Franz Kafka: Sämtliche Werke

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Bald lernte Karl auch, die kurzen tiefen Verbeugungen machen, die man von den Liftjungen verlangte und das Trinkgeld fieng er im Fluge ab. Es verschwand in seiner Westentasche und niemand hätte nach seinen Mienen sagen können, ob es groß oder klein war. Vor Damen öffnete er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwang sich in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte und Behänge zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während der Fahrt stand er, weil dies das unauffälligste war, knapp bei der Tür mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen und hielt den Griff der Aufzugtüre, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und doch nicht etwa erschreckend seitwärts weg zu stoßen. Selten nur klopfte ihm einer während der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habe er es erwartet und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz der vielen Aufzüge, besonders nach Schluß der Teater oder nach Ankunft bestimmter Expreßzüge, ein solches Gedränge, daß er, kaum daß die Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasen mußte, um die dort Wartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch Ziehen an einem durch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, die gewöhnliche Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch die Aufzugsordnung verboten und sollte auch gefährlich sein. Karl tat es auch niemals wenn er mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dann kannte er keine Rücksicht, und arbeitete an dem Seil mit starken taktmäßigen Griffen, wie ein Matrose. Er wußte übrigens, daß dies die andern Liftjungen auch taten und er wollte seine Passagiere nicht an andere Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotel wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hie und da durch ein Lächeln, daß sie Karl als ihren Liftjungen erkannten, Karl nahm diese Freundlichkeit mit ernstem Gesichte aber gerne an. Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er auch besondere kleine Aufträge annehmen, z. B. einem Hotelgast, der sich nicht erst in sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer vergessene Kleinigkeit zu holen, dann flog er in seinem in solchen Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf, trat in das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehen hatte, herumlagen oder auf den Kleiderrechen hiengen, fühlte den charakteristischen Geruch einer fremden Seife, eines Parfums, eines Mundwassers und eilte ohne sich im geringsten aufzuhalten mit dem meist trotz undeutlicher Angaben gefundenen Gegenstand wieder zurück. Oft bedauerte er größere Aufträge nicht übernehmen zu können, da hiefür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten, nur zu Botengängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte sich Karl bei günstiger Gelegenheit verwenden lassen.

Wenn er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit drei Tage um sechs Uhr abends, die nächsten drei Tage um sechs Uhr früh aus der Arbeit kam, war er so müde, daß er geradewegs ohne sich um jemanden zu kümmern in sein Bett gieng. Es lag im gemeinsamen Schlafsaal der Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einfluß vielleicht doch nicht so groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte, hatte sich zwar bemüht, ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen und es wäre ihr wohl auch gelungen, aber da Karl sah, welche Schwierigkeiten es machte und wie die Oberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem so beschäftigten Oberkellner wegen dieser Sache telephonierte, verzichtete er darauf und überzeugte die Oberköchin von dem Ernst seines Verzichtes mit dem Hinweis darauf, daß er von den andern Jungen wegen eines nicht eigentlich selbst erarbeiteten Vorzugs nicht beneidet werden wolle.

