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Die Polizei umfaßt zwei Organisationen: die Ordnungspolizei (unter SS-Obergruppenführer Daluege) und die Sicherheitspolizei (unter Leitung von SS-Gruppenführer Heydrich). Die Polizeiführung ist dieselbe wie die SS-Führung, und die SS-Verbände sind dieselben wie die Polizeiverbände – mit anderen Worten, der Staat hat auf diesem Gebiet zugunsten der Partei abgedankt.

Die Hitlerjugend, die aus dem Jugendbund der NSDAP hervorgegangen ist (1922 gegründet und 1926 in seine gegenwärtige Gestalt gebracht), ist ein weiteres Beispiel für den Vorrang der Partei. In ihrer Anfangszeit war sie lediglich eine Unterabteilung der Braunhemden, direkt kontrolliert vom Führer der SA. Baldur von Schirach, der am 30. Oktober 1931 zum Jugendführer ernannt wurde, war SA-Gruppenführer. Da die HJ eine Abteilung der SA war, mußte das gegen letztere am 13. April 1932 ausgesprochene Verbot auch für erstere gelten. Nach dem Verbot wurde die Hitlerjugend aus der SA ausgegliedert. Aber das war ein langwieriger Prozeß; zwar wurde Baldur von Schirach im Juni 1933 zum »Reichsleiter«19 der NSDAP ernannt und damit zu den höchsten Kreisen der Führung zugelassen, aber die HJ erhielt ihre Unabhängigkeit von der SA und die Anerkennung als eine Gliederung der Partei erst mit einer Durchführungsverordnung vom 29. März 1935.

Die Hitlerjugend umfaßt mehrere Gruppen: Die »Kern-HJ« (Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren); das »Jungvolk«; den Bund deutscher Mädel« (BDM); die »Jungmädel«; und die BDM-Organisation »Glaube und Schönheit«. Der Gesamtverband wird vertreten und finanziell kontrolliert vom Reichsschatzmeister der NSDAP.20

Mit seiner Ernennung zum Jugendführer des Deutschen Reichs wurde Baldur von Schirach zum höchsten Staatsvertreter für Jugendorganisationen und bekleidete sowohl die Funktion eines Parteiführers als auch die eines Staatsführers. Er nutzte seine neuen Machtbefugnisse zur Koordination der gesamten Jugendbewegung und setzte damit den Anspruch der Partei auf vollständige Kontrolle in die Tat um. Er löste den Großdeutschen Bund auf, schloß die Scharnhorst-Jugend, die Arbeitsfront-Jugend und die Land-Jugend zu einer einzigen Bewegung zusammen und erreichte ein Abkommen mit den konfessionellen Jugendorganisationen.

Trotz seines politischen Monopols über sämtliche Jugendorganisationen gilt der Reichsjugendführer nicht als Staatsbeamter. Er gehört nicht zum Staatsdienst und untersteht nicht den Disziplinarbestimmungen für Beamte. Die Verbindung zwischen Hitlerjugend und Staat beruht einzig und allein auf der Tatsache, daß eine Person zwei Ämter innehat. Dennoch wird die HJ vom Staat finanziell unterstützt und genießt zahllose politische Privilegien.

Am 1. Dezember 1936 erließ die Reichsregierung das »Gesetz über die Hitlerjugend«, in dem es hieß: »Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefaßt«. Dasselbe Gesetz erhob den Reichsjugendführer zu einer Hitler unmittelbar unterstellten Obersten Reichsbehörde. Eine Verordnung vom 11. November 1939 gab ihm in allen die Jugend betreffenden Angelegenheiten die oberste Befehlsgewalt über die Beamten in Preußen, die Landesregierungen und die Reichskommissare in den besetzten Gebieten. Trotz alledem wird die Jugendbewegung nicht als »Staatsjugend« (wie z. B. die italienische Balilla), sondern als »Parteijugend« betrachtet.21 Reichs- und Landesbehörden sind einfach Mittel, mit deren Hilfe der Reichsjugendführer die Bedürfnisse der Partei erfüllt. Die HJ hat ihre eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz, ausdrücklich festgelegt in der »Jugenddienstverordnung« vom 25. März 1939, die es für jeden Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren zur Pflicht macht, in der Hitlerjugend zu dienen. In Anlehnung an Carl Schmitts »Dreigliederungs«-Theorie werden Elternhaus, Schule und Hitlerjugend als die drei Grundpfeiler der Jugenderziehung bezeichnet.

