Franz Kafka: Sämtliche Werke

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III
Ein Landhaus bei New York

„Wir sind angekommen“, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung Newyorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen – das Gitter war schon geöffnet – ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme neben sich sagen: „Da ist ja endlich der Herr Jakob.“ „Ich heiße Roßmann“, sagte Karl und faßte die ihm hingereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte. „Er ist ja nur Jakobs Neffe“, sagte Herr Pollunder erklärend, „und heißt selbst Karl Roßmann.“ „Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hierzuhaben“, sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag. Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf das Haus zuschritt: „Sie sind das Fräulein Klara?“ „Ja“, sagte sie und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, „ich wollte mich aber hier in der Finsternis nicht vorstellen.“ Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet? dachte Karl, der im Gehen allmählich aufwachte. „Wir haben übrigens noch einen Gast heute abend“, sagte Klara. „Nicht möglich!“ rief Pollunder ärgerlich. „Herrn Green“, sagte Klara. „Wann ist er gekommen?“ fragte Karl wie in einer Ahnung befangen. „Vor einem Augenblick. Habt Ihr denn sein Automobil nicht vor dem Eueren gehört?“ Karl sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber der hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehn. „Es nützt nichts nur knapp außerhalb Newyorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht verschont. Wir werden unsern Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen müssen. Und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen ehe ich nachhause komme.“ Sie blieben an der Freitreppe stehn. „Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier“, sagte Klara, die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich heraus beruhigen wollte. „Warum kommt er dann gerade heute abend“, sagte Pollunder und die Rede rollte schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses schweres Fleisch leicht in große Bewegung kam. „Allerdings!“ sagte Klara. „Vielleicht wird er bald wieder weggehn“, bemerkte Karl und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand. „Oh nein“, sagte Klara, „er hat irgend ein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß gedroht, daß ich wenn ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen.“ „Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht“, rief Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. „Ich hätte wahrhaftig Lust“, sagte er und wurde freundlicher durch den neuen Gedanken, „ich hätte wahrhaftig Lust, Sie Herr Roßmann wieder ins Automobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört und wer weiß wann Sie uns nächstens Ihr Herr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.“ Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber Karl rührte sich nicht und Klara bat, ihn hierzulassen, denn zumindestens sie und Karl würden von Herrn Green nicht im geringsten gestört werden können und schließlich merkte auch Pollunder, daß selbst sein Entschluß nicht der festeste war. Überdies – und dies war vielleicht das Entscheidende – hörte man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: „Wo bleibt ihr denn?“ „Kommt“, sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm giengen Karl und Klara, die einander jetzt im Licht studierten. „Die roten Lippen die sie hat“, sagte sich Karl und dachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt hatten. „Nach dem Nachtmahl“, so sagte sie, „werden wir wenn es Ihnen recht ist gleich in meine Zimmer gehn, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muß. Und Sie werden dann so freundlich sein mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das treffen, ich aber bin leider ganz unfähig Musik auszuüben und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.“ Mit dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens – an Pollunders Größe hatte sich Karl eben schon gewöhnt – die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Manne den Herrn Pollunder heute abend irgendwie zu entlocken.

Herr Green empfieng sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn Pollunders Arm und schob Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch Karl, der beim Tische wartete, bis die andern sich setzten, daß die große Glastüre zum Garten hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein wie in eine Gartenlaube, da machte sich gerade Herr Green unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles so jugendlich rasch, daß der herbeieilende Diener nichts mehr zu tun fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke des Staunens darüber, daß Karl die Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem andern hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn Pollunder warum er so staune und wie der Onkel über Karl wache und wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als daß man sie noch die Liebe eines Onkels nennen könne. „Nicht genug, daß er sich hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen mich und den Onkel ein“, dachte Karl und konnte keinen Schluck der goldfarbigen Suppe hinunterbringen. Dann wollte er sich aber wieder nicht anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte und begann die Suppe stumm in sich hineinzuschütten. Das Essen vergieng langsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunder verfieng sich nur einigemal in die Unterhaltung, wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen anfieng. Doch zog er sich auch von solchen Gesprächen bald zurück und Herr Green mußte ihn nach einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens Gewicht darauf – und da war es, daß Karl, der aufhorchte, als drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war – daß er von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch gesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens das Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für morgen oder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich noch lange vor Geschäftsschluß bei Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen, so daß er gezwungen gewesen sei, nachhause zu telephonieren, daß er über Nacht ausbleibe, und heraus zu fahren. „Dann muß ich um Entschuldigung bitten“, sagte Karl laut und ehe jemand Zeit zur Antwort hatte, „denn ich bin daran schuld, daß Herr Pollunder sein Geschäft heute früher verließ und es tut mir sehr leid.“ Herr Pollunder bedeckte den größern Teil seines Gesichtes mit der Serviette, während Klara Karl zwar anlächelte, doch war es kein teilnehmendes Lächeln sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen sollte. „Da braucht es keine Entschuldigung“, sagte Herr Green der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, „ganz im Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl allein zuhause einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist, daß ihr schon der Weg von der Tür zu meinen Tisch schwer fällt und ich mich für lange in meinem Sessel zurücklehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor Kurzem habe ich durchgesetzt, daß der Diener die Speisen bis zur Tür des Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch gehört ihr, soweit ich sie verstehe.“ „Mein Gott“, rief Klara, „ist das eine Treue!“ „Ja es giebt noch Treue auf der Welt“, sagte Herr Green und führte einen Bissen in den Mund, wo die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf. Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen Händen. „Sie müssen noch sitzen bleiben“, sagte Klara. Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: „Wir werden bald zusammen verschwinden. Haben Sie Geduld.“ Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei es Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Karl zu beruhigen, wenn er ihm Übelkeiten verursachte.

Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen, es bekam wirklich den Anschein, als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während Karl versucht war ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller aufzusehn, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. Herr Pollunder nahm Karls Appetit in Schutz, trotzdem er als Gastgeber Karl auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte sich Karl durch den Zwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, daß er gegen die eigene bessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem seinem Zustand, daß er einmal ganz unpassend rasch und viel aß und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und der unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die Speisen reichte, oft nichts anzufangen wußte.

 

„Ich werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr Nichtessen gekränkt haben“, sagte Herr Green und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch die Art, wie er mit dem Besteck hantierte auszudrücken. „Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist“, fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehn und schloß die Augen. „Du Dingschen“, rief er, lehnte sich zurück und lachte hochrot im Gesicht mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte sich Karl das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich Wichtige. Er zog Karls Sessel nicht näher zu sich und wenn er einmal sprach so sprach er zu allen, aber zu Karl hatte er nichts besonderes zu reden. Dagegen duldete er, daß Green, dieser alte ausgepichte Newyorker Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara berührte, daß er Karl, Pollunders Gast, beleidigte oder wenigstens als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten sich stärkte und vordrang.

Nach Aufhebung der Tafel – als Green die allgemeine Stimmung merkte, war er der erste der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob – gieng Karl allein abseits zu einem der großen durch schmale weiße Leisten geteilten Fenster, die zur Terasse führten und die eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen waren. Was war von der Abneigung übrig geblieben, die Herr Pollunder und seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals Karl etwas unverständlich vorgekommen war. Jetzt standen sie mit Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens Cigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der der Vater zuhause hie und da als von einer Tatsache zu erzählen pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluß auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. Soweit entfernt Karl auch stand, noch er spürte von dem Rauch einen Kitzel in der Nase und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehr für ausgeschlossen, daß ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Karls bei diesem Besuch wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm nicht, trotzdem er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt hatte. Seitdem sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war er sogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals gesehn, kleine Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch lag Karl gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder wenn der Chauffeur schon schlief, nach Newyork allein hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann und draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben, schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor – und zum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl – wie er am Morgen – früher dürfte er kaum zufuß nachhause kommen – den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wußte auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und auf das förmliche „Herein!“ ins Zimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich vielleicht noch nicht viel, aber man mußte nur ausdenken, was das zur Folge haben konnte! Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen Einrichtung werden, vielleicht würden sie in Folge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bisher bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich auch offener mit einander reden können. Es lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder besser starrköpfig gewesen war. Und wenn er auch heute über Nacht hierbleiben mußte – es sah leider ganz darnach aus, trotzdem man ihn hier beim Fenster stehn und auf eigene Faust sich unterhalten ließ – vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Bessern in dem Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute abend ähnliche Gedanken.

Ein wenig getröstet wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: „Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen.“ Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefüllten Getränken, die Karl unbekannt waren und die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Elbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn Pollunder möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sich Green, trotzdem man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für sich, und Green für sich solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines von beiden herstellen. „Wenn er das meint“, sagte sich Karl, „dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm und er soll mich auch in Ruhe lassen.“ Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger gieng er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaft jener mit beiden Händen umschlossen hielt. „Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt“, erklärte Klara. „Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauft und es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt.“ „Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser“, sagte Karl. „Natürlich“, sagte Klara lachend und zog ihn weiter. „Sie haben merkwürdige Begriffe von Amerika.“ „Sie sollen mich nicht auslachen“, sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.

Im Vorübergehn stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte ohne anzuhalten: „Hier werden Sie schlafen.“ Karl wollte natürlich das Zimmer sich gleich anschauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich meinte Karl, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riß sich los und trat in das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Karl bedauerte die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines Newyorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonst war es still.

Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich bös rief sie: „Was soll denn das?“ und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten, bis sie höflicher war. Aber sie gieng mit großen Schritten auf ihn zu, rief: „Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?“ und stieß ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derartig an die Brust, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick vom Fensterbrett gleitend mit den Füßen den Zimmerboden berührt. „Jetzt wäre ich bald herausgefallen“, sagte er vorwurfsvoll. „Schade daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig. Ich stoße Sie noch einmal hinunter.“ Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der verblüfft sich zuerst schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte nun sie. „Ach Sie tun mir weh“, sagte sie gleich. Aber nun glaubte sie Karl nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht sie in ihrem engen Kleid zu umfassen. „Lassen Sie mich“, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußte sich anstrengen sie zu sehn, so nahe war sie ihm, „lassen Sie mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.“ „Warum seufzt sie so“, dachte Karl, „es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht“, und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich nach einem Augenblick unachtsamen schweigenden Dastehns fühlte er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib und sie hatte sich ihm entwunden, faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich mit großartiger Regelmäßigkeit Athem holend gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinabzubeugen: „Jetzt rühr Dich wenn Du kannst.“ „Katze, tolle Katze“, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er sich befand. „Du bist ja wahnsinnig, Du tolle Katze.“ „Gib acht auf Deine Worte“, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfieng, daß Karl ganz unfähig war, etwas anderes zu tun, als Luft zu schnappen, während sie mit der andern Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder undzwar immer weiter in die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfahren lassen konnte. „Wie wäre es“, fragte sie dabei, „wenn ich Dich zur Strafe für Dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nachhause schicken wollte. Vielleicht wäre es Dir nützlich für Deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein erträglich hübscher Junge und hättest Du Jiu-Jitsu gelernt, hättest Du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem – es verlockt mich geradezu riesig Dich zu ohrfeigen so wie Du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern, wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis Dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist Du ein Ehrenmann – ich möchte es fast glauben – und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und Dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist Du auch so gegen mich gewesen. Gefalle ich Dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! jetzt hätte ich Dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn Du heute also noch so loskommen solltest, benimm Dich nächstens feiner. Ich bin nicht Dein Onkel, mit dem Du trotzen kannst. Im übrigen will ich Dich noch darauf aufmerksam machen, daß wenn ich Dich ungeohrfeigt loslasse Du nicht glauben mußt, daß Deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche sind, solltest Du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn, Dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle.“ Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.

 

Sie forderte ihn auf aufzustehn, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den Kopf auf Sophapolster aufgestützt, so wie ihn Klara gebettet hatte, und wendete ihn nicht einen Fingerbreit. Klara gieng im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehn. „Ausgetrotzt?“ hörte man sie dann fragen. Karl empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen herum, blieb stehn und redete und er hatte sie doch so unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fortgehn war sein einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, sondern nur hier auf dem Kanapee bleiben. Er lauerte nur darauf daß sie weggienge, um hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln und dann wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches Bedürfnis sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm vor den Augen, ohne daß er recht wußte, was es war.

Klara trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke und hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen. „Ich gehe jetzt“, sagte sie. „Vielleicht bekommst Du später Lust zu mir zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher Du dann kommst ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf Dich warten, aber wenn Du kommen willst so komm. Erinnere Dich, daß Du versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe ich Dich ganz entnervt und Du kannst Dich nicht mehr rühren, dann bleib und schlaf Dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daß Dir das Sorge machen sollte.“ Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.

Sofort setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen, gieng er zur Tür und sah auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte, und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluß war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu gehn, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte – am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts – und mit dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nachhause fahren oder gehn zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Karl wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen zu lassen. In dieser Weise, wie sie Karl plante gieng man zwar sonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener gieng man mit einem Gaste derartig um wie es Klara getan hatte. Sie hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit gehalten, das war aber schon himmelschreiend. Ja war denn Karl zu einem Ringkampf eingeladen worden, so daß es für ihn beschämend gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von Ringkämpferkniffen verbracht hatte. Am Ende hatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen, der war sicher einsichtig, das wußte Karl, trotzdem er niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im einzelnen zu erfahren. Karl wußte aber auch, daß wenn Mack ihn unterrichten würde, er noch viel größere Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages wieder hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleiche Klara und klopfte mit ihr das gleiche Kanapee aus, auf das sie ihn heute geworfen hatte.

Jetzt handelte es sich nur darum den Weg zum Saal zurückzufinden, wo er ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht leicht sich auszukennen. Er wußte z. B. nicht einmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene, wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem Herweg immer so gezogen, daß er sich gar nicht hatte umsehn können, Herr Green und die Leuchter tragenden Diener hatten ihm auch zu denken gegeben, kurz, er wußte jetzt tatsächlich nicht einmal ob sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten. Nach der Aussicht zu schließen lag das Zimmer ziemlich hoch und er suchte sich deshalb einzubilden, daß sie über Treppen gekommen waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht sein. Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu hören gewesen wäre.

Seine Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels zeigte elf Uhr, er nahm die Kerze und gieng auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für den Fall daß sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wiederzufinden und danach für den äußersten Notfall die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe nicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gange zeigte sich der Übelstand, daß gegen Karl – er gieng natürlich von Klaras Türe weg nach links zu – ein Luftzug strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte auslöschen können, so daß Karl die Flamme mit der Hand schützen und überdies öfters stehen bleiben mußte, damit die niedergedrückte Flamme sich erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen und der Weg schien dadurch doppelt lang. Karl war schon an großen Strecken der Wände vorübergekommen, die gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen was dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er versuchte mehrere zu öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen und Karl dachte an die östlichen Newyorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Türe schlug. Herr Pollunder schien Karl irregeführt zu sein von falschen Freunden, und vernarrt in seine Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig beurteilt und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Karls keinen Einfluß zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungen auf den Gängen. Karl wollte das morgen dem Onkel ohne weiters sagen, denn nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Karl an seinem Onkel nicht gefiel und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.

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