nur schwer bilden. In der Zeit nämlich, in der die Bekanntschaft im Gange ist, beaufsichtige ich lieber mich selbst, weil da viel zu tun ist, und so habe ich auch an ihr nur einen lächerlichen Teil von dem bemerkt, was ich flüchtig und gleich verloren an ihr ahnte. In der Erinnerung wiederum nehmen diese Bekanntschaften sofort große anbetungswürdige Formen an, da sie dort stumm sind, nur ihrer eigenen Beschäftigung nachgehn und durch ihr völliges Vergessen unserer Person ihre Mißachtung unserer Bekanntschaft zeigen. Doch war noch ein anderer Grund, weshalb ich mich nach Dora, dem nächsten Mädchen meiner Erinnerung, so sehnte. Samuel genügte mir an diesem Morgen nicht. Er wollte als mein Freund eine Reise mit mir machen, aber das war nicht viel. Das bedeutete nur, daß ich an allen Tagen dieser Reise einen angezogenen Mann neben mir haben werde, dessen Körper ich nur im Bade sehen kann, ohne auch nach diesem Anblick das geringste Verlangen zu haben. Samuel würde ja schließlich meinen Kopf an seiner Brust dulden, wenn ich dort weinen wollte, aber können mir beim Anblick seines männlichen Gesichts, seines knapp wehenden Spitzbartes, seines zusammengeklappten Mundes – da höre ich schon auf – können mir denn ihm gegenüber die erlösenden Tränen in die Augen kommen?

(Fortsetzung folgt)

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Großer Lärm

[veröffentlicht 1912 in Herderblätter, Prag]

Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt, durch das Vorzimmer Wort für Wort rufend, ob des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt, wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem Singen einer Frauenstimme und schließt sich endlich mit einem dumpfen, männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.

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Aus Matlárháza

[veröffentlicht am 23.4.1921 in Karpathen-Post, Kesmark]

Aus Matlárháza. In Matlárháza ist gegenwärtig eine kleine Ausstellung von Tatra-Bildern von Anton Holub zu sehen, die lebhafte Aufmerksamkeit findet und verdient. Unter den Aquarellen scheinen uns jene aus abendlichen Stimmungen mit ihrem düsteren Ernst den Vorzug zu verdienen, während die Ansichten aus sonnigen Tagen bei aller Feinheit der Töne eine gewisse Erdenschwere noch nicht überwinden können. Vor allem aber gefallen die Federzeichnungen. Mit ihrem zarten Strich, ihrem perspektivischen Reiz, ihrer wohlbedachten bald holzschnittmäßigen, bald mehr der Radierung angenäherten Komposition sind es erstaunlich achtungswerte Leistungen. Gerade solche treue, dabei persönlich betonte Bilder sind mehr als alles andere imstande, den Blick für die Schönheit unserer Berge zu öffnen. Wir würden uns freuen, wenn von diesen Arbeiten bald eine größere und auch einem größeren Publikum zugängliche Ausstellung veranstaltet würde.

 

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Der Kübelreiter

[veröffentlicht am 25.12.1921 in Prager Presse, Prag]

Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel; sinnlos die Schaufel; Kälte atmend der Ofen; das Zimmer vollgeblasen von Frost; vor dem Fenster Bäume starr im Reif; der Himmel, ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will. Ich muß Kohle haben; ich darf doch nicht erfrieren; hinter mir der erbarmungslose Ofen, vor mir der Himmel ebenso; infolgedessen muß ich scharf zwischendurch reiten und in der Mitte beim Kohlenhändler Hilfe suchen. Gegen meine gewöhnlichen Bitten aber ist er schon abgestumpft; ich muß ihm ganz genau nachweisen, daß ich kein einziges Kohlenstäubchen mehr habe und daß er daher für mich geradezu die Sonne am Firmament bedeutet. Ich muß kommen, wie der Bettler, der röchelnd vor Hunger an der Türschwelle verenden will und dem deshalb die Herrschaftsköchin den Bodensatz des letzten Kaffees einzuflößen sich entscheidet; ebenso muß mir der Händler, wütend, aber unter dem Strahl des Gebotes „Du sollst nicht töten!“ eine Schaufel voll in den Kübel schleudern.

