Franz Kafka: Sämtliche Werke

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In diesem Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redete dann so rasch in das Telephon, daß Karl ihn anfangs nicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte nähertrat.

„Liebe Frau Oberköchin“, hieß es, „aufrichtig gesagt, ich hätte nicht geglaubt, daß Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwas über Ihren Engelsjungen, was Ihre Meinung über ihn gründlich ändern wird und es tut mir fast leid, daß gerade ich es Ihnen sagen muß. Dieser feine Junge also, den Sie ein Muster von Anstand nennen, läßt keine dienstfreie Nacht vergehn, ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt. Ja ja Frau Oberköchin das ist durch Zeugen bewiesen, durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er das Geld zu diesen Lustbarkeiten hernimmt? Wie er die Aufmerksamkeit für seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch noch, daß ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungen loszuwerden, will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie bitte nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen sein soll.“

„Aber Herr Oberkellner“, rief nun Karl, förmlich erleichtert durch den großen Irrtum, der hier unterlaufen schien, und der vielleicht am ehesten dazu führen konnte, daß sich alles noch unerwartet besserte, „da liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, daß ich jede Nacht weggehe. Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im Schlafsaal, das können alle Jungen bestätigen. Wenn ich nicht schlafe lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderm und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt daß ich ihn nicht grüße.“

„Wirst Du sofort schweigen“, schrie der Oberportier und schüttelte die Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten, „ich soll Dich mit jemand andern verwechseln. Ja dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert, wie mir hunderte von Herren Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen, aber bei Dir miserabler Junge soll ich mit den Verwechslungen angefangen haben. Bei Dir, mit Deiner auffallenden glatten Fratze. Was gibt es da zu verwechseln, Du könntest jede Nacht hinter meinem Rücken in die Stadt gelaufen sein und ich bestätige bloß nach Deinem Gesicht, daß Du ein ausgegohrener Lump bist.“

„Laß Feodor!“ sagte der Oberkellner, dessen telephonisches Gespräch mit der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. „Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es ja in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch irgend eine große Untersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir schon vorstellen daß ihm das gefallen würde. Es würden womöglich alle vierzig Liftjungen heraufcitiert und als Zeugen einvernommen, die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müßte also allmählich das ganze Personal zur Zeugenschaft heran, der Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt und wenn er dann schließlich doch herausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten und damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter hören, Du bist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus dem Dienst entlassen. Da gebe ich Dir eine Anweisung an die Kasse, daß Dir Dein Lohn bis zum heutigen Tag ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei Deinem Verhalten, unter uns gesagt, einfach ein Geschenk, das ich Dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache.“

Ein telephonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu unterschreiben. „Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!“ rief er schon nach Anhören der ersten Worte. „Das ist ja unerhört!“ rief er nach einem Weilchen. Und vom Telephon weg wandte er sich zum Hotelportier und sagte: „Bitte Feodor halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu reden haben.“ Und ins Telephon gab er den Befehl: „Komm sofort herauf!“

Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hie und da den Griff und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was bei seinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel vor Karls Augen verursachte. Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte er auch den Befehl bekommen ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch hie und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb fragend zum Oberkellner sagte: „Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle.“