Ein ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da jeder einzelne die freie Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf Essen, Schlaf, Vergnügen und Nebenverdienst verteilte, war im Schlafsaal immerfort die größte Bewegung. Da schliefen einige und zogen die Decken über die Ohren um nichts zu hören; wurde doch einer geweckt, dann schrie er so wütend über das Geschrei der andern, daß auch die übrigen noch so guten Schläfer nicht standhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, es wurde damit eine Art Luxus getrieben, auch Karl hatte sich eine angeschafft und fand bald Geschmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst nicht geraucht werden, die Folge dessen war, daß im Schlafsaal jeder solange er nicht unbedingt schlief auch rauchte. Infolge dessen stand jedes Bett in einer eigenen Rauchwolke und alles in einem allgemeinen Dunst. Es war unmöglich durchzusetzen, trotzdem eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte, daß in der Nacht nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäre dieser Vorschlag durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafen wollten, dies im Dunkel der einen Saalhälfte – es war ein großer Saal mit vierzig Betten – ruhig tun können, während die andern im beleuchteten Teil Würfel oder Karten hätten spielen und alles übrige besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätte einer dessen Bett in der beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehn wollen, so hätte er sich in eines der freien Betten im Dunkel legen können, denn es standen immer genug Betten frei und niemand wendete gegen eine derartige vorübergehende Benützung seines Bettes durch einen Andern etwas ein. Aber es gab keine Nacht, in der diese Einteilung befolgt worden wäre. Immer wieder fanden sich z. B. zwei, welche nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf ausgenützt hatten, Lust bekamen in ihren Betten auf einem zwischen sie gelegten Brett Karten zu spielen und natürlich drehten sie eine passende elektrische Lampe auf, deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihm zugewendet waren, auffahren ließ. Man wälzte sich zwar noch ein wenig herum, fand aber schließlich auch nichts besseres zu tun, als mit dem gleichfalls geweckten Nachbar auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung vorzunehmen. Und wieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab allerdings auch einige, die um jeden Preis schlafen wollten – Karl gehörte meist zu ihnen – und die statt den Kopf aufs Kissen zu legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder hinein einwickelten, aber wie wollte man im Schlaf bleiben, wenn der nächste Nachbar in tiefer Nacht aufstand, um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt dem Vergnügen nachzugehn, wenn er in dem am Kopfende des eigenen Bettes angebrachten Waschbecken laut und wassersprühend sich wusch, wenn er die Stiefel nicht nur polternd anzog sondern stampfend sich besser in sie hineintreten wollte – fast alle hatten trotz amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel – um dann schließlich, da ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des Schlafenden zu heben, unter dem man allerdings schon längst geweckt, nur darauf wartete, auf ihn loszufahren. Nun waren aber auch alle Sportsleute und junge meist kräftige Burschen, die keine Gelegenheit zu sportlichen Übungen versäumen wollten. Und man konnte sicher sein, wenn man in der Nacht mitten aus dem Schlaf durch großen Lärm geweckt aufsprang, auf dem Boden neben seinem Bett zwei Ringkämpfer zu finden und bei greller Beleuchtung auf allen Betten in der Runde aufrecht stehende Sachverständige in Hemd und Unterhosen. Einmal fiel anläßlich eines solchen nächtlichen Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden Karl und das erste, was Karl beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das dem Jungen aus der Nase rann und ehe man noch etwas dagegen unternehmen konnte das ganze Bettzeug überfloß. Oft verbrachte Karl fast die ganzen zwölf Stunden mit Versuchen, einige Stunden Schlaf zu gewinnen, trotzdem es ihn auch sehr lockte an den Unterhaltungen der andern teilzunehmen; aber immer wieder schien es ihm, daß alle andern in ihrem Leben einen Vorsprung vor ihm hätten, den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig Verzichtleistung ausgleichen müsse. Trotzdem ihm also hauptsächlich seiner Arbeit wegen am Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sich doch weder gegenüber der Oberköchin noch gegenüber Therese über die Verhältnisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen und Großen alle Jungen schwer daran ohne sich ernstlich zu beklagen und zweitens war die Plage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner Aufgabe als Liftjunge, die er ja aus den Händen der Oberköchin dankbar übernommen hatte.

Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazu verwendete bei der Oberköchin ein zwei Besuche zu machen und mit Therese deren kärgliche freie Zeit er abpaßte irgendwo in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur in ihrem Zimmer einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eilig ausgeführt werden mußten. Dann liefen sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der Untergrundbahn, die Fahrt vergieng im Nu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war, die Stufen hinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen auseinanderflogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karl und Therese eilten, eng beisammen in die verschiedenen Bureaux, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telephonisch nicht leicht zu besorgende, im übrigen nicht besonders verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren. Therese merkte bald, daß Karls Hilfe hiebei nicht zu verachten war, daß sie vielmehr in vieles eine große Beschleunigung brachte. Niemals mußte sie in seiner Begleitung wie sonst oft darauf warten, daß die überbeschäftigten Geschäftsleute sie anhörten. Er trat an den Pult und klopfte auf ihn solange mit den Knöcheln, bis es half, er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas überspitztes, aus hundert Stimmen leicht herauszuhörendes Englisch hin, er gieng auf die Leute ohne Zögern zu und mochten sie sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte jeden Widerstand, aber er fühlte sich in einer sichern Stellung, die ihm Rechte gab, das Hotel occidental war eine Kundschaft, deren man nicht spotten durfte und schließlich war Therese trotz ihrer geschäftlichen Erfahrung hilfsbedürftig genug. „Sie sollten immer mitkommen“, sagte sie manchmal glücklich lachend, wenn sie von einer besonders gut ausgeführten Unternehmung kamen.