Als die Hitlerjugend so weit vergrößert worden war, daß sie die gesamte deutsche Jugend erfaßte, verlor sie ihren Parteicharakter. Es bedurfte einer neuen Organisation zur Formung zukünftiger Führer: die Durchführungsverordnung vom 25. März 1939 sorgte für die Schaffung einer solchen Elite, der »Stamm-HJ« innerhalb der Hitlerjugend. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, und diese zentrale Gruppe ist wieder ein Parteiorgan im strengen Sinne des Wortes.22

5. Die Partei und der andere öffentliche Dienst

Das im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Verhältnis von Partei und Staat kehrt sich in bezug auf den Arbeitsdienst, die Wehrmachtsverwaltung und das Beamtentum um: hier steht der Staat über der Partei. § 26 des Reichswehrgesetzes sieht die Aussetzung der Parteimitgliedschaft für die Dauer des Wehrdienstes vor. § 17 des Arbeitsdienstgesetzes (26. Juni 1935) verbietet – mit einigen wenigen Ausnahmen – die aktive Parteiarbeit während des Arbeitsdienstes. Zwar setzt § 11 des Beamtengesetzes das Inkompatibilitätsprinzip außer Kraft und erlaubt Beamten die Annahme eines unbezahlten Amtes in der Partei und den ihr angeschlossenen Verbänden ohne Sondergenehmigung; doch das wahre Verhältnis von Beamtentum und Partei geht am deutlichsten aus der »Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen« vom 28. Dezember 1939 hervor. Diese Anordnung legt die »Menschenführung« in die Hände des Kreisleiters der NSDAP, der den übergeordneten Parteidienststellen für »die Stimmung und Haltung der Bevölkerung im Kreise« verantwortlich ist. Die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben der staatlichen Verwaltung im Kreise liegt hingegen ausschließlich beim Landrat, in dessen Angelegenheiten Parteifunktionäre sich nicht einmischen dürfen; sie haben lediglich ein Vorschlagsrecht. Diese Anordnung zeigt deutlich, daß die absolute und ausschließliche Befehlsgewalt der staatlichen Exekutive trotz der ideologischen Degradierung des Staates in keiner Weise geschmälert ist. Mit Ausnahme von Polizei und Jugendbewegung hat das Beamtentum die höchste Macht, ist der Staat noch immer totalitär.

Die Schwierigkeiten, die sich aus dem äußerst zweideutigen Verhältnis von Partei und Staat ergeben, sind rechtlich durch das Führerprinzip gelöst; zudem sind viele hohe Parteiführer gleichzeitig hohe Staatsbeamte. An dieser Stelle wollen wir nur den gesetzlichen Rahmen darlegen; die soziologischen und politischen Implikationen werden später analysiert.23

An der Spitze wird die Einheit von Partei und Staat durch Adolf Hitler verkörpert, der zugleich Parteiführer und Staatschef ist. Der Stellvertreter des Führers der Partei ist Mitglied der Regierung, obwohl er kein Minister im eigentlichen Sinne ist.24 Alle Reichsstatthalter und die Mehrzahl der preußischen Oberpräsidenten sind zugleich »Gauleiter« der Partei. Der Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP (Bohle) bekleidet dieselbe Stellung im Auswärtigen Amt (30. Juni 1937). Allerdings gibt es auch Abweichungen. So verfügt eine Anordnung vom 29. Februar 1937 zum Beispiel, daß der Kreisleiter der Partei nicht vollberuflich eine Verwaltungstätigkeit beim Land oder den Gemeinden ausüben darf. Andererseits unterstehen sowohl die staatlichen Behörden als auch die Parteidienststellen den Weisungen des Generalbevollmächtigten für die Bauwirtschaft (Todt) und des Beauftragten für den Vierjahresplan (Göring).

Parteiführer haben nicht nur häufig hohe Regierungsämter inne, sondern die Rechtshoheit der Partei hat auch einen offiziellen Status erhalten. Der Stellvertreter des Führers hilft bei der Ausarbeitung von Legislativ- und Exekutivvorschriften (z. B. den Verordnungen vom 25. Juli 1934 und 6. April 1935) und bei der Auswahl der direkt vom Führer zu ernennenden Beamten (§ 31 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937). Dasselbe gilt für die Reichsarbeitsdienstleiter (3. April 1936). In der Gemeindeverwaltung ist und bleibt der Vertreter der Partei ein Parteifunktionär (§ 6 der Reichsgemeindeordnung).