Es war eine Erlösung für Karl, als der oberste der Liftjungen, ein gewisser Bess, ein ewig fauchender dicker Junge eintrat und die Aufmerksamkeit des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Karl war so ermattet, daß er kaum grüßte, als er zu seinem Staunen hinter dem Jungen Therese leichenblaß, unordentlich angezogen, mit lose aufgesteckten Haaren hereinschlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihm und flüsterte: „Weiß es schon die Oberköchin?“ „Der Oberkellner hat es ihr telephoniert“, antwortete Karl. „Dann ist schon gut, dann ist schon gut“, sagte sie rasch mit lebhaften Augen. „Nein“, sagte Karl, „Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich muß weg, die Oberköchin ist davon auch schon überzeugt. Bitte bleib nicht hier, geh hinauf, ich werde mich dann von Dir verabschieden kommen.“ „Aber Roßmann, was fällt Dir denn ein. Du wirst schön bei uns bleiben, so lange es Dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin zufällig erfahren. Da sei nur ruhig.“ „Bitte Therese geh jetzt weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen wenn Du hier bist. Und ich muß mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto mehr Hoffnung ist, daß ich bleibe. Also, Therese –“ Leider konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen leise hinzuzufügen: „Wenn mich nur dieser Oberportier loslassen würde! Ich wußte gar nicht daß er mein Feind ist. Aber wie er mich immerfort drückt und zieht.“ „Warum sage ich das nur!“ dachte er gleichzeitig, „kein Frauenzimmer kann das ruhig anhören“ und tatsächlich wendete sich Therese, ohne daß er sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können, an den Oberportier: „Herr Oberportier bitte lassen Sie doch sofort den Roßmann frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich kommen und dann wird man schon sehn, daß ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen Sie ihn los, was kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen ihn zu quälen.“ Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand. „Befehl kleines Fräulein, Befehl“, sagte der Oberportier und zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während er mit der andern Karl nun sogar angestrengt drückte, als wolle er ihm nicht nur Schmerzen machen, sondern als habe er mit diesem in seinem Besitz befindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.

Therese brauchte einige Zeit um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden und wollte sich gerade beim Oberkellner, der noch immer von dem sehr umständlichen Bess sich erzählen ließ, für Karl einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat. „Gottseidank“, rief Therese und man hörte einen Augenblick im Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schob Bess zur Seite: „Sie kommen also selbst Frau Oberköchin. Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telephongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen aber dafür einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst!“ Und er winkte Bess herbei. „Ich möchte zuerst paar Worte mit dem Roßmann reden“, sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hiezu nötigte. „Karl bitte komm näher“, sagte sie dann. Karl folgte oder wurde vielmehr vom Oberportier nähergeschleppt. „Lassen Sie ihn doch los“, sagte die Oberköchin ärgerlich, „er ist doch kein Raubmörder.“ Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorher noch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die Augen traten.

„Karl“, sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Karl mit geneigtem Kopfe an – es war gar nicht wie ein Verhör – „vor allem will ich Dir sagen, daß ich noch vollständiges Vertrauen zu Dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen Dich im Grunde gerne hierbehalten.“ – Sie sah hiebei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht – „Vergiß also, was man Dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat. Vor allem was Dir vielleicht der Herr Oberportier gesagt hat, mußt Du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber er hat auch Frau und Kinder und weiß, daß man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muß, sondern daß das schon die übrige Welt genügend besorgt.“

Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah Erklärungen fordernd auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der Liftjunge Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe es niemanden hören zu lassen.

 

Karl aber blickte, trotzdem das nur als schlechtes Zeichen aufgefaßt werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an dem Striemen fest und er hätte eigentlich den Rock ausziehn und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr freundlich gemeint, aber unglücklicher Weise schien es ihm, als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage treten, daß er keine Freundlichkeit verdiene, daß er die Wohltaten der Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja daß er nichts anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.

„Ich sage das“, fuhr die Oberköchin fort, „damit Du jetzt unbeirrt antwortest, was Du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich Dich zu kennen glaube.“

„Darf ich bitte inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischen verbluten“, mischte sich plötzlich der Liftjunge Bess sehr höflich, aber sehr störend ein.

„Geh“, sagte der Oberkellner zu Bess, der gleich davonlief. Und dann zur Oberköchin: „Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß festgehalten. Unten im Schlafsaal der Liftjungen ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herumgeschrien, der Schlafsaal gehöre dem Karl Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im übrigen müsse er auch deshalb auf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie bitte darauf, Frau Oberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch acht geben Roßmann“, sagte der Oberkellner nebenbei zu Karl, der sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte, und die immer wieder entweder irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst willen machte. „Aber vielleicht erinnere ich Dich an irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, daß ihr beide nach Deiner Rückkunft einen Nachtbesuch bei irgendeiner Sängerin machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte.“

Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß. „Ich verschone Sie mit dem weitern“, sagte der Oberkellner. „Nein bitte nein“, sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, „erzählen Sie nur weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier.“ Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, daß er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: „Ja Sie hatten ganz recht Feodor!“ gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.

