Behemoth

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Je mehr wir uns der modernen Zivilisation nähern, desto mehr wird das Charisma von den sozialen und politischen Verpflichtungen des Königs getrennt.

Die orientalische Vorstellung vom Königtum, ja selbst der messianische Gedanke des Alten Testaments, beruhen auf der charismatischen Lehre. Der Grundgedanke ist, daß es ein urzeitliches Ungeheuer gegeben habe, das die Inkarnation des Bösen und der Feind Gottes und der Menschen gewesen sei (Tehom-Mythos).37 Jahwe, der Erlöser, habe dieses Ungeheuer schließlich vernichtet und zeitweiligen Segen über das Volk gebracht. Dies, der Grundgedanke nicht nur des Alten Testaments, sondern aller anderen orientalischen Religionen, liegt dem Glauben an die göttliche und magische Kraft der Könige zugrunde. Der König ist nicht nur Gottes Stellvertreter auf Erden, er ist der Gott. Heroen, wenn sie wahre Helden gewesen sind, waren ursprünglich nicht Menschen, sondern Götter.38 »Die frühestbekannte Religion ist der Glaube an die Göttlichkeit der Könige.«39

Die orientalische Vorstellung vom Königtum wurde von Alexander dem Großen nach Europa eingeführt. Vor seiner Zeit waren die griechischen Herrscher gänzlich politische Gestalten, ihr Verhältnis zum Volk hat einen rein rationalen Charakter besessen. Seit Alexander sind Könige als Götter verehrt worden.40 Der ideologische Abstand zwischen dem Reich Alexanders und dem des Augustus ist gering. Augustus wurde als Messias betrachtet41, wie Horaz’ Beschreibung zeigt: »Majas leichtbeschwingter Sohn … weile gern in des Quirinus Staat.«42

In der Geschichte der Germanen war das Charisma nicht an die Person des Königs, sondern an das Stammesgeschlecht gebunden43, wurde dabei jedoch nie als die einzige Quelle von Autorität und Gesetz betrachtet; die Zustimmung des Volkes war ebenso wichtig wie die Aura des auserwählten Geschlechtes. In der fränkischen Tradition verkörperte sich das Charisma in den wallenden Locken der Frankenkönige, die ihnen außergewöhnliche Macht und Glück verliehen. Dieser Glaube war gewiß nicht christlichen Ursprungs, was deutlich aus der Tatsache hervorgeht, daß die Kirche die germanische Auffassung von der Blutslegitimität ablehnte. Und doch leistete die Kirche durch einen verhängnisvollen historischen Zufall einen außerordentlichen Beitrag zur Wiederbelebung des charismatischen Glaubens. Nach dem Sturz der Merowinger-Könige und der Errichtung der Karolinger-Dynastie salbte die Kirche Pippin und übertrug so das Charisma von den Merowingern auf die Karolinger. Der Papst, der Prophet des Naturrechts, bestätigte den Staatsstreich der Karolinger und machte die Salbung sogar zu einem Sakrament, indem er dem neuen Herrscherhaus Gottes Gnade erteilte. Mit diesem Akt gab die Kirche aus Zweckdienlichkeitsgründen ihre alte Politik, die Verehrung der Könige als Götter abzulehnen, auf, eine Politik, die sie bei den byzantinischen Königen, namentlich gegen die Proskynese, mit aller Heftigkeit verfochten hatte.

Kurz darauf mußte die Kirche indes ihren Kampf gegen die Vergötterung der Könige wieder aufnehmen. Seit Robert dem Frommen hatten die französischen Könige, wie die Plantagenets in England, die Kraft zu heilen für sich in Anspruch genommen. Angeblich konnte die Berührung des Königs Skrofel heilen, und bei festen rituellen Anlässen drängten sich Tausende von Menschen um den Herrscher, diesen Segen zu erlangen. Der Gregorianische Streit zwischen Papsttum und Königtum war nicht nur ein Kampf um die Vorherrschaft der weltlichen oder geistlichen Macht, sondern ein Kampf der Kirche gegen den Anspruch der Könige auf magische und übernatürliche Kräfte.44 Seit dieser Zeit galt die Salbung nicht mehr als Sakrament, der Kaiser wurde zu einem Laien.

