Franz Kafka: Sämtliche Werke

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Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseite auf und ein eiskaltes marmornes Geländer trat an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugte sich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte ihm entgegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war – im Schimmer der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke – warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur dieser große tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Gallerie einer Kirche. Karl bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Hause bleiben zu können, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall herumführen und über alles unterrichten lassen.

Das Geländer war übrigens nicht lang und bald wurde Karl wieder vom geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer und nur die ununterbrochene Sorgfalt mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Karl schon daran, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde und hoffte schon, die offene Türe seines Zimmers vielleicht wieder zu finden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hatte sich Karl von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein, daß es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war und machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des Ganges ein lautes Halloh zu schreien, als er in der Richtung aus der er gekommen war, ein kleines sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen, das Haus war eine Festung, keine Villa. Karls Freude über dieses rettende Licht war so groß, daß er alle Vorsicht vergaß, und darauf zulief, schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.

„Wer sind Sie?“ fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht, wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas steif durch einen großen weißen Vollbart der erst auf der Brust in seidenartige Ringel ausgieng. Es muß ein treuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes erlaubt, dachte Karl und sah diesen Bart unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, daß er selbst beobachtet wurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne. „Ach so“, sagte der Diener, „wir haben das elektrische Licht noch nicht eingeführt.“ „Ich weiß“, sagte Karl. „Wollen Sie sich nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?“ fragte der Diener. „Bitte“, sagte Karl und tat es. „Es zieht hier so auf den Gängen“, sagte der Diener, „die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne.“ „Ja eine Laterne ist viel praktischer“, sagte Karl. „Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft“, sagte der Diener und leuchtete mit der Kerze Karls Anzug ab. „Das habe ich ja gar nicht bemerkt“, rief Karl und es tat ihm sehr leid, da es ein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zu reinigen so gut es in der Eile gieng; immer wieder drehte sich Karl vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen Flecken, den der Diener folgsam entfernte. „Warum zieht es denn hier eigentlich so?“ fragte Karl, als sie schon weitergiengen. „Es ist hier eben noch viel zu bauen“, sagte der Diener, „man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt sind da paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand vermauert und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehn.“ „Da muß ich wohl lauter reden?“ fragte Karl. „Nein, Sie haben eine klare Stimme“, sagte der Diener. „Aber um auf diesen Bau zurückzukommen, besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muß, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten.“ „Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt geht also in eine Kapelle hinaus?“ „Ja.“ „Das habe ich mir gleich gedacht“, sagte Karl. „Sie ist sehr sehenswert“, sagte der Diener, „wäre sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft.“ „Herr Mack?“ fragte Karl, „ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder.“ „Allerdings“, sagte der Diener, „aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?“ „O ja“, sagte Karl. „Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?“ „Er ist der Bräutigam des Fräuleins“, sagte der Diener. „Das wußte ich freilich nicht“, sagte Karl und blieb stehn. „Setzt Sie das in solches Erstaunen?“ fragte der Diener. „Ich will es nur mir zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler machen“, antwortete Karl. „Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichts gesagt hat“, sagte der Diener. „Ja wirklich“, sagte Karl beschämt. „Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es“, sagte der Diener, „es ist ja keine Neuigkeit. Hier sind wir übrigens“, und er öffnete eine Tür, hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers führte. Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: „Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier auszukennen.“ „Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückgehn“, sagte Karl und wußte nicht warum er bei dieser Auskunft traurig wurde. „Es wird nicht so arg sein“, sagte der Diener ein wenig überlegen lächelnd und klopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahin erklärt, daß Karl beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karl wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die andern hiesigen Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen und sagte deshalb: „Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich eine große Freundlichkeit von Ihnen und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, daß mir Ihre Hilfe noch nötig sein wird.“ „Gut“, sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses zusammenhieng, „ich werde also hier warten.“ „Die Kerze können Sie auch bei mir lassen“, sagte der Diener noch, als Karl mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte. „Ich bin aber zerstreut“, sagte Karl und reichte die Kerze dem Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne daß man wußte, ob er es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinen Bart strich.