 

Nur dreimal während der anderthalb Monate, die Karl in Ramses blieb, war er längere Zeit über ein paar Stunden in Thereses Zimmerchen. Es war natürlich kleiner als irgend ein Zimmer der Oberköchin, die paar Dinge welche darin standen, waren gewissermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Karl verstand schon nach seinen Erfahrungen aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen verhältnismäßig ruhigen Zimmers und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vor ihm und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem Besuch damals am ersten Abend noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie war ein uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die Mutter und das Kind aus Pommern sich nachkommen lassen, aber als hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andere Menschen erwartet, als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind, die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer Ankunft ohne viel Erklärungen nach Kanada ausgewandert, und die Zurückgebliebenen hatten weder einen Brief noch eine sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu verwundern war, denn sie waren in den Massenquartieren des New Yorker Ostens unauffindbar verloren.

Einmal erzählte Therese – Karl stand neben ihr beim Fenster und sah auf die Straße – vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem Winterabend – sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein – jede mit ihrem Bündel durch die Straßen eilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Hand führte, es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärtszukommen, bis die Hand erlahmte und sie Therese ohne sich nach ihr umzusehn losließ, die sich nun Mühe geben mußte, sich selbst an den Röcken der Mutter festzuhalten. Oft stolperte Therese und fiel sogar, aber die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese Schneestürme in den langen geraden Newyorker Straßen! Karl hatte noch keinen Winter in Newyork mitgemacht. Geht man gegen den Wind, und der dreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem Gesicht, man lauft aber kommt nicht weiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen Erwachsene im Vorteil, es lauft unter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freude an allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz begreifen können und sie war fest davon überzeugt, daß, wenn sie sich an jenem Abend klüger – sie war eben noch ein so kleines Kind – zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter war damals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden und in ihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich herum, die sie vielleicht aus Aberglauben sich nicht wegzuwerfen getrauten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete wie sie Therese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige Gelegenheit nicht ausnützen zu können, denn sie fühlte sich totmüde, hatte schon am Morgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasse viel Blut gehustet, und ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und sich auszuruhn. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich ein Plätzchen zu bekommen. Dort wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in dem man sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können, durcheilten sie die engen eisigen Korridore, durchstiegen die hohen Stockwerke, umkreisten die schmalen Terassen der Höfe, klopften wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden der ihnen entgegenkam und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riß Therese, die sich fast wehrte, an sich und küßte sie mit schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, daß das die letzten Küsse waren, begreift man nicht, daß man, und mag man ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nicht einzusehn. In manchen Zimmern an denen sie vorüberkamen, waren die Türen geöffnet um eine erstickende Luft herauszulassen und aus dem rauchigen Dunst, der wie durch einen Brand verursacht die Zimmer erfüllte, trat nur die Gestalt irgendjemandes hervor, der im Türrahmen stand und entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch ein kurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem betreffenden Zimmer bewies. Therese schien es jetzt im Rückblick, daß die Mutter nur in den ersten Stunden ernstlich einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie wohl niemanden mehr angesprochen, trotzdem sie mit kleinen Pausen bis zur Morgendämmerung nicht aufhörte weiterzueilen und trotzdem in diesen Häusern, in denen weder Haustore noch Wohnungstüren je verschlossen werden, immerfort Leben ist und einem Menschen auf Schritt und Tritt begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie rasch weiterbrachte, sondern es war nur die äußerste Anstrengung deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch bloß ein Schleichen sein. Therese wußte auch nicht, ob sie von Mitternacht bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder in zwei oder gar nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridore dieser Häuser sind nach schlauen