Trotz dieser kirchlichen Opposition lebte die wundertätige Heilkraft der Könige im Volksglauben fort. Der deutsche Kaiser Barbarossa versuchte, dem Deutschen Reich heilige Attribute beizugeben, um den Papst zu bekämpfen. Er betrachtete sich als numen, als göttliches Wesen mit prophetischen Kräften. Seine Gesetze waren sacer, heilig, die res publica war diva, göttlich. Unter dem Einfluß der orientalischen Vorstellungen wurde Friedrich II. von Hohenstaufen als personifizierter Gott betrachtet, und John von Salisbury, der große englische Humanist, sah in dieser ganzen Entwicklungsrichtung völlig zu Recht ein Zeichen für eine Rückentwicklung zum Heidentum.45 Der Aberglaube an die Heilkraft der Könige hatte eine außerordentlich lange Blütezeit; er hielt sich bis weit in das Zeitalter des Rationalismus hinein. Philipp der Schöne von Frankreich und seine Umgebung beriefen sich erneut auf die königliche Heilkraft als Gegengewicht gegen die Ansprüche Papst Bonifacius’ VIII.46 und gelegentlich auch, um die Enteignung des Ordens der Templer zu erleichtern. Das 14. Jahrhundert erlebte eine Renaissance der wundertätigen Praktiken und Glaubenssätze; Luther berichtet darüber ohne ein einziges kritisches Wort47, in Frankreich und England erschienen Dutzende von Pamphleten über die Heilkraft des Königs. Die Regentschaft von Cromwell ist die einzige Periode, in der diese Heilung nicht ausgeübt wurde. Nach der Restauration wurde der Glaube zu neuem Leben erweckt und zeitigte unter Charles II. einen erstaunlichen Berg an apologetischer Literatur.48 In Frankreich verschwand der Glaube kurz nach der Revolution.

Der bezeichnende Tatbestand in der Geschichte der wundertätigen Praktiken des Abendlandes ist, daß magische Kräfte immer dann beschworen werden, wenn der Herrscher seine Unabhängigkeit von der Religion und von gesellschaftlichen Kräften zu erlangen suchte. Alexander brauchte die Vergötterung für seine imperialistischen Eroberungen. Da er über Menschen mit vielerlei Religionen herrschte, hätte seine Identifikation mit einer davon die Gefahr mit sich gebracht, alle anderen verwerfen zu müssen. Indem er seine eigene Person zum Gott erhob, überragte er alle bestehenden Religionen. Andere Formen der Rechtfertigung, wie die rationale Lehre des Aristoteles oder die von den Sophisten vertretene demokratische Lehre, kamen nicht in Frage. Auch Augustus empfand die Notwendigkeit der Vergötterung aus ähnlichen Gründen49, und die Karolinger griffen darauf zurück, weil sie die neue Monarchie mit verfassungswidrigen Mitteln errichtet hatten. Friedrich Barbarossa und Friedrich II. beschworen das Charisma als Hilfsmittel zur Verteidigung der weltlichen Macht gegen Übergriffe der Kirche. In Frankreich und England, wo die Macht des Königs, Wunder zu bewirken, von den verschiedensten Apologeten verteidigt wurde, diente die Verherrlichung des Monarchen auch zum vorbeugenden Schutz gegen den Widerstand des Volkes. Die Bourbonen, die Plantagenets und die frühen Tudors behaupteten alle, kleine Götter zu sein, um ihre Person mit der nötigen Macht ausstatten zu können, widerspenstigen Untertanen Ehrfurcht einzuflößen.

4. Die Psychologie des Charisma

Anthropologische Theorien über den charismatischen Anspruch sind nicht unser Thema, doch bedarf es einiger Worte der Erklärung, warum er zu neuem Leben erweckt worden ist. Zweifellos ist die angeblich übernatürliche Begabung des Herrschers eine verfälschte Form des messianischen Gedankens, dessen Vorläufer bis zu dem »urzeitlichen Ungeheuer, das die Inkarnation des Bösen und der Feind Gottes und der Menschen war«, zurückzuverfolgen sind. Jedoch erklären solche Vorläufer nicht die Psychologie des Charisma, die wesentlich wichtiger als seine historische Analyse ist. Was den charismatischen Anspruch selbst angeht, so reicht es nicht aus, ihn als eine »Folge der angeborenen menschlichen Eigenschaft, von einer höheren Macht abhängig zu sein«, als eine natürliche Suche »nach einem, der angesichts momentaner Not hilft«, zu beschreiben.50 Solche Aussagen erklären nicht, warum die charismatische Lehre in bestimmten Perioden der Geschichte aufkommt, oder warum bestimmte soziale Schichten ihr mehr vertrauen als rationalen Überlegungen.