Karl öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand aus einer einzigen Glasplatte die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehn, merkte er noch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die Türe schloß. „Verzeihen Sie daß ich störe“, sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zu sehn, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hut unangenehmer Weise irgendwie in die Küche fortgetragen worden. „Wo haben Sie denn Klara gelassen?“ fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen. „Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht mißverstehen dürfen“, sagte Karl, gieng eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. „Was soll denn das für eine Bitte sein?“ fragte Herr Pollunder und sah Karl mit offenem rückhaltlosem Blicke an. „Sie ist natürlich schon erfüllt.“ Und er legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich zwischen seine Beine. Karl duldete das gerne, trotzdem er sich im allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger. „Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?“ fragte Herr Pollunder. „Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf dem Lande sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herkommt. Im allgemeinen“ – und ein nicht mißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick gieng auf Herrn Green – „im allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend.“ „Er spricht“, dachte Karl, „als wüßte er nicht von dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall.“ „Nun!“ sagte Herr Pollunder. „Die Bitte!“ und er schüttelte Karl freundschaftlich, der stumm dastand. „Ich bitte“, sagte Karl und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, daß der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders aufgefaßt werden konnte, so gern verschwiegen hätte – „ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nachhause.“ Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere umso schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. „Ich möchte um alles gerne nachhause. Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie Herr Pollunder sind, dort bin ich auch gerne. Nur heute kann ich nicht hier bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles was er tut, und ich habe es mir herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, daß nichts in diesen Bedenken war, was Sie Herr Pollunder kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im Entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig – und vor allem andern soll mich Gott bewahren – verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht und das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiterstudiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus und man hat zum Schluß eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden, manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles was ich wissen könnte für Amerika noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hie und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt, als ich aus der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht ahnen was für ein Unglück über mich kommen wird und wie ich das Englische brauchen werde, und zweitens mußte ich für das Gymnasium viel lernen, so daß ich für andere Beschäftigungen nicht besonders viel Zeit hatte. – Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und darum muß ich, um den Fehler den ich ihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wieder gut zu machen, sofort nachhause gehn.“ Während dieser langen Rede Karls hatte Herr Pollunder aufmerksam zugehört, öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Karl wenn auch unmerklich an sich gedrückt und einigemale ernst und wie erwartungsvoll zu Green hinübergesehn, der sich weiterhin mit seiner Brieftasche beschäftigte. Karl aber war, je deutlicher ihm seine Stellung zum Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewußtsein kam, immer unruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem Arm Pollunders zu drängen gesucht, alles beengte ihn hier, der Weg zum Onkel durch die Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße, einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet dalag und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders Güte und Herrn Greens Abscheulichkeit verschwammen und er wollte aus diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben als die Erlaubnis zum Abschiednehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn Pollunder abgeschlossen, gegen Herrn Green kampfbereit und doch erfüllte ihn ringsherum eine unbestimmte Furcht, deren Stöße seine Augen trübten.

 

Er trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn Pollunder und von Herrn Green entfernt. „Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?“ fragte Herr Pollunder Herrn Green und faßte wie bittend Herrn Greens Hand. „Ich wüßte nichts, was ich ihm sagen sollte?“ sagte Herr Green, der endlich einen Brief aus seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. „Es ist recht lobenswert, daß er zu seinem Onkel zurückkehren will und nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, daß er dem Onkel eine besondere Freude damit machen wird. Es müßte denn sein, daß er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat, was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe hier. Es ist eben schwer etwas bestimmtes zu sagen, wir sind zwar beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen zwischen meiner und Herrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber in das Innere des Onkels können wir nicht hineinschauen und ganz besonders nicht über die vielen Kilometer hinweg, die uns hier von New York trennen.“ „Bitte Herr Green“, sagte Karl und näherte sich mit Selbstüberwindung Herrn Green, „ich höre aus Ihren Worten heraus, daß Sie es auch für das Beste halten, wenn ich gleich zurückkehre.“ „Das habe ich durchaus nicht gesagt“, meinte Herr Green und vertiefte sich in das Anschauen des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und her fuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, daß er von Herrn Pollunder gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Karl eigentlich nichts zu tun habe.