„Es ist nicht mehr viel zu erzählen“, sagte der Oberkellner. „Wie die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm Streit bekommen und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehn, einfach niedergeboxt worden und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wieviel Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht.“

„So“, sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz, den sie eben verlassen hatte. „Also sprich doch bitte ein Wort Roßmann!“ sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchin hinübergelaufen und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte tun sehn, in die Oberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und glättete langsam einen kleinen bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlagen hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: „Also wirds?“ wollte damit aber nur einen Stoß maskieren, den er unterdessen Karl in den Rücken gab.

„Es ist wahr“, sagte Karl infolge des Stoßes unsicherer als er wollte, „daß ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe.“

„Mehr wollen wir nicht wissen“, sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.

„Ich konnte mir nicht anders helfen“, sagte Karl weiter. „Der Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so betrunken, daß er nicht wieder allein fortgehn konnte.“

Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: „Er kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, daß er nicht fortgehn konnte.“ Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese – Karl sah nur zu ihr hin – drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehn. Der Einzige der mit Karls Erklärung vollständig zufrieden war, war der Oberportier, welcher einigemal wiederholte: „Es ist ja ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen“ und diese Erklärung jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.

„Schuld also bin ich“, sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weitern Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, „schuld bin ich nur daran, daß ich den Mann, er heißt Robinson, ist ein Irländer, in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit gesagt und es ist nicht richtig.“

„Du hast ihm also kein Geld versprochen?“ fragte der Oberkellner.

„Ja“, sagte Karl und es tat ihm leid, daß er daran vergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. „Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute Nacht verdient hatte.“ Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.

„Du verrennst Dich immer mehr“, sagte der Oberkellner. „Wenn man Dir glauben sollte, müßte man immer das was Du früher gesagt hast vergessen. Zuerst hast Du also den Mann – nicht einmal den Namen Robinson glaube ich Dir, so hat, seitdem es ein Irland gibt, kein Irländer geheißen – zuerst also hast Du ihn nur in den Schlafsaal gebracht, wofür allein Du übrigens schon im Schwung herausfliegen könntest – Geld aber hast Du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn man Dich überraschend fragt, hast Du ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und Fragespiel, sondern wollen Deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber wolltest Du das Geld nicht holen, sondern ihm Dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber zeigt sich, daß Du dieses Geld noch bei Dir hast, also offenbar doch noch anderes Geld holen wolltest, wofür auch Dein langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts Besonderes, wenn Du für ihn aus Deinem Koffer hättest Geld holen wollen, daß Du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwas Besonderes. Ebenso wie Du auch immerfort verschweigen willst, daß Du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn Du selbst hast zugegeben, daß er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehn konnte und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, daß er Dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die Du, wenn Du die Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlich auch ohne Deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens wie hast Du Dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft und zweitens wieso hast Du verschenkbares Geld angesammelt?“

„Es ist unmöglich sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist“, sagte sich Karl und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr darunter wahrscheinlich Therese litt. Er wußte, daß alles was er sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde als es gemeint gewesen war und daß es nur der Art der Beurteilung überlassen bliebe, Gutes oder Böses vorzufinden.

„Er antwortet nicht“, sagte die Oberköchin.

„Es ist das Vernünftigste, was er tun kann“, sagte der Oberkellner.

„Er wird sich schon noch etwas ausdenken“, sagte der Oberportier und strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.

„Sei still“, sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen begann, „Du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun. Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner Unrecht behält. Sag doch Therese, habe ich Deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?“ Wie konnte das Therese wissen und was nützte es, daß sich die Oberköchin durch diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor den beiden Herren vielleicht viel vergab?

„Frau Oberköchin“, sagte Karl, der sich noch einmal aufraffte, aber nur um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem andern Zweck, „ich glaube nicht, daß ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe und nach genauer Untersuchung müßte das auch jeder andere finden.“

„Jeder andere“, sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner, „das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary.“

„Nun Frau Oberköchin“, sagte dieser, „es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache.“

Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.

