Franz Kafka: Sämtliche Werke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl erblickt, sagte er: „Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat dringend braucht.“ „Hier ist er“, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsichern Stimme. Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wie sie es vor fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: „Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden andern Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier auf der Lehne ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen.“ „Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen“, sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sie ohne weiters mitnehmen werde. „Für diesen Fall“, sagte der Kellner, „habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu tragen.“ „Dann warten Sie bitte noch einen Augenblick“, sagte Karl und bückte sich um die paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.



Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographie fehlte, sie hatte ganz oben im Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Photographie fehlte. „Ich kann die Photographie nicht finden“, sagte er bittend zu Delamarche. „Was für eine Photographie?“ fragte dieser. „Die Photographie meiner Eltern“, sagte Karl. „Wir haben keine Photographie gesehn“, sagte Delamarche. „Es war keine Photographie drin, Herr Roßmann“, bestätigte auch Robinson von seiner Seite. „Aber das ist doch unmöglich“, sagte Karl und seine Hilfe suchenden Blicke zogen den Kellner näher. „Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten.“ „Jeder Irrtum ist ausgeschlossen“, sagte Delamarche, „in dem Koffer war keine Photographie.“ „Sie war mir wichtiger, als alles was ich sonst im Koffer habe“, sagte Karl zum Kellner, der herumgieng und im Grase suchte. „Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite.“ Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: „Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.“ Daraufhin sagte der Kellner laut ohne jede Beschönigung: „Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.“ „Ja“, sagte Karl sofort, „ich muß die Photographie finden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, daß, wer mir die Photographie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt.“ Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum Kellner: „Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die Photographie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht tun.“ Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihm schwieriger zu behandeln schien, als Robinson, den er Karl überließ. Er machte Karl darauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig untersucht werden müßten, da sonst einer unbeobachtet die Photographie beiseite schaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Karl in Robinsons Tasche eine ihm gehörige Kravatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner zu: „Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm bitte alles. Ich will nichts als die Photographie, nur die Photographie.“ Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit der Hand an die heiße fettige Brust Robinsons und da kam es ihm zu Bewußtsein, daß er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im übrigen war alles umsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Photographie vor.



„Es hilft nichts“, sagte der Kellner. „Sie haben wahrscheinlich die Photographie zerrissen und die Stücke weggeworfen“, sagte Karl, „ich dachte sie wären meine Freunde, aber im Geheimen wollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den Einfall gekommen, daß die Photographie solchen Wert für mich hat, aber desto mehr Delamarche.“ Karl sah nur den Kellner vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.



Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, daß die beiden in das Hotel mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Karl nahm den Strohkorb und sie giengen. Karl war schon auf der Straße, als er im Nachdenken sich unterbrechend stehen blieb und in das Dunkel hinaufrief: „Hören Sie einmal! Sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen – er bekommt den Koffer noch immer und wird – ich schwöre es – nicht angezeigt.“ Es kam keine eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines Zurufes Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile wartete Karl ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen: „Ich bin noch immer da.“ Aber kein Laut antwortete, nur einmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem verfehlten Wurf.







V

 Im Hotel occidental



Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Bureau geführt, in welchem die Oberköchin ein Vormerkbuch in der Hand einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präcise Diktieren, der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf Uhr zeigte. „So!“ sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karl zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln z. B. gewellt, die Frisur recht hoch und man staunte ein wenig wenn man nach diesen Einzelnheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Karl entfernte sie sich und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.



„Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommen sind“, sagte die Oberköchin. „Und Ihre Kameraden?“ „Ich habe sie nicht mitgenommen“, sagte Karl. „Die marschieren wohl sehr früh aus“, sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären. „Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmarschiere?“ fragte sich Karl und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: „Wir sind in Unfrieden aus einander gegangen.“ Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. „Dann sind Sie also frei?“ fragte sie. „Ja frei bin ich“, sagte Karl und nichts schien ihm wertloser. „Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?“ fragte die Oberköchin. „Sehr gern“, sagte Karl, „ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann z. B. nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.“ „Das ist nicht das wichtigste“, sagte die Oberköchin. „Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehn, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für Sie besser und passender wäre sich irgendwo festzusetzen statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.“ „Das würde alles auch der Onkel unterschreiben“, sagte sich Karl und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er, „daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.“ „Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Karl, „ich bin noch nicht lange in Amerika.“ „Von wo sind Sie denn?“ „Aus Prag in Böhmen“, sagte Karl. „Sehn Sie einmal an“, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, „dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal!“ „Wann ist das gewesen?“ fragte Karl. „Das ist schon viele viele Jahre her.“ „Die alte Goldene Gans“, sagte Karl, „ist vor zwei Jahren niedergerissen worden.“ „Ja, freilich“, sagte die Oberköchin ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.



Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend rief sie und faßte dabei Karls Hände: „Jetzt da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z. B. Lust Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen daß es nicht besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, man gibt Ihnen kleine Aufträge, kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles übrige lassen Sie mich sorgen!“ „Liftjunge möchte ich ganz gerne sein“, sagte Karl nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die Liftjungen Karl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck der Hotels vorgekommen. „Sind nicht Sprachenkenntnisse erforderlich?“ fragte er noch. „Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.“ „Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt“, sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. „Das spricht schon genügend für Sie“, sagte die Oberköchin. „Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag.“ Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Karls Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte. „Dann wünsche ich Ihnen viel Glück“, sagte Karl. „Das kann man immer brauchen“, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.

 



„Aber ich halte Sie hier auf“, rief sie dann. „Und Sie sind gewiß sehr müde und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmer führen.“ „Ich habe noch eine Bitte Frau Oberköchin“, sagte Karl im Anblick des Telephonkastens der auf einem Tische stand. „Es ist möglich, daß mir morgen, vielleicht sehr früh, meine frühern Kameraden eine Photographie bringen, die ich dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen.“ „Gewiß“, sagte die Oberköchin, „aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen die Photographie abnimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wenn man fragen darf?“ „Es ist die Photographie meiner Eltern“, sagte Karl, „nein ich muß mit den Leuten selbst sprechen.“ Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telephonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als Zimmernummer Karls nannte.



Sie giengen dann durch eine der Eingangstüre entgegengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend lehnte. „Wir können uns selbst bedienen“, sagte die Oberköchin leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. „Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zu viel für einen solchen Jungen“, sagte sie dann während sie aufwärts fuhren. „Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z. B., er ist auch erst vor einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger Junge. Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?“ „Ich werde nächsten Monat sechzehn“, antwortete Karl. „Sogar erst sechzehn!“ sagte die Oberköchin. „Also nur Mut!“



Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühlampen sich sehr wohnlich zeigte. „Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung“, sagte die Oberköchin, „es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aber aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sopha schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu streng sein.“ „Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.“ „Warten Sie“, sagte sie beim Ausgang stehen bleibend, „da wären Sie aber bald geweckt worden.“ Und sie gieng zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief: „Therese!“ „Bitte, Frau Oberköchin“, meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. „Wenn Du mich früh wecken gehst, so mußt Du über den Gang gehn, hier im Zimmer schläft ein Gast. Er ist totmüde.“ Sie lächelte Karl zu, während sie das sagte. „Hast Du verstanden?“ „Ja Frau Oberköchin.“ „Also dann gute Nacht!“ „Gute Nacht wünsch ich.“



„Ich schlafe nämlich“, sagte die Oberköchin zur Erklärung, „seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner frühern Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen undzwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde als ich schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!“ Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.



Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen ungestörten Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer oder richtiger ein Repräsentationszimmer der Oberköchin und ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber dennoch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Photographien in Rahmen und unter Glas, bei der Besichtigung des Zimmers blieb Karl dort stehn und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die in unmodernen unbehaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten kleinen aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das Bild eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Photographien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hier standen, so hatte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.



Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers, die er seiner Nachbarin wegen möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, im Vorgenuß des Schlafes auf seinem Kanapee, da glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich und Karl schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war kein Zweifel mehr, daß es ein Klopfen war und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam. Karl lief auf den Fußspitzen zur Tür hin und fragte so leise, daß es, wenn man trotz allem nebenan doch schlief, niemanden hätte wecken können: „Wünschen Sie etwas?“ Sofort und ebenso leise kam die Antwort: „Möchten Sie nicht die Tür öffnen? Der Schlüssel steckt auf Ihrer Seite.“ „Bitte“, sagte Karl, „ich muß mich nur zuerst anziehn.“ Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: „Das ist nicht nötig. Machen Sie auf und legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten.“ „Gut“, sagte Karl und führte es auch so aus, nur drehte er außerdem noch das elektrische Licht auf. „Ich liege schon“, sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon aus ihrem dunklen Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie unten im Bureau, sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht schlafen zu gehn.



„Entschuldigen Sie vielmals“, sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Karls Lager, „und verraten Sie mich bitte nicht. Ich will Sie auch nicht lange stören, ich weiß, daß Sie totmüde sind.“ „Es ist nicht so arg“, sagte Karl, „aber es wäre vielleicht doch besser gewesen, ich hätte mich angezogen.“ Er mußte ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals zugedeckt sein zu können, denn er besaß kein Nachthemd. „Ich bleibe ja nur einen Augenblick“, sagte sie und griff nach einem Sessel, „kann ich mich zum Kanapee setzen?“ Karl nickte. Da setzte sie sich so eng zum Kanapee, daß Karl an die Mauer rücken mußte, um zu ihr aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes gleichmäßiges Gesicht, nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht nur an der Frisur liegen, die ihr nicht recht paßte. Ihr Anzug war sehr rein und sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie ein Taschentuch.