Aus alledem können wir folgern, daß es unmöglich ist, die NSDAP als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu beschreiben. Diese Tatsache wird noch deutlicher, wenn wir die Frage der richterlichen Kontrolle, die entscheidende Frage für jede Körperschaft des öffentlichen Rechts, untersuchen. Die einhellige Meinung hierzu lautet, daß die Partei keiner wie auch immer gearteten Kontrolle unterliegt. Eine Zwangsvollstrekkung über das Vermögen der Partei wegen öffentlich- oder privatrechtlicher Forderungen ist nicht zulässig.25 Darüber hinaus sind die interne Verwaltung der NSDAP, ihre Gesetzgebungsstruktur und ihre Gerichtsbarkeit nicht mit anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts vergleichbar. Dokumente, die von den Parteiführern herausgegeben werden, sind Staatsdokumente, parteipolitische Führer sind Staatsdiener. Parteigerichte haben dieselben Befugnisse wie ordentliche Gerichte: sie haben das Recht, Zeugen und Sachverständige unter Eid zu vernehmen; einem unteren Parteifunktionär ist es nicht gestattet, vor einem Staatsgericht oder einem Verwaltungsorgan ohne Zustimmung der Parteichefs auszusagen. So werden staatliche Prärogativen, die die Beamten genießen, auf die Parteihierarchie übertragen, und so genießen Parteiuniformen und -einrichtungen denselben Schutz wie die Uniformen und Einrichtungen des Staates (Gesetz vom 20. Dezember 1934); das Parteivermögen ist steuerfrei (Gesetze vom 15. April 1935 und 1. Dezember 1936).

Die autonome Stellung der Partei kommt am besten in der Tatsache zum Ausdruck, daß sie nicht für schuldhafte Handlungen ihrer Amtsträger haftet, obwohl diese Haftung nach deutschem Recht für Amtsträger privater Körperschaften und für Staatsbeamte gilt (Artikel 131 der Weimarer Verfassung). Einige Oberlandesgerichte und das Reichsgericht haben auf Haftung der Partei für schuldhaftes Verhalten ihrer Amtsträger entschieden, insbesondere bei unpolitischen Angelegenheiten26, doch die Mehrzahl der Juristen und die meisten unteren Gerichte akzeptieren keinerlei Haftung. Die Partei beansprucht für sich ausdrücklich alle Privilegien des Staatsdienstes, lehnt aber jegliche Haftung ab. Sie kann nicht für schuldhafte Handlungen ihrer Beauftragten belangt werden, es sei denn, sie stimmt dem staatlichen Gericht in einem Sonderfall aus freiem Willen zu.27 Die NSDAP nimmt damit die Position ein, die normalerweise einem souveränen Staat gegenüber einem anderen zukommt. Sollte sich diese Situation auf sämtliche Bereiche erstrecken, dann wird die Partei letzten Endes über dem Staat stehen.

 

Die Partei ist kein Organ des Staates. Ihre Rechtsstellung läßt sich nicht mit den Begriffen unserer traditionellen Verfassungslehre definieren. Walter Buch28, oberster Parteirichter und als solcher einer der Herren über Leben und Tod, vergleicht die Partei mit dem Staat selbst. Träfe dieser Vergleich zu, dann gäbe es eine absurde Situation, denn das würde die Existenz eines dualistischen Systems bedeuten, zweier koexistierender souveräner Gewalten, die beide Loyalität beanspruchen und zweierlei Recht schaffen. Frick, Reichsinnenminister und langjähriges Parteimitglied – dem es nicht gelungen ist, sich völlig von der Tradition konservativen Denkens zu befreien, das er sich als bayerischer Beamter zu eigen gemacht hatte – bediente sich folgender Analogie, um das Dilemma zu lösen: die Parteiorganisation und der Staatsapparat gleichen zwei Säulen, die das Dach des Staates tragen, aber die staatlichen Behörden können und dürfen nur von ihren vorgesetzten Dienststellen innerhalb der Staatshierarchie Weisungen entgegennehmen.29 Diese Interpretation löste heftige Proteste aus, weil sie dem Staat wieder die Obergewalt zusprach. Reinhardt, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und hoher Parteifunktionär, bestand darauf: »Die fundamentale Grundlage dieser Einheit ist nicht der Staat, sondern die NSDAP.«30 Nach seiner Auffassung würde der Staat zu einem Organ der Partei; dem widerspricht die Tatsache, daß Armee und Beamtentum nur den Weisungen der entsprechenden staatlichen Behörden unterworfen sind.