Das Problem erfordert eine Analyse der psychologischen Vorgänge, die zu dem Glauben an die wundertätige Kraft eines Menschen führen, einem Glauben, der gewisse vorreligiöse Neigungen des menschlichen Geistes kennzeichnet.51 Die Analyse kann auch zu einem Verständnis des psychologischen Vorgangs führen, der der Anbetung des Menschen durch den Menschen zugrundeliegt. Wie Rudolf Otto gezeigt hat, sind Geistesverfassung und angesprochene Emotionen die eines Individuums, das sich von seiner eigenen Unfähigkeit überwältigt fühlt und daher dazu neigt, an die Existenz eines Mysterium Tremendum, eines unerklärlichen Geheimnisses, zu glauben. Das Unerklärliche erzeugt Ehrfurcht, Angst und Schrecken. Der Mensch erschaudert vor dem Dämon oder vor Gottes Zorn. Aber seine Einstellung ist ambivalent – er fürchtet sich und ist fasziniert zugleich. Er erlebt Augenblicke der äußersten Verzückung, in denen er sich mit dem Göttlichen identifiziert.

Dieser vollkommen irrationale Glaube tritt in Situationen auf, die der Durchschnittsmensch nicht verstehen und rational erfassen kann. Nicht die Angst allein treibt die Menschen in die Arme des Aberglaubens, sondern das Unvermögen, die Ursachen ihrer Hilflosigkeit, ihres Elends und ihrer Erniedrigung zu erkennen. In Zeiten des Bürgerzwistes, des religiösen Aufruhrs und tiefgreifender sozialer und ökonomischer Umwälzungen, die Not und Elend erzeugen, sind die Menschen oft außerstande, oder werden vorsätzlich unfähig gehalten, die Entwicklungsgesetze zu erkennen, die ihre Lage herbeigeführt haben. Die am wenigsten von der Vernunft geleiteten Gesellschaftsschichten wenden sich Führern zu. Wie die Primitiven halten sie nach einem Erretter, der ihre Not abwenden und sie aus ihrem Elend befreien soll, Ausschau. Dabei gibt es immer – und häufig auf beiden Seiten – einen Faktor der Berechnung. Der Führer macht sich das Gefühl der Ehrfurcht zunutze und fördert es; die Gefolgsleute strömen ihm zu, um ihre Ziele zu erreichen.

 

Gehorsam ist in doppelter Hinsicht ein notwendiges Element der charismatischen Führung – sowohl subjektiv, als eine beschwerliche Last, wie auch objektiv, als Zwangsmittel zur Pflichterfüllung. Folglich kann es unter den Gefolgsleuten keine Gleichheit geben, denn sie beziehen die Macht vom Führer. Dieser muß Macht in ungleichen Dosen verteilen, damit er eine Elite besitzt, auf die er sich verlassen kann, die an seinem eigenen Charisma teilhat und ihm mit diesem Charisma zur Beherrschung der Massen verhilft. Eine charismatische Organisation beruht immer auf striktem Gehorsam innerhalb einer hierarchischen Struktur.52 Aber wenn das genuin religiöse Phänomen des Charisma in den Bereich des Irrationalen gehört, ist seine parallele politische Erscheinung nichts als ein Trick zur Erlangung, Bewahrung oder Vergrößerung der Macht. Es wäre ein fataler Fehler, sich darauf zu verlassen, daß es jeder rationalen Rechtfertigung der Staatssouveränität widerspricht. Der charismatische Anspruch der modernen Führer fungiert als bewußtes Mittel, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit im Volke zu nähren, Gleichheit zu beseitigen und stattdessen eine hierarchische Ordnung einzuführen, in der der Führer und seine Gruppe den Ruhm und den Nutzen des numen teilen. Dieses neue Charisma ist sogar noch wirksamer als das des primitiven Königtums: die Führer werden nicht entthront oder getötet, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Volk vom Übel zu befreien. Das do ut des gilt nicht mehr. Das Charisma ist absolut geworden; es verlangt Gehorsam gegenüber dem Führer nicht, weil dieser nützliche Funktionen versieht, sondern weil er angeblich übermenschliche Gaben besitzt.