Meine Auffahrt schon muß es entscheiden; ich reite deshalb auf dem Kübel hin. Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kübel auf, prächtig, prächtig; Kameele, niedrig am Boden hingelagert, steigen, sich schüttelnd unter dem Stock des Führers, nicht schöner auf. Durch die fest gefrorene Gasse geht es in ebenmäßigem Trab; oft werde ich bis zur Höhe der ersten Stockwerke gehoben; niemals sinke ich bis zur Haustüre hinab. Und außergewöhnlich hoch schwebe ich vor dem Kellergewölbe des Händlers, in dem er tief unten an seinem Tischchen kauert und schreibt; um die übergroße Hitze abzulassen, hat er die Tür geöffnet.

„Kohlenhändler!“ rufe ich mit vor Kälte hohl gebrannter Stimme, in Rauchwolken des Atems gehüllt, „bitte Kohlenhändler, gib mir ein wenig Kohle. Mein Kübel ist schon so leer, daß ich auf ihm reiten kann. Sei so gut. Bis ich kann, bezahl ichs.“

Der Händler legt die Hand ans Ohr. „Hör ich recht?“ fragt er über die Schulter weg seine Frau, die auf der Ofenbank strickt, „hör ich recht? Eine Kundschaft.“

„Ich höre gar nichts“, sagt die Frau, ruhig aus- und einatmend über den Stricknadeln, wohlig im Rücken gewärmt.

„O ja“, rufe ich, „ich bin es; eine alte Kundschaft; treu ergeben; nur augenblicklich mittellos.“

„Frau“, sagt der Händler, „es ist, es ist jemand; so sehr kann ich mich doch nicht täuschen; eine alte, eine sehr alte Kundschaft muß es sein, die mir so zum Herzen zu sprechen weiß.“

„Was hast du, Mann?“ sagt die Frau und drückt, einen Augenblick ausruhend, die Handarbeit an die Brust, „niemand ist es; die Gasse ist leer; alle unsere Kundschaft ist versorgt; wir könnten für Tage das Geschäft sperren und ausruhn.“

„Aber ich sitze doch hier auf dem Kübel“, rufe ich und gefühllose Tränen der Kälte verschleiern mir die Augen, „bitte seht doch herauf; Ihr werdet mich gleich entdecken; um eine Schaufel voll bitte ich; und gebt Ihr zwei, macht Ihr mich überglücklich. Es ist doch schon alle übrige Kundschaft versorgt. Ach, hörte ich es doch schon in dem Kübel klappern!“

„Ich komme“, sagt der Händler und kurzbeinig will er die Kellertreppe emporsteigen, aber die Frau ist schon bei ihm, hält ihn beim Arm fest und sagt: „Du bleibst. Läßt du von deinem Eigensinn nicht ab, so gehe ich hinauf. Erinnere dich an deinen schweren Husten heute nachts. Aber für ein Geschäft und sei es auch ein eingebildetes, vergißt du Frau und Kind und opferst deine Lungen. Ich gehe.“ „Dann nenn ihm aber alle Sorten, die wir auf Lager haben; die Preise rufe ich dir nach.“ „Gut“, sagt die Frau und steigt zur Gasse auf. Natürlich sieht sie mich gleich.

„Frau Kohlenhändlerin“, rufe ich, „ergebenen Gruß; nur eine Schaufel Kohle; gleich hier in den Kübel; ich führe sie selbst nach Hause; eine Schaufel von der schlechtesten. Ich bezahle sie natürlich voll, aber nicht gleich, nicht gleich.“ Was für ein Glockenklang sind die zwei Worte „nicht gleich“ und wie sinnverwirrend mischen sie sich mit dem Abendläuten, das eben vom nahen Kirchturm zu hören ist.

„Was will er also haben?“ ruft der Händler. „Nichts“, ruft die Frau zurück, „es ist ja nichts; ich sehe nichts, ich höre nichts; nur sechs Uhr läutet es und wir schließen. Ungeheuer ist die Kälte; morgen werden wir wahrscheinlich doch viel Arbeit haben.“

Sie sieht nichts und hört nichts; aber dennoch löst sie das Schürzenband und versucht mich mit der Schürze fortzuwehen. Leider gelingt es. Alle Vorzüge eines guten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er; eine Frauenschürze jagt ihm die Beine vom Boden.

„Du Böse!“ rufe ich noch zurück, während sie, zum Geschäft sich wendend, halb verächtlich, halb befriedigt mit der Hand in die Luft schlägt, „du Böse! Um eine Schaufel von der schlechtesten habe ich gebeten und du hast sie mir nicht gegeben.“ Und damit steige ich in die Regionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nimmerwiedersehn.