Plänen der besten Raumausnützung aber ohne Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt, wie oft waren sie wohl durch die gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohl in dunkler Erinnerung, daß sie das Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht hatten, wieder verließen, aber ebenso schien es ihr, daß sie auf der Gasse gleich gewendet und wieder in dieses Haus sich gestürzt hätten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihr festhaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden, und das Ganze schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben, daß die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der Sicherheit halber auch noch mit der andern Hand an den Röcken der Mutter und heulte in Abständen. Sie wollte nicht hier zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die Treppen stampfend emporstiegen, die hinter ihnen, noch nicht zu sehn, hinter einer Wendung der Treppe herankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streit mit einander hatten und einander gegenseitig in das Zimmer hineinstießen. Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang im Haus umher und glücklich schlüpfte noch die Mutter mit Therese durch solche sich gerade schließende Gruppen. Gewiß hätten sie spät in der Nacht, wo man nicht mehr so acht gab und niemand mehr unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der allgemeinen von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen können, an deren einigen sie vorüberkamen, aber Therese verstand es nicht und die Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem Beginn eines schönen Wintertags, lehnten sie beide an einer Hausmauer und hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen herumgestarrt. Es zeigte sich, daß Therese ihr Bündel verloren hatte, und die Mutter machte sich daran, Therese zur Strafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese hörte keinen Schlag und spürte keinen. Sie giengen dann weiter durch die sich belebenden Gassen, die Mutter an der Mauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mit der Hand den Reif vom Geländer streifte und gelangten schließlich, damals hatte es Therese hingenommen, heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem die Mutter für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht, ob sie warten oder weggehn solle, und Therese nahm dies als Befehl zum Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach. Sie setzte sich also auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel aufschnürte, einen bunten Fetzen herausnahm und damit ihr Kopftuch umband, das sie während der ganzen Nacht getragen hatte. Therese war zu müde, als daß ihr auch nur der Gedanke gekommen wäre, der Mutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst welche Arbeit ihr zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da die Handlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kalklöschen, mit dem Hinreichen der Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie dachte daher, die Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit ausführen und lächelte verschlafen zu ihr hinauf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum bis zum Erdgeschoß gediehn, wenn auch schon die hohen Gerüststangen für den weitern Bau, allerdings noch ohne Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Oben umgieng die Mutter geschickt die Maurer die Ziegel auf Ziegel legten und sie unbegreiflicher Weise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag der als Geländer diente und Therese staunte unten in ihrem Dusel diese Geschicklichkeit an und glaubte noch einen freundlichen Blick der Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich auch der Weg aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, gieng auf den Ziegelhaufen los, ihre Geschicklichkeit schien sie verlassen zu haben, sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich eine ganze Weile später löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder. Die letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutter war, wie sie mit auseinandergestreckten Beinen dalag in dem karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie jenes auf ihr liegende rohe Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von allen Seiten zusammenliefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornig etwas hinunterrief.

Es war spät geworden, als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie hatte ausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war und gerade bei gleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der Gerüststangen, die jede allein für sich in den Himmel ragten, hatte sie mit Tränen in den Augen innehalten müssen. Sie wußte jede Kleinigkeit, die damals vorgefallen war jetzt nach zehn Jahren ganz genau, und weil der Anblick ihrer Mutter oben im halbfertigen Erdgeschoß das letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie es ihrem Freunde gar nicht genug deutlich überantworten konnte, wollte sie nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf zurückkommen, stockte aber, legte das Gesicht in die Hände und sagte kein Wort mehr.