IV. Das »Volkstum« als Quelle des Charisma

Die charismatische Macht des Führers muß von irgendwoher stammen, von Gott oder dem Stammesgeschlecht. In der nationalsozialistischen Theorie liegt ihre Quelle in dem »Volkstum«. Es gibt kaum eine nationalsozialistische Äußerung, die nicht betont, daß alle Macht vom Volke ausgehe. Wir haben gesehen, daß Carl Schmitts politisches »Dreigliederungs«-Schema scharfe Kritik auslöste, weil es in diesem Punkt abwich, als es dem Volk eine untergeordnete, unpolitische Rolle zuwies.

1. Nation und Rasse

Was verstehen die deutschen Nationalsozialisten unter Volkstum und Rasse, und warum bestehen sie auf ihrer Oberhoheit? Warum vermeiden sie so ostentativ den Gebrauch des gängigen Begriffes »Nation«?

Daß es Rassen gibt, läßt sich nicht leugnen; eine Rasse kann definiert werden als eine Gruppe von Individuen mit gewissen gemeinsamen, erblich vermittelten Merkmalen, die ausgeprägt genug sind, sie von anderen Gruppen zu unterscheiden.1 Da es uns hier nicht um anthropologische Probleme geht, können wir die Frage, welcher Art diese Unterscheidungsmerkmale und wann sie hinreichend ausgeprägt sind, außer Acht lassen. Ebensowenig geht es uns darum, irgend eine besondere Klassifikation der Rassen zu übernehmen; wir sind uns mit der großen Mehrheit der Anthropologen darin einig, daß es keine höheren oder niederen Rassen und keinen wissenschaftlich bestimmbaren Zusammenhang zwischen rassischen und kulturellen Eigenschaften gibt. »Die sogenannte rassische Erklärung von Unterschieden menschlicher Leistungsfähigkeit und Errungenschaften ist entweder abwegig oder betrügerisch.«2 Wir stimmen auch damit überein, daß es keine reinen Rassen gibt, daß »jede zivilisierte Gruppe, von der wir Kenntnis haben, eine hybride Gruppe ist, eine Tatsache, die ein für allemal mit der Theorie, hybride Menschen seien weniger wert als reinrassige, aufräumt«.3

Wissenschaftliche Argumente tragen wenig zum Verständnis des deutschen Rassismus bei. Es hat zum Beispiel wenig Sinn, den Rassismus mit dem Hinweis zu bekämpfen, daß der Begriff »Arier« nicht einen gemeinsamen Körperbau, eine gleiche Blutzusammensetzung, oder irgendeine andere physische oder biologische Gleichartigkeit, sondern lediglich eine gemeinsame sprachliche Wurzel bezeichnet. Selbst die Entdeckungen der NS-Anthropologie sind nicht in irgend einem nennenswerten Ausmaß in das nationalsozialistische Denkgebäude eingegangen, in dem lediglich von arischen Völkern oder der Überlegenheit des Nordischen und Germanischen die Rede ist. Statt die Rassentheorie zu widerlegen, müssen wir ihre gesellschaftliche, politische und kulturelle Bedeutung zu verstehen suchen. Der Versuch ist bereits gemacht worden. Kenner der Materie haben auf den engen Zusammenhang von Rassismus und Minderheitenverfolgung hingewiesen, wie er für die Inquisition, den Albingenser-Kreuzzug und die Kampagne gegen die französischen Hugenotten charakteristisch war; sie haben die Rassenverfolgung als eine zeitgenössische Form der religiösen Intoleranz und Ketzerjagd interpretiert. Auf dieser Grundlage ist Rassismus als eine Ideologie beschrieben worden, deren erklärtes Ziel die Verteidigung und Rechtfertigung »ungleicher Bürgerrechte« ist.4 Diese Theorie ist sicherlich richtig, hilft uns aber nicht zu begreifen, warum der Rassismus den Nationalismus verdrängt hat und warum der Antisemitismus, die deutsche Form des Rassismus, nicht nur als Mittel zur Verfolgung, sondern als echte Lebensauffassung akzeptiert wird, die das gesamte nationalsozialistische Weltbild bestimmt. Wir werden das Problem nur lösen können, wenn wir die Funktion der verschiedenen, damit verbundenen Begriffe analysieren.