Und wenn Carl Schmitt versuchen sollte, das Rätsel mit seiner Beschwörungsformel, »daß Staat, Bewegung, Volk unterschieden aber nicht getrennt, verbunden, aber nicht verschmolzen sind«31, zu lösen, dann würde er in der Tat sehr wenig aufhellen – so wenig wie jene intelligenten nationalsozialistischen Theoretiker, die meinen, daß Staat und Partei in einer »Verfassungsgemeinschaft« leben, weshalb die Idee der Partei die des Staates sei.32 Viele kompetente Beobachter sind zu dem Schluß gekommen, daß nichts Definitives ausgesagt werden könne, da die politische Theorie und Verfassungslehre des Nationalsozialismus sich noch im Stadium dauernder Veränderungen befänden33. Unsere Aufgabe wird es sein nachzuweisen, daß dies nicht ganz zutrifft, daß es ein bestimmtes Modell der politischen Theorie und Verfassungstheorie gibt, wenngleich dieses Modell nicht in die rationalen Kategorien politischen Denkens, wie wir sie kennen, paßt – handele es sich um liberale, absolutistische, demokratische oder autokratische.34

Bevor wir die Struktur der neuen nationalsozialistischen Theorie weiter entwickeln, müssen wir die Bedeutung der nationalsozialistischen Denunziation des Staates untersuchen. Ein Vergleich der nationalsozialistischen mit der faschistischen Theorie wird die ganze Angelegenheit klären.

6. Partei und Staat in Italien

In Italien ist nach wie vor die Hegelsche Staatstheorie, wenn auch in verzerrter Form, vorherrschend. »Grundpfeiler der faschistischen Lehre«, so sagt Mussolini, »ist die Auffassung vom Staat, seinem Wesen, seinen Aufgaben und seinen Endzwecken. Für den Faschismus ist der Staat ein Unbedingtes, vor dem Einzelmenschen und Gruppen das Bedingte sind … Für den Faschismus ist der Staat nicht ein Nachtwächter … Er ist auch nicht eine Vorkehrung zu rein materiellen Zwekken … Und noch weniger ist er die Schöpfung reiner Politik … Der Staat, wie der Faschismus ihn will und lebendig macht, ist eine geistige und sittliche Tatsache, da er die politische, rechtliche und wirtschaftliche Obsorge am Volk verwirklicht. Und solche Obsorge ist nach Ursprung und Entfaltung eine Äußerung des Geistes«.35

Die von den Doktrinen der italienischen Nationalisten stark beeinflußte Darstellung Mussolinis ist von der offiziellen Verfassungslehre in Italien voll und ganz übernommen worden. Alles ist »vom Staat erfaßt«.36 Der Staat ist ein Organismus; er hat ein Eigenleben.37 Giovanni Gentile gab dieser Lehre ihre weltanschauliche Prägung. Der Staat ist ein sittlicher Staat, die Verkörperung des nationalen Bewußtseins, und er besitzt eine Mission. Der Staat ist in Wirklichkeit das von allen »zufälligen Unterschieden« befreite Individuum; der Staat ist Tat und Geist.38 In Einklang mit dieser Lehre ist die faschistische Partei ein untergeordneter Teil des Staates, eine Institution innerhalb des Staates.39

Zu einem früheren Zeitpunkt seiner politischen Laufbahn, als er ein Gegner der Regierung war, hatte Mussolini diese Apotheose des Staates, die er später zur offiziellen politischen Doktrin machen sollte, verworfen. »Ich gehe vom Individuum aus«, sagte er, »und schlage auf den Staat los. Nieder mit dem Staat in allen seinen Formen und Inkarnationen! Dem Staat von gestern, von heute, von morgen! Dem bürgerlichen und dem sozialistischen Staat! Im Dunkel des Heute und in der Ungewißheit des Morgen ist die augenblicklich absurde, aber ewig tröstliche Religion der Anarchie der einzige Glaube, der uns zum Tode verurteilten Individualisten bleibt«.40 Eine so totale Kehrtwendung wie diese ist bei Mussolini nichts Neues. Seine Einstellung zu Themen wie Privateigentum, Monarchie, Kirche, Senat, Stabilität der Lira und so weiter hat eine ganze Reihe von tiefgreifenden Wandlungen erfahren.