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Der Verschollene

DER VERSCHOLLENE

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»» I Der Heizer

»» II Der Onkel

»» III Ein Landhaus bei New York

»» IV Der Marsch nach Ramses

»» V Im Hotel occidental

»» VI Der Fall Robinson

»» „Es mußte wohl eine entlegene …“

»» „‚Auf! Auf!‘ rief Robinson …“

»» Fragmente

»» Ausreise Bruneldas

»» „Karl sah an einer Straßenecke …“

»» „Sie fuhren zwei Tage …“

I
Der Heizer

Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

„So hoch“, sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war sagte im Vorübergehn: „Ja haben Sie denn noch keine Lust auszusteigen?“ „Ich bin doch fertig“, sagte Karl ihn anlachend und hob, aus Übermut und weil er ein starker Junge war, den Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er, daß er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte schnell die Situation um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhieng, und mußte sich seinen Weg durch eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend abbiegende Korridore, kurze Treppen, die einander aber immer wieder folgten, ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne wie einen Hauch das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschine merkte, fieng er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. „Es ist ja offen“, rief es von innen und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. „Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?“ fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp neben einander wie eingelagert standen. „Ich habe mich verirrt“, sagte Karl, „ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.“ „Ja da haben Sie recht“, sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf an dem Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen. „Aber kommen Sie doch herein“, sagte der Mann weiter, „Sie werden doch nicht draußen stehn.“ „Störe ich nicht?“ fragte Karl. „Ach wie werden Sie denn stören.“ „Sind Sie ein Deutscher?“ suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. „Bin ich, bin ich“, sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich herein. „Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut“, sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete. „Da lauft jeder vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten.“ „Aber der Gang ist doch ganz leer“, sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. „Ja jetzt“, sagte der Mann. „Es handelt sich doch um jetzt“, dachte Karl, „mit dem Mann ist schwer zu reden.“ „Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz“, sagte der Mann. Karl kroch so gut es gieng hinein und lachte dabei laut über den ersten vergeblichen Versuch sich herüber zu schwingen. Kaum war er aber drin, rief er: „Gotteswillen, ich habe ja ganz an meinen Koffer vergessen.“ „Wo ist er denn?“ „Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?“ Und er zog aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte. „Butterbaum, Franz Butterbaum.“ „Haben Sie den Koffer sehr nötig?“ „Natürlich.“ „Ja warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?“ „Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen ihn zu holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich auch noch verirrt.“ „Sie sind allein? Ohne Begleitung?“ „Ja, allein.“ Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten, gieng es Karl durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund. „Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich gar nicht“, und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. „Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren.“ „Glauben macht selig“, sagte der Mann und kratzte sich kräftig in seinem dunklen kurzen dichten Haar. „Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten, in Hamburg hätte Ihr Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich schon von beiden keine Spur mehr.“ „Da muß ich aber doch gleich hinaufschauen“, sagte Karl und sah sich um wie er herauskommen könnte. „Bleiben Sie nur“, sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust geradezu rauh ins Bett zurück. „Warum denn?“ fragte Karl ärgerlich. „Weil es keinen Sinn hat“, sagte der Mann. „In einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehn wir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und Sie können ihm nachweinen bis an das Ende Ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehn gelassen, dann werden wir ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch Ihren Regenschirm.“ „Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?“ fragte Karl mißtrauisch und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf dem leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken. „Ich bin doch Schiffsheizer“, sagte der Mann. „Sie sind Schiffsheizer“, rief Karl freudig, als überstiege das alle Erwartungen, und sah den Elbogen aufgestützt den Mann näher an. „Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowacken geschlafen habe, war eine Luke angebracht durch die man in den Maschinenraum sehen konnte.“ „Ja dort habe ich gearbeitet“, sagte der Heizer. „Ich habe mich immer so für Technik interessiert“, sagte Karl, der in einem bestimmten Gedankengang blieb, „und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.“ „Warum haben Sie denn fahren müssen?“ „Ach was!“ sagte Karl und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd den Heizer an, als bitte er ihn selbst für das nicht Eingestandene um seine Nachsicht. „Es wird schon einen Grund gehabt haben“, sagte der Heizer und man wußte nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder abwehren wolle. „Jetzt könnte ich auch Heizer werden“, sagte Karl, „meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgiltig was ich werde.“ „Meine Stelle wird frei“, sagte der Heizer, steckte im Vollbewußtsein dessen die Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen, lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu strecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken. „Sie verlassen das Schiff?