»Rasse« ist ein ausschließlich biologisches Phänomen; der Begriff »Volk« enthält zusätzlich kulturelle Elemente. Gemeinsame Abstammung, gemeinsamer geographischer Raum, gemeinsame Sitten, gemeinsame Sprache und Religion – all das spielt beim Zustandekommen eines Volkes eine Rolle, wenngleich die besondere Bedeutung der einzelnen Elemente je nach historischer Situation variieren kann.5 Der Begriff »Volkstum«, der den Deutschen so lieb ist, beruht hingegen primär auf biologischen Merkmalen; die kulturellen Elemente dienen lediglich zur Unterscheidung verschiedener Gruppen innerhalb einer Rasse.

Im Gegensatz dazu ist »Nation« primär ein politischer Begriff. Er enthält den Gedanken des Staates, ohne den die Nation nicht denkbar ist. Ein Volk wird zu einer Nation, wenn es ein Bewußtsein gemeinsamer politischer Ziele besitzt, wenn es fähig ist, einen einheitlichen politischen Willen zu bilden und zu bewahren. Ein so namhafter politischer Führer wie Disraeli lehnte selbst den Begriff »Volk« ab. »Der Ausdruck ›das Volk‹ ist purer Unsinn. Es ist kein politischer Begriff. Es ist ein Ausdruck der Naturgeschichte. Ein Volk ist eine Gattung; eine zivilisierte Gemeinschaft ist eine Nation. Eine Nation aber ist ein Werk der Kunst und ein Werk der Zeit.«6

Nation und Nationalität stehen in einem inneren Zusammenhang mit dem Staat.7 Der moderne Staat ist jedoch nicht eine Schöpfung der Nation, sondern ein Ergebnis der Einführung von Warenproduktion, die dem Auftreten moderner Nationen vorausgegangen ist. Wenn das Arbeitsprodukt eine in Geld verwandelbare Ware ist, dann kann dieses Geld dazu verwendet werden, den Staat zu bauen, eine Bürokratie und ein stehendes Heer zu errichten. Die ersten modernen Staaten waren die italienischen Stadtstaaten, die nicht durch Nationalgefühl und nationales Streben, sondern durch Kapitalisten geschaffen wurden, die Soldaten und Bürokraten anwarben, um einen zentralisierten Apparat aufzustellen. In Italien, Frankreich und Deutschland wurden diese Staaten sogar von Fremden errichtet, mit deren Hilfe die französischen Könige, die italienischen podeste und die deutschen Fürsten die feudale Opposition niederrangen.8 So gesehen war der frühe moderne Staat nicht nur nicht national, sondern zutiefst antinational. Seine Regierungen hatten keine Legitimität. Die in dieser Zeit entwickelte politische Theorie befaßte sich, sofern sie nicht oppositionell war, einzig damit, arcana dominationis zu erdenken, Techniken, wie die Herrschaft absolutistischer Diktatoren zu errichten und zu bewahren sei. Machiavellis Fürst ist ihrer aller Prototyp.

Ihrer entscheidenden Funktion nach ist die »Nation« die ideologische Grundlage zur Rechtfertigung einer zentralen Zwangsgewalt über den feudalen, lokalen und kirchlichen Mächten. Sie dient als Mechanismus zur Zusammenfassung des ausgedehnten Netzes von Individual- und Gruppeninteressen, und zwar in der Zeit, da sich die Mittelklasse ihrer eigenen Ziele bewußt wurde und diese erfolgreich dem ganzen Volk aufprägte.