Die Sophistik Gentiles erwies sich bei diesen Metamorphosen als nützlich; mit ihrer Hilfe sind praktisch alle Gegensätze auszugleichen. Selbst Anarchismus und Staatsabsolutismus sind miteinander vereinbar, wenn man den Staat als das wahre und einzige Individuum bezeichnet. Wir beschäftigen uns hier aber nicht mit den Verästelungen der faschistischen Ideologie, sondern versuchen vielmehr herauszufinden, warum die offizielle italienische Ideologie, im Gegensatz zum Nationalsozialismus, den Staat über alles stellt. In einer Rede vor den Liberalkonservativen, die er am 4. April 1924 in Mailand hielt, gab Mussolini selbst die Antwort:

»Infolge des kinematographischen Wechsels der Regierungen war das einzige Stabilitätselement die Bürokratie. Ohne die Bürokratie hätten wir das absolute Chaos gehabt … In der ewigen und rotierenden Unstabilität der Regierungen repräsentierte die Bürokratie die Kontinuität des administrativen und politischen Lebens der Nation.«41

Der Faschismus erhöhte den Staat, weil in der ganzen Geschichte Italiens der Staat immer schwach gewesen war. Die Einigung Italiens, die ungefähr zur gleichen Zeit stattfand wie die Einigung Deutschlands, hatte nicht die Bildung einer starken Staatsgewalt zur Folge. Italien blieb ein durch scharfe geographische, ökonomische und soziale Gegensätze gespaltenes Land.42 Die erzielte politische Einheit war äußerst gefährdet. Der Heilige Stuhl und seine 70 000 Priester waren heftige Gegner des neuen italienischen Staates, weil er der Kirche ihren Landbesitz geraubt hatte. Noch im November 1914 konnte von Bülow, der deutsche Botschafter, Italien mit der Restauration des Kirchenstaates drohen, falls es nicht dem Zweibund Deutschland-Österreich beitrete. Zudem war die Masse der italienischen Bevölkerung gegen den Krieg von 1914, und diese Gegnerschaft beschränkte sich nicht auf kleine revolutionäre Gruppen, wie es in Deutschland der Fall war. Im Gegensatz zu Deutschland stand Italien unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges am Rande eines Bürgerkrieges. Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war eine Zeit voller Streiks, Aufstände, Finanz- und Industrieskandale, steigender Preise und wachsender Unruhe unter dem Industrieproletariat im Norden und der Bauernschaft im Süden gewesen.43 Am Vorabend des Ersten Weltkrieges gelang es den italienischen Arbeitern, eine Rote Woche auszurufen und zu organisieren. Es ist gemeinhin nicht bekannt, daß bei Kriegsende 1 100 000 Prozesse gegen Deserteure bei den italienischen Militärgerichten schwebten.44 Jeder fünfte aufgebotene Italiener war fahnenflüchtig.

Die Erfordernisse der Konkurrenz auf dem Weltmarkt zwangen den Faschismus, die italienische Staatsgewalt zu stärken. Ein demokratisches Italien wäre zwar vor derselben Notwendigkeit gestanden, hätte aber andere Methoden angewandt und aus anderen Motiven gehandelt. All das erklärt freilich, warum die Verherrlichung des Staates eine so zentrale Stellung in der faschistischen Ideologie einnimmt.

Im Gegensatz zu Italien war die deutsche Staatsmaschinerie niemals ernsthaft in Gefahr, nicht einmal in den Revolutionstagen von 1918 und 1919. Die Bürokratie arbeitete nach wie vor unter ihren eigenen Häuptern, wenn auch scheinbar auf Anweisung der Arbeiter- und Soldatenräte. Die im Reich und in den Ländern gebildeten neuen demokratischen Regierungen störten das alte Personal wenig, und die von ihnen unternommenen Schritte, den alten Beamtenapparat durch neue, demokratische Beamte zu ersetzen, erfolgten langsam und zaudernd. Wo Arbeiterregierungen, wie in Thüringen und Sachsen, den Demokratisierungsprozeß der Verwaltung beschleunigten, schritt das Reich ein und setzte die Regierungen ab. Die Verfassung von 1919 garantierte den Beamten schließlich ihren Status und ihre individuellen Rechte. Die folgende Periode des Staatsinterventionismus bot der Staatsbürokratie neue Betätigungsmöglichkeiten, und in dem Maße, wie die parlamentarische Demokratie zerfiel, verlagerte sich die staatliche Macht Schritt für Schritt auf die Ministerialbüros und die Armee.