„Werden Sie lange hier bleiben?“ fragte sie. „Es ist noch nicht ganz bestimmt“, antwortete Karl, „aber ich denke, ich werde bleiben.“ „Das wäre nämlich sehr gut“, sagte sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, „ich bin hier nämlich so allein.“ „Das wundert mich“, sagte Karl, „die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon, Sie wären verwandt.“ „Oh nein“, sagte sie, „ich heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern.“ Auch Karl stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum erstenmal voll an, als sei er ihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: „Sie dürfen nicht glauben, daß ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im Hotel und schon in großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich konnte die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier sehr große Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen nur vor Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehn Tage im Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig zurückgeblieben, Sie würden wohl gar nicht sagen, daß ich schon achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker.“ „Der Dienst hier muß wirklich sehr anstrengend sein“, sagte Karl. „Unten habe ich jetzt einen Liftjungen stehend schlafen gesehn.“ „Dabei haben es die Liftjungen noch am besten“, sagte sie, „die verdienen ihr schönes Geld an Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht so plagen wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht um die Servietten für ein Bankett herzurichten, hat zu uns Küchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier an fünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr zufriedengestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich sehr viel gelernt.“ „Gibt es denn da soviel zu schreiben?“ fragte Karl. „Ach sehr viel“, antwortete sie, „das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Sie haben doch gesehn, daß ich heute bis halb zwölf gearbeitet habe und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht immerfort, sondern habe auch viele Besorgungen in der Stadt zu machen.“ „Wie heißt denn die Stadt?“ fragte Karl. „Das wissen Sie nicht?“ sagte sie, „Ramses.“ „Ist es eine große Stadt?“ fragte Karl. „Sehr groß“, antwortete sie, „ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nicht wirklich schon schlafen?“ „Nein, nein“, sagte Karl, „ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen sind.“ „Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig, aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist man schon glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Ich habe Sie schon unten im Saal gesehn, ich kam gerade um die Frau Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammern wegführte.“ „Das ist ein schrecklicher Saal“, sagte Karl. „Ich merke es schon gar nicht mehr“, antwortete sie. „Aber ich wollte nur sagen, daß ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meine selige Mutter war. Aber es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer Stellung, als daß ich frei mit ihr reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute Freundinnen gehabt, aber die sind schon längst nicht mehr hier und die neuen Mädchen kenne ich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal vor, daß mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt als die frühere, daß ich sie aber nicht einmal so gut verrichte, wie die und daß mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält. Schließlich muß man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben, um Sekretärin zu werden. Es ist eine Sünde das zu sagen, aber oft und oft fürchte ich wahnsinnig zu werden. Um Gotteswillen“, sagte sie plötzlich viel schneller und griff flüchtig nach Karls Schulter, da er die Hände unter der Decke hielt, „Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr jetzt außer den Umständen die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste.“ „Es ist selbstverständlich, daß ich ihr nichts sagen werde“, antwortete Karl. „Dann ist es gut“, sagte sie, „und bleiben Sie hier. Ich wäre froh wenn Sie hierblieben und wir könnten, wenn es Ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich wie ich Sie zum erstenmal gesehn habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und trotzdem – denken Sie, so schlecht bin ich – habe ich auch Angst gehabt, die Frau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da lange allein gesessen bin, während Sie unten im Bureau waren, habe ich mir die Sache so zurechtgelegt, daß es sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine Arbeiten übernehmen würden, denn die würden Sie sicher besser verstehn. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten, könnte ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der Küche gewiß viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas stärker geworden bin.“ „Die Sache ist schon geordnet“, sagte Karl, „ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin. Wenn Sie aber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeutung von Ihren Plänen machen, verrate ich auch das Übrige, was Sie mir heute gesagt haben, so leid es mir tun würde.“ Diese Tonart erregte Therese so sehr, daß sie sich beim Bett niederwarf und wimmernd das Gesicht ins Bettzeug drückte. „Ich verrate ja nichts“, sagte Karl, „aber Sie dürfen auch nichts sagen.“ Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben, streichelte ein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne und dachte nur, daß hier ein bitteres Leben sei. Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, daß sie sich ihres Weinens schämte, sah Karl dankbar an, redete ihm zu, morgen lange zu schlafen und versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr heraufzukommen und ihn zu wecken. „Sie wecken ja so geschickt“, sagte Karl. „Ja einiges kann ich“, sagte sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine Decke hin und lief in ihr Zimmer.