“ „Jawoll, wir marschieren heute ab.“ „Warum denn? Gefällt es Ihnen nicht?“ „Ja, das sind so die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht mit Entschlossenheit daran Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht. Die amerikanischen Universitäten sind ja unvergleichlich besser.“ „Das ist ja möglich“, sagte Karl, „aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Ich habe zwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde. Aber dazu gehört doch eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem war ich gar kein besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich.“ „Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist gut. Dann sind Sie mein Mann. Sehn Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg Amerika Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff. Glauben Sie nicht“ – ihm gieng die Luft aus, er fackelte mit der Hand – „daß ich klage um zu klagen. Ich weiß daß Sie keinen Einfluß haben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg.“ Und er schlug auf den Tisch mehrmals hart mit der Faust und ließ kein Auge von ihr, während er schlug. „Ich habe doch schon auf so vielen Schiffen gedient“ – und er nannte zwanzig Namen hinter einander als sei es ein Wort, Karl wurde ganz wirr – „und habe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war ein Arbeiter nach dem Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf dem gleichen Handelssegler war ich einige Jahre“ – er erhob sich als sei das der Höhepunkt seines Lebens – „und hier auf diesem Kasten, wo alles nach der Schnur eingerichtet ist, wo kein Witz erfordert wird – hier taug ich nichts, hier steh ich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdiene herausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehn Sie das? Ich nicht.“ „Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen“, sagte Karl aufgeregt. Er hatte fast das Gefühl davon verloren, daß er auf dem unsichern Boden eines Schiffes an der Küste eines unbekannten Erdteils war, so heimisch war ihm hier auf dem Bett des Heizers zumute. „Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm Ihr Recht gesucht?“ „Ach gehn Sie, gehn Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn zum Kapitän gehn.“ Und müde setzte sich der Heizer wieder und legte das Gesicht in beide Hände. „Einen bessern Rat kann ich ihm nicht geben“, sagte sich Karl. Und er fand überhaupt, daß er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt hier Ratschläge zu geben die ja nur für dumm gehalten wurden. Als ihm der Vater den Koffer für immer übergeben hatte, hatte er im Scherz gefragt: Wie lange wirst du ihn haben? und jetzt war dieser teuere Koffer vielleicht schon im Ernst verloren. Der einzige Trost war noch, daß der Vater von seiner jetzigen Lage nicht das allergeringste erfahren konnte, selbst wenn er nachforschen sollte. Nur daß er bis Newyork gekommen war, konnte die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Karl daß er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatte er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt wo er es gerade am Beginn seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet aufzutreten, würde er im schmutzigen Hemd erscheinen müssen. Das waren schöne Aussichten. Sonst wäre der Verlust des Koffers nicht gar so arg gewesen, denn der Anzug, den er anhatte war sogar besser, als jener im Koffer, der eigentlich nur ein Notanzug war, den die Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen. Jetzt erinnerte er sich auch, daß im Koffer noch ein Stück Veroneser Salami war, die ihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte, von der er jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen können, da er während der Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die Suppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt hatte. Jetzt hätte er aber die Wurst gern bei der Hand gehabt, um sie dem Heizer zu verehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen wenn man ihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wußte Karl noch von seinem Vater her, welcher durch Cigarrenverteilung alle die niedrigern Angestellten gewann, mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt hatte Karl an Verschenkbarem noch sein Geld bei sich und das wollte er, wenn er schon vielleicht den Koffer verloren haben sollte, vorläufig nicht anrühren. Wieder kehrten seine Gedanken zum Koffer zurück und er konnte jetzt wirklich nicht einsehn, warum er den Koffer während der Fahrt so aufmerksam bewacht hatte, daß ihn die Wache fast den Schlaf gekostet hatte, wenn er jetzt diesen gleichen Koffer so leicht sich hatte wegnehmen lassen. Er erinnerte sich an die fünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowacken, der zwei Schlafstellen links von ihm lag, unausgesetzt im Verdacht gehabt hatte, daß er es auf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowacke hatte nur darauf gelauert, daß Karl endlich von Schwäche befallen für einen Augenblick einnicke, damit er den Koffer mit einer langen Stange, mit der er immer während des Tages spielte oder übte, zu sich hinüberziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowacke genug unschuldig aus, aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinem Lager und sah traurig zu Karls Koffer herüber. Karl konnte dies ganz deutlich erkennen, denn immer hatte hie und da jemand mit der Unruhe des Auswanderers ein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach der Schiffsordnung verboten war, und versuchte unverständliche Prospekte der Auswanderungsagenturen zu entziffern. War ein solches Licht in der Nähe, dann konnte Karl ein wenig eindämmern, war es aber in der Ferne oder war es dunkel, dann mußte er die Augen offenhalten. Diese Anstrengung hatte ihn recht erschöpft. Und nun war sie vielleicht ganz umsonst gewesen. Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte.

 

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