Die Nationalsozialisten standen somit einer Anhäufung staatlicher, bei einer Bürokratie mit hoher Qualifikation und langjähriger Erfahrung zentralisierten Macht gegenüber. Ihr Versuch, neben dem bürokratischen Staatsapparat einen konkurrierenden und sämtliche Staatsaktivitäten umfassenden Parteiapparat aufzubauen, führte zu nichts. Zunächst hatte die Partei ein eigenes Außenministerium (Alfred Rosenberg), ein Justizministerium (Hans Frank), ein Arbeitsministerium (Hierl) und ein Kriegsministerium (Röhm). Hitler selbst setzte diesen Versuchen am 30. Juni 1934 ein Ende.

7. Die rationale Bürokratie

Die Lehre von der Oberhoheit des Staates mußte in Deutschland verworfen werden, weil die Ansprüche der Partei mit denen des Staates konfligierten. Wäre das nicht der Fall gewesen, dann hätte nichts Hitler daran hindern können, an der Theorie des totalitären Staates festzuhalten. Heute sind die staatsverherrlichenden Lehren, vor allem der Hegelianismus, über Bord geworfen worden.

Vielleicht trifft es zu, daß Hegels Verherrlichung des Staates – wie Hobhouse nachzuweisen versuchte – der für den preußischen Militarismus und den Ersten Weltkrieg am meisten verantwortliche ideologische Faktor war.45 Aber man kann Hegel nicht für die politische Theorie des Nationalsozialismus verantwortlich machen. Eine ganze Reihe von Hegelianern ist nach wie vor in der nationalsozialistischen Bewegung aktiv; einige von ihnen versuchen sogar, Hegels Theorie der neuen nationalsozialistischen Ideologie anzupassen.46 Aber ihre Bemühungen sind lächerlich; denn niemand kann bezweifeln, daß Hegels Staatsidee mit dem deutschen Rassenmythos grundsätzlich unvereinbar ist. Hegel schrieb dem Staat die »Verwirklichung der Vernunft« zu, und verglichen mit den Theorien von Haller und den angeblich liberalen Lehren der Burschenschaften (den von dem Philosophen Fries angeführten Studentenverbänden) war seine politische Theorie fortschrittlich. Hegel verachtete sie beide, denn Haller repräsentierte einen reaktionären politischen Vorstoß, die politische Macht der rückschrittlichsten Gesellschaftsschichten zu rechtfertigen, während die »liberale« Doktrin der Burschenschaften – wie selbst Treitschke erkannte47 – den Keim des Rassismus, Antisemitismus und teutonischer Selbstüberhebung in sich barg. Hegels Theorie ist rational; sie hält zudem am freien Individuum fest. Sein Staat verkörpert sich in einer Bürokratie, die die bürgerlichen Freiheiten garantiert, weil sie auf der Grundlage rationaler und berechenbarer Normen tätig wird.48 Diese Betonung des rationalen Verfahrens der Bürokratie, Hegel zufolge die Voraussetzung einer guten Regierung, macht seine Lehre für den nationalsozialistischen »Dynamismus« unannehmbar.

 