 



Am nächsten Tage bestand Karl darauf gleich seinen Dienst anzutreten, trotzdem ihm die Oberköchin diesen Tag für die Besichtigung von Ramses freigeben wollte. Aber Karl erklärte offen, dafür werde sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihn das Wichtigste mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes Ziel gerichtete Arbeit habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und fange als Liftjunge in einem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigern Jungen nahe daran seien in natürlicher Folge eine höhere Arbeit zu übernehmen. Es sei ganz richtig daß er als Liftjunge anfange, aber ebenso richtig sei, daß er sich besonders beeilen müsse. Bei diesen Umständen würde ihm die Besichtigung der Stadt gar kein Vergnügen machen. Nicht einmal zu einem kurzen Weg, zu dem ihn Therese aufforderte konnte er sich entschließen. Immer schwebte ihm der Gedanke daran vor Augen, es könne schließlich mit ihm, wenn er nicht fleißig sei, soweit kommen wie mit Delamarche und Robinson.



Beim Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die äußerlich sehr prächtig mit Goldknöpfen und Goldschnüren ausgestattet war, bei deren Anziehn es Karl aber doch ein wenig schauderte, denn besonders unter den Achseln war das Röckchen kalt, hart und dabei unaustrockbar naß von dem Schweiß der Liftjungen, die es vor ihm getragen hatten. Die Uniform mußte auch vor allem über der Brust eigens für Karl erweitert werden, denn keine der zehn vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser Näharbeit die hier notwendig war, und trotzdem der Meister sehr peinlich schien – zweimal flog die bereits abgelieferte Uniform aus seiner Hand in die Werkstatt zurück – war alles in kaum fünf Minuten erledigt und Karl verließ das Atelier schon als Liftjunge mit anliegenden Hosen und einem trotz der bestimmten gegenteiligen Zusicherung des Meisters sehr beengenden Jäckchen, das immer wieder zu Athemübungen verlockte, da man sehen wollte, ob das Athmen noch immer möglich war.



Dann meldete er sich bei jenem Oberkellner unter dessen Befehl er stehen sollte, einem schlanken schönen Mann mit großer Nase, der wohl schon in den vierziger Jahren stehen konnte. Er hatte keine Zeit sich auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen und läutete bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen, den Karl gestern gesehen hatte. Der Oberkellner nannte ihn nur bei seinem Taufnamen Giacomo, was Karl erst später erfuhr, denn in der englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge bekam nun den Auftrag Karl das für den Liftdienst Notwendige zu zeigen, aber er war so scheu und eilig, daß Karl von ihm, so wenig auch im Grunde zu zeigen war, kaum dieses Wenige erfahren konnte. Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weil er den Liftdienst offenbar Karls halber verlassen mußte und den Zimmermädchen zur Hilfeleistung zugeteilt war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen die er aber verschwieg, entehrend vorkam. Enttäuscht war Karl vor allem dadurch, daß ein Liftjunge mit der Maschinerie des Aufzugs nur insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotels verwendet wurden, daß z. B. Giacomo trotz halbjährigen Dienstes beim Lift weder das Triebwerk im Keller, noch die Maschinerie im Innern des Aufzugs mit eigenen Augen gesehen hatte, trotzdem ihn dies, wie er ausdrücklich sagte, sehr gefreut hätte. Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und wegen der zwölfstündigen Arbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, daß er nach Giacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nicht minutenweise im Stehen schlafen konnte. Karl sagte hiezu nichts, aber er begriff wohl, daß gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostet hatte.



Sehr willkommen war es Karl, daß der Aufzug den er zu besorgen hatte, nur für die obersten Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht mit den anspruchsvollsten reichen Leuten zu tun haben würde. Allerdings konnte man hier auch nicht soviel lernen wie anderswo und es war nur für den Anfang gut.



Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, daß er dem Dienst vollständig gewachsen war. Das Messing seines Aufzugs war am besten geputzt, keiner der dreißig andern Aufzüge konnte sich darin vergleichen und es wäre vielleicht noch leuchtender gewesen, wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzug diente auch nur annähernd so fleißig gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch Karls Fleiß unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens Rennel, ein eitler Junge mit dunklen Augen und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug, in dem er an dienstfreien Abenden leicht parfumiert in die Stadt eilte; hie und da bat er auch Karl ihn abends zu vertreten, da er in Familienangelegenheiten weggehn müsse, und es kümmerte ihn wenig, daß sein Aussehn allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem konnte ihn Karl gut leiden und hatte es gern, wenn Rennel an solchen Abenden vor dem Ausgehn in seinem Privatanzug unten beim Lift vor ihm stehen blieb, sich noch ein wenig entschuldigte, während er die Handschuh über die Finger zog und dann durch den Korridor abgieng. Im übrigen woll

Teised selle autori raamatud