Die Theorie des Gesellschaftsvertrages, wie Hobbes sie entwickelt hat, reichte nicht aus, das Bedürfnis nach einem einigenden Mechanismus und einer einheitlichen Ideologie zu befriedigen, Rousseau zeigte sehr bald ihre Mängel auf. Hobbes hatte angenommen, daß egoistische Interessen die Gesellschaft irgendwie zusammenhielten und der Staat, als Agglomeration von Einzelwillen, selbst dann existieren könne, wenn seine einzelnen Mitglieder nicht von einem gemeinsamen Ziel durchdrungen seien. Im Gegensatz zu dieser Lehre erklärte Rousseau, daß die Gesellschaft »ein sittlicher, kollektiver Körper« sein muß.9 Der Übergang von der natürlichen zur politischen Gesellschaft, meint er, muß »wesentliche Veränderungen« im Menschen bewirken: »statt des Instinkts bestimmt jetzt die Gerechtigkeit seine Handlungen und gibt ihnen den sittlichen Charakter, der ihnen bisher fehlte.«10 Das Recht des Stärkeren, das für die politischen Lehren von Hobbes und Spinoza so grundlegend ist, vermochte keine Basis abzugeben, auf die sich Gesellschaft hätte stützen können; solches Recht, so erklärt Rousseau, wäre entweder überflüssig oder unsinnig.11

Die Nation schafft gemeinsame Ziele und gemeinsame Loyalitäten; sie macht den allgemeinen Willen konkret und den Staat von göttlicher Sanktion unabhängig, indem sie zwischen dem Individuum und seiner weltlichen Gemeinschaft exklusive Bande knüpft. Überdies verschafft die Nation jedem Staat eine legitimierende Basis und unterscheidet sich damit in dieser Beziehung vom Universalismus des Mittelalters. Schließlich räumt sie mit dem dynastischen Legitimationsprinzip auf, das den Staat mit dem Herrscher gleichsetzte.

In der Französischen Revolution stellte sich die Nation sodann als die entscheidende politische Kraft heraus. Zu dieser Zeit wurde der subjektive Faktor, das Nationalbewußtsein, der Wille zur politischen Einheit, zu einer objektiven Realität12, und eine Klasse, die Bourgeoisie, setzte sich selbst als Nation ein, so daß die Nation gleichsam zum Eigentum dieser Klasse wurde. Mittels der Nation prägte die Bourgeoisie dem ganzen Volk ihr Wertsystem auf.

Die Verschmelzung der Theorie des Nationalismus mit der viel älteren Lehre von der Volkssouveränität hatte revolutionäre Implikationen13, da sie das Aufkommen einer wesentlich weltlichen Gesellschaft mit einem universell anerkannten Wertsystem gestattete. Die Französische Revolution belegt die revolutionäre Stoßkraft des neuen Begriffs. Abbé Sieyès vertrat als erster die Auffassung, daß der dritte Stand, die Mittelklasse, die Nation ist, da sie allein den produktiven Teil der Gesellschaft bilde. Die Nation war in seiner Sicht die Zusammenfassung all jener Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden. Die Nation ist souverän, ihre bloße Existenz ihre völlige Rechtfertigung und ihr Wille oberstes Gesetz. Der Staat steht in ihren Diensten, die Staatsgewalt ist nur über und durch sie legitim. Eine solche, gegen die Aristokratie und Monarchie gerichtete Konzeption war eindeutig revolutionär. Ihr Einfluß war so stark, daß selbst die Konterrevolutionäre die Existenz der Nation nicht leugneten, sondern mühsam versuchten, sie zum Nutzen der Monarchie, oder des Bündnisses zwischen Monarchie und Aristokratie, zu wenden (de Maistre und Montlosier).14

Die Französische Revolution bestimmte den gesamten Verlauf der ideologischen Diskussion unter den europäischen Staaten, bevor Hitler zur Macht kam: die Nation als eine aus freien und gleichen Bürgern zusammengesetzte Einheit, der jakobinische Begriff der Nation. Nach Ernest Renan ist die Nation ein täglich erneuertes, durch die freie Entscheidung freier Menschen aufgestelltes Plebiszit.15