Einige wenige Worte sind nötig, um den Begriff der »rationalen« Bürokratie, wie Hegel ihn verstand, und sein Verhältnis zu einem demokratischen System zu klären. Heute werden Übergriffe der Bürokratie in fast allen Ländern als eine Bedrohung der Freiheit des Individuums verdammt.49 Und wenn wir Demokratie ausschließlich als ein Organisationsmodell definieren, nach dem die politische Macht unter frei gewählten Volksvertretern aufgeteilt wird, so läßt sich ohne weiteres feststellen, daß eine Bürokratie, die dauerhaft, hierarchisch gegliedert und einer eigenmächtigen Befehlsgewalt unterworfen ist, als Widerspruch zur Demokratie erscheinen muß. Demokratie ist aber nicht ein bloßes Organisationsmodell; sie ist auch ein Wertsystem, und die von ihr verfolgten Ziele können sich verändern. Der Konkurrenzkapitalismus zielte einzig und allein darauf ab, die Freiheit der Gesellschaft vor staatlicher Einmischung zu schützen. In der Ära des Kollektivismus, der den Konkurrenzkapitalismus als Resultat tiefgreifender ökonomischer Wandlungen ablöste, und in dem die Massen die Berücksichtigung ihrer materiellen Lage verlangen, erweist sich das durch die liberale Demokratie repräsentierte Wertsystem als unangemessen. Arbeitslosen-, Kranken- und Invalidenversicherung, Wohnungsbauprogramme werden zur Notwendigkeit und müssen als unverzichtbarer Teil der Demokratie akzeptiert werden. Darüber hinaus muß eine gewisse Kontrolle des ökonomischen Handelns eingeführt werden. Offensichtlich bieten sich zur Verwirklichung dieser neuen Ziele zwei Methoden an: Eine, als pluralistische Lösung, enthält die Selbstverwaltung durch die privaten interessierten Parteien; die andere, eine monistische Lösung, bedeutet bürokratische Bevormundung. Die Wahl zwischen diesen beiden Methoden fällt nicht leicht, um so weniger, als das Maximum an bürokratischer Macht nur dann erreicht wird, wenn staatliche und private Bürokratien einander durchdringen. Die Bevorzugung der Selbstverwaltung folgt nicht unbedingt aus dem Wesen der Demokratie. Das wäre der Fall und in der Tat die Ideallösung, wenn die privaten Bürokratien in allen wichtigen Punkten eine Einigung erzielen könnten, ohne die Interessen der Gesellschaft insgesamt zu verletzen. Aber diese Erwartung ist utopisch. Wann immer private Gruppen zu einer Einigung kamen, geschah es auf Kosten der Gesamtgesellschaft; gewöhnlich hatte der Verbraucher zu leiden, und ein Eingreifen der Regierung erwies sich als unabdingbar. Unsere Gesellschaft ist nicht harmonisch, sie ist antagonistisch, und der Staat wird immer die ultima ratio sein. In Deutschland zwang das pluralistische System privater Verwaltung – wie ich zu zeigen versuchte – die Regierung früher oder später zur Intervention; als Folge davon wuchs die Macht der Staatsbürokratie. Hinzu kommt die Tendenz der betroffenen Parteien wie Gewerkschaften, Kartelle, Unternehmerverbände und politische Gruppen, selbst bürokratische Einrichtungen zu werden50, deren Zweck entweder darin besteht, ihre Organisationen funktionsfähig oder sich selbst an der Spitze zu halten. Die spontanen Wünsche der breiten Masse werden dabei unweigerlich geopfert.

Konfrontiert mit der Wahl zwischen zwei Arten von Bürokratie, mag die Bürgerschaft die öffentliche der privaten Bürokratie vorziehen; denn private Bürokratien verfolgen egoistische Gruppeninteressen, während öffentliche Bürokratien, selbst wenn sie von Klasseninteressen beherrscht werden, dem Allgemeinwohl eher zuneigen. Das ist darin begründet, daß Staatsbürokratien festgesetzten und nachprüfbaren Regeln gehorchen, während private Bürokratien geheime Anweisungen befolgen. Der Staatsdiener wird nach einem Laufbahnsystem ausgewählt, das auf dem Prinzip der Chancengleichheit für jeden Bewerber beruht, wenngleich dieses Prinzip in der Praxis häufig pervertiert wird. Private Bürokratien kooptieren ihre Mitglieder, und dieser Vorgang entzieht sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit.

Max Webers soziologische Analyse der Bürokratie hat, obwohl sie von einem Idealtypus ausgeht, einen gewissen Wahrheitsgehalt, der auf alle bürokratischen Institutionen zutrifft. Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Verläßlichkeit und Rationalität kennzeichnen danach den Beamten, der »unpersönlich« seines Amtes waltet, d. h.: »sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft … unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe; ›ohne Ansehen der Person‹, formal gleich für ›jedermann‹«.51 Zwar kann die Bürokratie durchaus zu einer antidemokratischen Kraft werden, aber ob das tatsächlich geschieht, hängt in viel größerem Maße von der Stärke der demokratischen Kräfte als von den ihr innewohnenden Tendenzen ab. Selbst wenn sie reaktionär werden sollte, wird die Bürokratie dazu neigen, ihre Maßnahmen auf gesetzlichem Wege durchzuführen, in Übereinstimmung mit den festen Regeln, an die sie sich halten muß. Sie wird ein Minimum an Freiheit und Sicherheit bewahren und so die Auffassung stützen, daß jedes rationale Gesetz, gleich welchen Inhalts, eine unbestreitbare Schutzfunktion hat.