Es gab aber auch lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinem ersten Besuch hatte Karl dort ein Lehrbuch der kaufmännischen Korrespondenz liegen gesehn und auf seine Bitte geborgt erhalten. Es wurde gleichzeitig besprochen, daß Karl die im Buch enthaltenen Aufgaben machen und Theresen, die das Buch, soweit es für ihre kleinen Arbeiten nötig war, schon durchstudiert hatte, zur Durchsicht vorlegen solle. Nun lag Karl ganze Nächte lang, Watte in den Ohren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, der Abwechslung halber in allen möglichen Lagen, las im Buch und kritzelte die Aufgaben in ein Heftchen mit einer Füllfeder, die ihm die Oberköchin zur Belohnung dafür geschenkt hatte, daß er für sie ein großes Inventurverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein ausgeführt hatte. Es gelang ihm die meisten Störungen der andern Jungen dadurch zum Guten zu wenden, daß er sich von ihnen immer kleine Ratschläge in der englischen Sprache geben ließ bis sie dessen müde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er, wie die andern mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz ausgesöhnt waren, ihren provisorischen Charakter – ältere als zwanzigjährige Liftjungen wurden nicht geduldet – gar nicht fühlten, die Notwendigkeit einer Entscheidung über ihren künftigen Beruf nicht einsahen und trotz Karls Beispiel nichts anderes lasen, als höchstens Detektivgeschichten, die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bett gereicht wurden.

 

Bei den Zusammenkünften korrigierte nun Therese mit übergroßer Umständlichkeit, es ergaben sich strittige Ansichten, Karl führte als Zeugen seinen großen Newyorker Professor an, aber der galt bei Therese ebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungen der Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus der Hand und strich die Stelle von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt war durch, Karl aber strich in solchen Zweifelfällen, trotzdem im allgemeinen keine höhere Autorität als Therese, die Sache zu Gesicht bekommen sollte, aus Genauigkeit die Striche Theresens wieder durch. Manchmal allerdings kam die Oberköchin und entschied dann immer zu Theresens Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeine Versöhnung, denn es wurde Thee gekocht, Gebäck geholt und Karl mußte von Europa erzählen, allerdings mit vielen Unterbrechungen von Seiten der Oberköchin, die immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Karl zu Bewußtsein brachte, wie vieles sich dort in verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund aus geändert hatte und wie vieles wohl auch schon seit seiner Abwesenheit anders geworden war und immerfort anders wurde.

Karl mochte einen Monat etwa in Ramses gewesen sein, als ihm eines Abends Renell im Vorübergehn sagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann mit Namen Delamarche angesprochen und nach Karl ausgefragt worden. Renell habe nun keinen Grund gehabt etwas zu verschweigen und habe der Wahrheit gemäß erzählt, daß Karl Liftjunge sei, jedoch Aussicht habe infolge der Protektion der Oberköchin noch ganz andere Stellen zu bekommen. Karl merkte wie vorsichtig Renell von Delamarche behandelt worden war, der ihn sogar für diesen Abend zu einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte. „Ich habe nichts mehr mit Delamarche zu tun“, sagte Karl. „Nimm Du Dich nur auch vor ihm in Acht!“ „Ich?“ sagte Renell, streckte sich und eilte weg. Er war der zierlichste Junge im Hotel und es gieng unter den andern Jungen, ohne daß man den Urheber wußte, das Gerücht herum, daß er von einer vornehmen Dame, die schon längere Zeit im Hotel wohnte, im Lift zumindest abgeküßt worden sei. Für den, der das Gerücht kannte hatte es unbedingt einen großen Reiz, jene selbstbewußte Dame, in deren Äußern nicht das Geringste die Möglichkeit eines solchen Benehmens ahnen ließ, mit ihren ruhigen leichten Schritten, zarten Schleiern, streng geschnürter Taille an sich vorübergehn zu sehn. Sie wohnte im ersten Stock und Renells Lift war nicht der ihre, aber man konnte natürlich, wenn die andern Lifts augenblicklich besetzt waren, solchen Gästen den Eintritt in einen andern Lift nicht verwehren. So kam es daß diese Dame hie und da in Karls und Renells Lift fuhr und tatsächlich immer nur wenn Renell Dienst hatte. Es konnte Zufall sein, aber niemand glaubte daran und wenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in der ganzen Reihe der Liftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die schon sogar zum Einschreiten eines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun daß die Dame, sei es daß das Gerücht die Ursache war, jedenfalls hatte sich Renell verändert, war noch beiweitem selbstbewußter geworden, überließ das Putzen gänzlich Karl, der schon auf die nächste Gelegenheit einer gründlichen Aussprache hierüber wartete, und war im Schlafsaal gar nicht mehr zu sehn. Kein anderer war so vollständig aus der Gemeinschaft der Liftjungen ausgetreten, denn im allgemeinen hielten alle zumindest in Dienstfragen streng zusammen und hatten eine Organisation die von der Hoteldirektion anerkannt war.