Die soziologische Funktion dieses neuen Begriffes erklärt sich von selbst. Es entstanden große, dicht besiedelte Wirtschaftsräume, durch gemeinsame Währung, gemeinsame Zölle und Transportwege miteinander vereinigt; sie zerschlugen die zwischen ihnen liegenden autonomen Mächte oder schwächten sie zumindest, und sie verlangten ein neues Treue verhältnis. Die französischen Revolutionen von 1791, 1793 und 1848 erklärten sämtlich, daß die Souveränität der Nation unteilbar und unveräußerlich sei. Die neue Nation wachte eifersüchtig über ihre Rechte, Deputierte wurden in ihrem Namen und nicht im Namen irgendeiner Gruppe oder Klasse gewählt, niemand durfte sich zwischen das Individuum und die Nation stellen. Dies wurde auf dramatische und drastische Weise in der Lex Le Chapelier demonstriert, einem während der Französischen Revolution verabschiedeten Gesetz, das die Organisation von Vereinigungen verbot. »Das Individuum«, erklärte Le Chapelier, »schuldet einzig und allein dem Staat und sonst niemandem Treue«.

 

Der Begriff der Nation dient außerdem dazu, eine Gesellschaft durch Abgrenzung von allen anderen zu individualisieren. Das kann nur geschehen, wenn Gesellschaften einander gegenüberstehen, die jede für sich spezifische, leicht zu unterscheidende Merkmale haben. Nach dem Zusammenbruch des mittelalterlichen Universalismus bot das dynastische Prinzip eine Grundlage zur Individualisierung. Als aber auch dieses Prinzip zerbrach und vom liberalistischen Staat abgelöst wurde, gab es keinen integrierenden oder individualisierenden Faktor mehr. Der liberalistische Staat selbst konnte diese Funktion nicht erfüllen. Sein Ziel war ein rein negatives: Schutz des Lebens, der Freiheit und des Eigentums. Staaten, das heißt bürokratische Apparate, Polizei- und Militärmaschinerien, weisen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede auf. Folglich mußte der nationale Gedanke die Lücke füllen, die das dynastische Prinzip hinterlassen hatte. Er bildete den individualisierenden Faktor in einer Welt rivalisierender Staaten.

2. Rassismus in Deutschland

Im Gegensatz zu Frankreich ist die nationale Souveränität in der deutschen Entwicklung nie betont worden. Tatsächlich setzte sich der Begriff der Nation in Deutschland nie durch. Zwar formulierte Fichte, einer der Vorläufer des völkischen Nationalismus16, den Gedanken einer deutschen Nation, aber dieser Begriff bezog sich auf »das Volk« und betonte die auf gemeinsamer Abstammung beruhenden rassischen und biologischen Eigenschaften auf Kosten der politischen Beziehungen und der bewußten freien Entscheidung gleicher Bürger. Selbst Wilhelm von Humboldt, ein großer Liberaler, bestritt die Souveränität der Nation17, und Heinrich von Treitschke hielt das Nationalitätsprinzip für eine bloße »Abstraktion«, eine »napoleonische Phrase« und »kahle Rede«.18

Die nationale Idee tritt gewöhnlich Hand in Hand mit den Prinzipien der Demokratie und der Volkssouveränität auf, und beide waren den deutschen Theoretikern und Politikern äußerst zuwider. Die Zerrissenheit Deutschlands und die Rivalitäten zwischen den verschiedenen deutschen Staaten und ihren Fürsten mochten sehr viel mit diesem Abscheu zu tun haben. Wann immer deutsche Theoretiker und Politiker von der Nation sprachen, trennten sie diese in jedem Falle von allen jakobinischen, demokratischen und politischen Implikationen, das heißt von jeder Lehre der Volkssouveränität. Eine biologische Rassentheorie ersetzte die politische Nationalitätstheorie. Lange vor Hitler zeigte sich die Tendenz, an die Stelle des politischen Bandes zwischen freien Menschen das natürliche Band zwischen »artgleichen« Deutschen zu setzen.