Aus den genannten Gründen erscheint das rationale Verfahren der Bürokratie als unvereinbar mit dem Nationalsozialismus. Die Ablehnung der staatlichen Obergewalt ist daher mehr als ein ideologisches Mittel, das den Verrat der Partei an Armee und Beamtentum verbergen soll; sie ist Ausdruck der realen Notwendigkeit des System, sich der Herrschaft des rationalen Gesetzes zu entledigen.

Wir dürfen uns indes nicht dazu verleiten lassen anzunehmen, daß die Zentralisierung des bürokratischen Apparates in Deutschland in irgendeiner Weise geschmälert wurde, die Existenz der NSDAP die Macht der Bürokratie in irgendeiner Weise beschränkt hat. Im Gegenteil: Aufrüstung und Krieg haben die autoritäre Kontrolle der Bürokratien in Reich, Ländern und Gemeinden spürbar verschärft.

8. Die Partei als Verwaltungsapparat

Wir haben es also mit zwei gleichzeitig auftretenden Entwicklungen zu tun: einerseits dem enormen zahlen- und funktionsmäßigen Wachstum der staatlichen Bürokratien, andererseits der ideologischen Verteufelungskampagne, die sich gegen die Bürokratie richtet und von einer Kampagne zur Machtstärkung der Partei begleitet wird. Die Partei selbst stellt eine riesige Bürokratie dar; der Kampf der NSDAP gegen den Staatsapparat hat den Bürokratisierungsprozeß innerhalb der Partei keineswegs verlangsamt. Im Gegenteil hat die private Bürokratisierung, in völligem Einklang mit der allgemeinen Regel, gleichzeitig mit dem Staatsinterventionismus zugenommen. In dem Maße, wie die öffentliche Reglementierung fortschritt, nahmen die privaten Verbände einen bürokratischen Charakter an. Aufgrund der Komplexität staatlichen Handels sind die Individuen gezwungen, Organisationen beizutreten, ohne die sie keine Chance hätten, sich in dem Labyrinth der Reglementierung durchzusetzen. Derselbe Prozeß zwang die Organisationen, Experten zu bestellen, unter ihren Mitgliedern eine Funktionsteilung zu schaffen und feste Regeln ihres Handels aufzustellen. Als Folge davon ist die Partei nicht nur ein Verband gläubiger Gefolgsleute, sondern ebensogut eine Bürokratie. Sie stellt eine Mischung zweier Herrschaftstypen dar: des »charismatischen« und des »bürokratischen«52, und der Umfang ihres Verwaltungsapparates kann sich mit dem des Staates messen. Daher unterscheiden die Parteijuristen streng zwischen Parteiführung und Parteiverwaltung. Einem Juristen im Stabe des Reichsschatzmeisters zufolge ist »äußeres Sinnbild der Unterscheidung von politischer Führung und Verwaltung … die Errichtung eines Führerbaues«, der sich durch »künstlerische Vielgestaltigkeit« auszeichnet, »und eines Verwaltungsbaues«, der von »strenger Sachlichkeit und nüchterner Zweckmäßigkeit« beherrscht ist.53 Wir werden auf diese allegorische Darstellung noch einmal zurückkommen. Für den Moment ist es wichtig festzuhalten, daß die vollkommene Kontrolle der Parteiverwaltung seit dem 16. September 1931 in den Händen des Reichsschatzmeisters liegt. Dies ist in den Verordnungen vom 2. Juni 1933 und 23. März 1934 bekräftigt worden. »Die Verwaltung der NSDAP liegt völlig in meiner Hand«, bemerkt Franz Schwarz, der Reichsschatzmeister, »weil sie einheitlich sein muß.«54 Schwarz kontrolliert die gesamte Partei, ihre Gliederungen, namentlich die SA und die SS, und die ihr angeschlossenen Verbände (die Deutsche Arbeitsfront, die Verbände der Ärzte, Juristen, Techniker, Lehrer, Dozenten, Beamten; das NS-Kraftfahrzeug-Korps, die Hitlerjugend, den NS-Studentenbund). Eine dritte Kategorie, die sogenannten von der NSDAP »betreuten« Organisationen55, unterstehen ähnlich der Parteiaufsicht. Dazu gehören der Deutsche Gemeindetag, das Deutsche Frauenwerk, der Reichsbund der Kinderreichen und der Reichsbund für Leibesübungen.