Alles dieses ließ sich Karl durch den Kopf gehn, dachte auch an Delamarche und verrichtete im übrigen seinen Dienst wie immer. Gegen Mitternacht hatte er eine kleine Abwechslung, denn Therese, die ihn öfters mit kleinen Geschenken überraschte, brachte ihm einen großen Apfel und eine Tafel Chokolade. Sie unterhielten sich ein wenig, durch die Unterbrechungen, welche die Fahrten mit dem Aufzug brachten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Delamarche und Karl merkte, daß er sich eigentlich durch Therese hatte beeinflussen lassen, wenn er ihn seit einiger Zeit für einen gefährlichen Menschen hielt, denn so erschien er allerdings Therese nach Karls Erzählungen. Karl jedoch hielt ihn im Grunde nur für einen Lumpen, der durch das Unglück sich hatte verderben lassen und mit dem man schon auskommen konnte. Therese widersprach dem aber sehr lebhaft und forderte Karl in langen Reden das Versprechen ab, kein Wort mit Delamarche mehr zu reden. Statt dieses Versprechen zu geben, drängte sie Karl wiederholt schlafen zu gehn, da schon Mitternacht längst vorüber war, und als sie sich weigerte, drohte er seinen Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen. Als sie endlich bereit war wegzugehn, sagte er: „Warum machst Du Dir so unnötige Sorgen, Therese? Für den Fall, daß Du dadurch besser schlafen solltest verspreche ich Dir gerne, daß ich mit Delamarche nur reden werde, wenn es sich nicht vermeiden läßt.“ Dann kamen viele Fahrten, denn der Junge am Nebenlift wurde zu irgend einer andern Dienstleistung verwendet und Karl mußte beide Lifts besorgen. Es gab Gäste, die von Unordnung sprachen und ein Herr, der eine Dame begleitete, berührte Karl sogar leicht mit dem Spazierstock, um ihn zur Eile anzutreiben, eine Ermahnung, die recht unnötig war. Wenn doch wenigstens die Gäste, da sie sahen, daß bei dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Karls Lift getreten wären, aber das taten sie nicht, sondern giengen zu dem Nebenlift und blieben dort, die Hand an der Klinke stehn oder traten gar selbst in den Aufzug ein, was nach dem strengsten Paragraphen der Dienstordnung die Liftjungen um jeden Preis verhüten sollten. So gab es für Karl ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen, ohne daß er aber dabei das Bewußtsein gehabt hätte seine Pflicht genau zu erfüllen. Gegen drei Uhr früh wollte überdies ein Packträger, ein alter Mann mit dem er ein wenig befreundet war, irgend eine Hilfeleistung von ihm haben, aber die konnte er nun keinesfalls leisten, denn gerade standen Gäste vor seinen beiden Lifts und es gehörte Geistesgegenwart dazu sich sofort mit großen Schritten für eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher glücklich als der andere Junge wieder antrat und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen seines langen Ausbleibens zu ihm hinüber, trotzdem er wahrscheinlich keine Schuld daran hatte. Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe ein, aber Karl brauchte sie auch schon dringend. Er lehnte schwer am Geländer neben seinem Aufzug, aß langsam den Apfel, aus dem schon nach dem ersten Biß ein starker Duft strömte, und sah in einen Lichtschacht hinunter, der von großen Fenstern der Vorratskammern umgeben war, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel gerade noch schimmerten.

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