Es gibt noch einen weitern Grund dafür, weshalb die nationale Idee im deutschen Kaiserreich keine entscheidende Rolle spielte. Die Betonung der nationalen Souveränität als solcher macht alle Nationen gleich und schiebt dem Anspruch auf nationale Überlegenheit einen Riegel vor. Wenn die Nation auf der freien Entscheidung freier Menschen beruht, dann ist keine Nation einer anderen überlegen. Die nationale Souveränität hemmt die imperialistische Expansion. In der Tat verwerfen demokratische Staaten, wann immer sie sich auf eine solche Expansion einlassen, fast ausnahmslos den nationalen Gedanken und glorifizieren statt dessen rassische und biologische Merkmale, die ihnen eine angebliche Überlegenheit über die Eroberten geben. Die Doktrin von der Bürde des weißen Mannes kann diesen Tatbestand illustrieren und trifft auch für die USA zu. Wir brauchen nur die Schriften von Josiah Strong zu zitieren. »Es ist offenkundig«, so erklärte er, »daß der Angelsachse die Geschicke der Menschheit in seinen Händen hält, und es ist eine augenfällige Tatsache, daß die Vereinigten Staaten dazu ausersehen sind, die Heimat dieser Rasse, der Hauptsitz ihrer Macht … zu werden.«19 Diese Rassentheorie war ebensosehr eine Begründung imperialistischer Expansion wie eine Scheinlösung von Klassengegensätzen.

Doch hatten Rassentheorien keine grundlegende Bedeutung bei der Bildung der Ideologie des englischen und amerikanischen Volkes. Das rasche Aufblühen solcher Theorien in England und Amerika während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente als Hilfsmittel bei der Eroberung kolonialer, halbkolonialer oder sehr schwacher Staaten, doch wurden ihre Dienste nie zur Organisierung der totalen Macht der Nation für einen Krieg gebraucht. Nicht so in Deutschland. Die deutsche Expansion richtete und richtet sich gegen mächtige Staaten. Als Deutschland zu einer aktiven imperialistischen Macht aufrückte, sah es die Erde bereits unter die verschiedenen Militärmaschinerien aufgeteilt. Eine Umverteilung erforderte, wo sie nicht mit friedlichen Mitteln zu erreichen war, Waffengewalt und ungeheure Aufwendungen an Blut und Geld. Sie erforderte eine Ideologie, die riesige Anstrengungen in den Augen des Volkes rechtfertigen konnte. Diese Funktion erfüllte die angebliche Überlegenheit der deutschen nordischen Rasse.20

Als Ergebnis ist der Glaube an die rassische Suprematie der Deutschen tief in der deutschen Geistesgeschichte verwurzelt. Herder, der erste herausragende Geschichtsphilosoph, schrieb von einem »Völkerstamm, der durch seine Größe und Leibesstärke, durch seinen unternehmenden, kühnen und ausdauernden Kriegsmut … zum Wohl und Weh dieses Weltteils mehr als alle andren Völker beigetragen … Als die deutschen Völker das Christentum angenommen hatten, fochten sie dafür … Zum Ruhme gereicht es ihnen, daß sie auch gegen die später eindringenden Barbaren als eine lebendige Mauer standen, an der sich die tolle Wut der Hunnen, Ungarn, Mongolen und Türken zerschellte. Sie also sinds, die den größten Teil von Europa nicht nur erobert, bepflanzt und nach ihrer Weise eingerichtet, sondern auch beschützt und beschirmt haben«.21 Die gleiche Auffassung wird von einer ganzen Reihe deutscher Historiker, Philosophen und Ökonomen vertreten. Friedrich von Schlegel bemühte rassische Eigenschaften, um die Überlegenheit der germanischen Stämme über die Römer zu erklären.22 Heinrich von Treitschke, der Historiker der Bismarck-Zeit, interpretierte die Geschichte als einen durch das Aufkommen und den Untergang von Rassen gekennzeichneten Gang – obwohl er in der Rassenfrage eine etwas zweideutige Position vertrat – und stellte zwischen den rassischen Merkmalen der Deutschen und denen der Niederländer, Engländer, Russen, Italiener und Amerikaner einen Vergleich an, um zu beweisen, daß alle Nicht-Deutschen an Großmut, Sinn für Schönheit und »schlichter Aufrichtigkeit« des Wesens unterlegen seien.23 Kurz, Treitschke stellte einen Katalog deutscher Tugenden auf, der immer noch zum festen Bestand aller deutschen Propagandisten gehört. Zugleich bekämpfte er die völkische Teutonenphilosophie der Burschenschaften.24 Er vergötterte die Staatsgewalt, bestritt, daß sie jemals unrecht tun könne, und behauptete, daß der gesündeste und kraftvollste Ausdruck dieser Gewalt der Krieg sei.25