Die Oberköchin hatte seit Karls letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet und es deutete auch nichts darauf hin, daß sie die Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächsten Augenblicke sagen: „Nun Karl, die Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und braucht wie Du es richtig gesagt hast noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muß sein.“

Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die niemand zu unterbrechen gewagt hatte – nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld: „Nein Karl nein, nein! Das wollen wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehn und das hat, ich muß es gestehn, Deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muß es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für Dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt.“ (Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)

Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluß und sagte: „Karl, komm einmal her“ und als er zu ihr gekommen war – gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch – umfaßte sie ihn mit der linken Hand, gieng mit ihm und der willenlos folgenden Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einigemal auf und ab, wobei sie sagte: „Es ist möglich, Karl, und darauf scheinst Du zu vertrauen, sonst würde ich Dich überhaupt nicht verstehn, daß eine Untersuchung Dir in einzelnen Kleinigkeiten recht geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was ich von dem Oberportier zu halten habe, Du siehst ich rede selbst jetzt noch offen zu Dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen Dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe und welcher der verläßlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat Deine Schuld klar ausgesprochen und die scheint mir allerdings unwiderleglich. Vielleicht hast Du bloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist Du nicht der, für den ich Dich gehalten habe. Und doch“, damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, „kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, Dich für einen im Grunde anständigen Jungen zu halten.“

 

„Frau Oberköchin! Frau Oberköchin“, mahnte der Oberkellner, der ihren Blick aufgefangen hatte.

„Wir sind gleich fertig“, sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf Karl ein: „Höre Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß der Oberkellner keine Untersuchung einleiten will, denn wollte er sie einleiten, ich müßte es in Deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit Du den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer Deiner früheren Kameraden gewesen sein kann wie Du vorgibst, denn mit denen hast Du ja zum Abschied großen Streit gehabt, so daß Du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter sein, mit dem Du Dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest Du mir, Karl, alle diese Dinge verbergen? Wenn es Dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und Du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit Deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warum hast Du denn kein Wort davon gesagt, Du weißt ich wollte Dir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über Deine Bitten verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest Du den allgemeinen Schlafsaal vorgezogen weil Du Dich dort ungebundener fühltest. Und Dein Geld hattest Du doch in meiner Kassa aufgehoben und die Trinkgelder brachtest Du mir jede Woche, woher um Gotteswillen, Junge, hast Du das Geld für Deine Vergnügungen genommen und woher wolltest Du jetzt das Geld für Deinen Freund holen? Das sind natürlich lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung unausweichlich. Du mußt also unbedingt aus dem Hotel undzwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner – Du warst doch schon mehrmals mit Therese dort – sie werden Dich auf diese Empfehlung hin umsonst aufnehmen“ – und die Oberköchin schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige Zeilen auf eine Visitkarte, wobei sie aber die Rede nicht unterbrach – „Deinen Koffer werde ich Dir gleich nachschicken, Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen und pack seinen Koffer“, (aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte, wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum Bessern, welche die Sache Karls dank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterleben).

Jemand öffnete ohne sich zu zeigen ein wenig die Tür und schloß sie gleich wieder. Es mußte offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser trat vor und sagte: „Roßmann ich habe Dir etwas auszurichten.“ „Gleich“, sagte die Oberköchin und steckte Karl, der mit gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visitkarte in die Tasche, „Dein Geld behalte ich vorläufig, Du weißt, Du kannst es mir anvertrauen. Heute bleib zu hause und überlege Deine Angelegenheit, morgen – heute habe ich nicht Zeit, auch habe ich mich schon vielzulange hier aufgehalten – komme ich zu Brenner und wir werden zusehn was wir weiter für Dich machen können. Verlassen werde ich Dich nicht, das sollst Du jedenfalls schon heute wissen. Über Deine Zukunft mußt Du Dir keine Sorgen machen, eher über die letztvergangene Zeit.“ Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und gieng zum Oberkellner hinüber, Karl hob den Kopf und sah der großen stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihm entfernte.

„Bist Du denn gar nicht froh“, sagte Therese, die bei ihm zurückgeblieben war, „daß alles so gut ausgefallen ist?“ „O ja“, sagte Karl und lächelte ihr zu, wußte aber nicht warum er darüber froh sein sollte, daß man ihn als einen Dieb wegschickte. Aus Thereses Augen strahlte die Freude, als sei es ihr ganz gleichgültig, ob Karl etwas verbrochen hatte oder nicht, ob er gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn man ihn nur gerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren. Und so verhielt sich gerade Therese, die doch in ihren eigenen Angelegenheiten so peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges Wort der Oberköchin wochenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte. Mit Absicht fragte er: „Wirst Du meinen Koffer gleich packen und wegschicken?“ Er mußte gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf schütteln, so schnell fand sich Therese in die Frage hinein und die Überzeugung, daß in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheim halten mußte, ließ sie gar nicht nach Karl hinsehn, gar nicht ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern: „Natürlich, Karl, gleich, gleich werde ich den Koffer packen.“ Und schon war sie davongelaufen.