Inzwischen war Herr Pollunder zu Karl getreten und hatte ihn sanft von Herrn Green weg zu einem der großen Fenster gezogen. „Lieber Herr Roßmann“, sagte er zu Karls Ohr herabgebeugt und wischte zur Vorbereitung mit dem Taschentuch über sein Gesicht und bei der Nase innehaltend schneuzte er, „Sie werden doch nicht glauben, daß ich Sie gegen Ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage, da ich noch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine eigene Garage einzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich selbst nicht wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht jetzt zuhause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aber das alles wären keine Hindernisse für Ihre augenblickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehn, begleite ich Sie sofort zur nächsten Station der Stadtbahn, die allerdings so weit entfernt ist, daß Sie nicht viel früher zuhause ankommen dürften, als wenn Sie früh – wir fahren ja schon um sieben Uhr – mit mir in meinem Automobil fahren wollen.“ „Da möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren“, sagte Karl. „An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie sagen selbst daß ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als früh mit dem Automobil.“ „Es ist aber ein ganz kleiner Unterschied.“ „Trotzdem, trotzdem Herr Pollunder“, sagte Karl, „ich werde in Erinnerung an Ihre Freundlichkeit immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich daß Sie mich nach meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde ich es nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig ist.“ Und als hätte er bereits die Erlaubnis zum Weggehn erhalten, fügte er hinzu: „Aber keinesfalls dürfen Sie mich begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein Diener der mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muß ich nur noch meinen Hut suchen.“ Und bei den letzten Worten durchschritt er schon das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob sein Hut doch vielleicht zu finden wäre. „Könnte ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushelfen“, sagte Herr Green und zog eine Mütze aus der Tasche, „vielleicht paßt sie Ihnen zufällig.“ Verblüfft blieb Karl stehn und sagte: „Ich werde Ihnen doch nicht Ihre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem Kopf gehn. Ich brauche gar nichts.“ „Es ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!“ „Dann danke ich“, sagte Karl um sich nicht aufzuhalten und nahm die Mütze. Er zog sie an und lachte zuerst, da sie ganz genau paßte, nahm sie wieder in die Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere das er an ihr suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze. „Sie paßt so gut!“ sagte er. „Also sie paßt!“ rief Herr Green und schlug auf den Tisch.

Karl gieng schon zur Tür zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr Green, streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopfte stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl: „Ehe Sie weggehn müssen Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen.“ „Das müssen Sie“, sagte auch Herr Pollunder der ebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte man es an, daß die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ er die Hände an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock auf und zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu den Hüften gieng, was so dicke Leute wie Herrn Pollunder schlecht kleidete. Übrigens hatte man, wenn er so neben Herrn Green stand, den deutlichen Eindruck, daß es bei Herrn Pollunder keine gesunde Dicke war, der Rücken war in seiner ganzen Masse etwas gekrümmt, der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und das Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green, vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber es war eine zusammenhängende, einander gegenseitig tragende Dicke, die Füße waren soldatisch zusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht und schaukelnd, er schien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein.

„Gehen Sie also vorerst“, fuhr Herr Green fort, „zu Fräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und paßt auch sehr gut in meine Zeiteinteilung. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich ehe Sie von hier fortgehn etwas Interessantes zu sagen, was wahrscheinlich auch für Ihre Rückkehr entscheidend sein kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor Mitternacht nichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, daß mir das selbst leid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich halte mich an meinen Auftrag. Jetzt ist viertel zwölf, ich kann also meine Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei Ihre Gegenwart nur stören würde und Sie können ein hübsches Weilchen mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf Uhr stellen Sie sich dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren werden.“

Konnte Karl diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das Geringste an Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangte und die überdies ein sonst unbeteiligter roher Mann stellte, während Herr Pollunder, den es angieng, sich mit Worten und Blicken möglichst zurückhielt? Und was war jenes Interessante, das er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht wenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, um die es sie jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Aber sein größter Zweifel war, ob er überhaupt zu Klara gehn konnte, die doch seine Feindin war. Wenn er wenigstens das Schlageisen bei sich gehabt hätte, das ihm sein Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Das Zimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun war es ja ganz und gar unmöglich, hier gegen Klara das geringste zu sagen, da sie Pollunders Tochter und wie er jetzt gehört hatte gar Macks Braut war. Sie hätte ja nur um eine Kleinigkeit anders sich zu ihm verhalten müssen und er hätte sie wegen ihrer Beziehungen offen bewundert. Noch überlegte er das alles, aber schon merkte er, daß man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn Green öffnete die Tür und sagte zum Diener, der vom Postamente sprang: „Führen Sie diesen jungen Mann zu Fräulein Klara.“