Nun ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten und aufgeregt durch das lange Warten rief er laut: „Roßmann, der Mann wälzt sich unten im Gang und will sich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen lassen, aber er wehrt sich und behauptet, Du würdest niemals dulden, daß er ins Krankenhaus kommt. Man solle ein Automobil nehmen und ihn nachhause schicken, Du werdest das Automobil bezahlen. Willst Du?“

„Der Mann hat Vertrauen zu Dir“, sagte der Oberkellner. Karl zuckte mit den Schultern und zählte Giacomo sein Geld in die Hand: „Mehr habe ich nicht“, sagte er dann.

„Ich soll Dich auch fragen, ob Du mitfahren willst“, fragte noch Giacomo mit dem Gelde klimpernd.

„Er wird nicht mitfahren“, sagte die Oberköchin.

„Also Roßmann“, sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht bis Giacomo draußen war, „Du bist auf der Stelle entlassen.“

Der Oberportier nickte mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte, die der Oberkellner nur nachspreche.

„Die Gründe Deiner Entlassung kann ich gar nicht laut aussprechen, denn sonst müßte ich Dich einsperren lassen.“

Der Oberportier sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er hatte wohl erkannt, daß sie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.

„Jetzt geh zu Bess, zieh Dich um, übergieb Bess Deine Livree, und verlasse sofort, aber sofort das Haus.“

Die Oberköchin schloß die Augen, sie wollte damit Karl beruhigen. Während er sich zum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner die Hand der Oberköchin wie im Geheimen umfaßte und mit ihr spielte. Der Oberportier begleitete Karl mit schweren Schritten bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbst noch offen hielt, um Karl nachschreien zu können: „In einer Viertelminute will ich Dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehn, merk Dir das.“

Karl beeilte sich wie er nur konnte, um nur beim Haupttor eine Belästigung zu vermeiden, aber es gieng alles viel langsamer, als er wollte. Zuerst war Bess nicht gleich zu finden und jetzt in der Frühstückszeit war alles voll Menschen, dann zeigte sich, daß ein Junge sich Karls alte Hosen ausgeborgt hatte und Karl mußte die Kleiderständer bei fast allen Betten absuchen, ehe er diese Hosen fand, so daß wohl fünf Minuten vergangen waren, ehe Karl zum Haupttor kam. Gerade vor ihm gieng eine Dame mitten zwischen vier Herren. Sie giengen alle auf ein großes Automobil zu, das sie erwartete und dessen Schlag bereits ein Lakai geöffnet hielt während er den freien linken Arm seitwärts wagrecht und steif ausstreckte, was höchst feierlich aussah. Aber Karl hatte umsonst gehofft, hinter dieser vornehmen Gesellschaft unbemerkt hinauszukommen. Schon faßte ihn der Oberportier bei der Hand und zog ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um Verzeihung bat, zu sich hin. „Das soll eine Viertelminute gewesen sein“, sagte er und sah Karl von der Seite an, als beobachte er eine schlecht gehende Uhr. „Komm einmal her“, sagte er dann und führte ihn in die große Portiersloge, die Karl zwar schon längst einmal anzusehen Lust gehabt hatte, in die er aber jetzt von dem Portier geschoben nur mit Mißtrauen eintrat. Er war schon in der Tür, als er sich umwendete und den Versuch machte, den Oberportier wegzuschieben und wegzukommen. „Nein, nein, hier geht man hinein“, sagte der Oberportier und drehte Karl um. „Ich bin doch schon entlassen“, sagte Karl und meinte damit, daß ihm im Hotel niemand mehr etwas zu befehlen habe. „Solange ich Dich halte bist Du nicht entlassen“, sagte der Portier, was allerdings auch richtig war.

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