 

„So führt man Befehle aus“, dachte Karl als ihn der Diener fast laufend, stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen Weg zu Klaras Zimmer zog. Als Karl an seinem Zimmer vorüber kam, dessen Tür noch immer offenstand, wollte er, vielleicht zu seiner Beruhigung, für einen Augenblick eintreten. Der Diener ließ das aber nicht zu. „Nein“, sagte er, „Sie müssen zu Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört.“ „Ich würde mich nur einen Augenblick drin aufhalten“, sagte Karl und er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee zu werfen, damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke. „Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht“, sagte der Diener. „Er scheint es für eine Strafe zu halten, daß ich zu Fräulein Klara gehn muß“, dachte Karl und machte ein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehn. „Kommen Sie doch junger Herr“, sagte der Diener, „wenn Sie nun schon einmal hier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weggehn, es geht eben nicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß es kaum möglich sein wird.“ „Ja, ich will weggehn und werde auch weggehn“, sagte Karl, „und will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen.“ „So“, sagte der Diener und Karl sah ihm wohl an, daß er kein Wort davon glaubte, „warum zögern Sie also Abschied zu nehmen, kommen Sie doch.“

„Wer ist auf dem Gang?“ ertönte Klaras Stimme und man sah sie aus einer nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung, Karl gieng ihm langsam nach. „Sie kommen spät“, sagte Klara. Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Karl zum Diener leise, aber, da er seine Natur schon kannte, im Ton strengen Befehles: „Sie warten auf mich knapp vor dieser Tür!“ „Ich wollte schon schlafen gehn“, sagte Klara und stellte die Lampe auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloß auch hier wieder der Diener vorsichtig von außen die Tür. „Es ist ja schon halb zwölf vorüber.“ „Halb zwölf vorüber“, wiederholte Karl fragend, wie erschrocken über diese Zahlen.

„Dann muß ich mich aber sofort verabschieden“, sagte Karl, „denn punkt zwölf muß ich schon unten im Speisesaal sein.“ „Was Sie für eilige Geschäfte haben“, sagte Klara und ordnete zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides, ihr Gesicht glühte und immerfort lächelte sie. Karl glaubte zu erkennen, daß keine Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. „Könnten Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern Papa und heute Sie selbst versprochen haben?“ „Ist nicht aber schon zu spät?“ fragte Karl. Er hätte ihr gern gefällig sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie irgendwie aufgestiegen in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks. „Ja spät ist es schon“, sagte sie und es schien ihr die Lust zur Musik schon vergangen zu sein. „Dann wiederhallt hier auch jeder Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in den Dachkammern die Dienerschaft auf.“ „Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen, übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal meinen Onkel und schauen bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben können, wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich engagieren – Sie können sich denken wie ich mich darauf freue – und dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben Sie daß ich mich verabschiede, schließlich ist ja doch schon Schlafenszeit.“ Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die Hand reichte: „In meiner Heimat pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß.“

„Warten Sie“, sagte sie, ohne seine Hand anzunehmen, „vielleicht sollten Sie doch spielen.“ Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der das Piano stand. „Was ist denn?“ dachte Karl, „lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch ist.“ Es klopfte an die Gangtüre und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: „Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr warten.“ „Gehen Sie nur“, sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden, „lassen Sie mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?“ „Bald dreiviertel zwölf“, sagte der Diener. „Wie langsam die Zeit vergeht“, sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche – er trug jetzt immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose klingelnd in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche – und reichte ihn dem Diener mit den Worten: „Für Ihre guten Dienste.“

Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es Karl einfiel, daß er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehn. „Ich bitte Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik, daß man sich keine Gelegenheit sie zu hören, entgehen lassen will.“ „Dann ist aber höchste Zeit“, sagte Karl ohne weitere Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. „Wollen Sie Noten haben?“ fragte Klara. „Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen“, antwortete Karl und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das wie Karl wohl wußte ziemlich langsam hätte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und rührte sich nicht. „Ganz schön“, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Karl nach diesem Spiel hätte schmeicheln können. „Wie spät ist es?“ fragte er. „Dreiviertel zwölf.“ „Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit“, sagte er und dachte bei sich: „Entweder oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen.“ Und er fieng sein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörers sich nach der nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er mußte ja tatsächlich wie bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte. „Ich kann ja nichts“, sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an.

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