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Noch weit wichtiger scheint uns der Einfluß der sogenannten Staatsoder Kathedersozialisten auf die endgültige Entwicklung des nationalsozialistischen Rassismus zu sein. Die Schriften von Friedrich List und Adolph Wagner zeigen in aller Deutlichkeit die Faktoren, die zum Triumph des Rassegedankens beitrugen. Diese Männer26 versuchten, den sozialistischen Theorien vom Klassenkampf entgegenzuwirken, indem sie liberales politisches Denken zurückwiesen und ein staatskapitalistisches Modell entwarfen, das die Arbeiterklasse »eingliedern« und das ganze Volk mit dem Geist seiner rassischen Überlegenheit durchdringen sollte. Das Ziel war die Organisierung der Gesellschaft für imperialistische Unternehmungen. Adolph Wagner erkannte, daß die preußischen Bemühungen, die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung zu zerschlagen, unzureichend und zum Scheitern verurteilt waren. Er war auch der Ansicht, daß die westliche Vorstellung von der ›Nation‹ für Deutschland gefährlich sei, da sie die Vergabe gleicher Rechte an die Arbeiterklasse einschloß und dieser damit das Schicksal der Nation und des Staates ausliefern würde.

Friedrich List, der erste ausgesprochene Nationalsozialist – er war nicht bloß ein Vorläufer, sondern ein vollkommener Nationalsozialist – drang auf die Errichtung eines staatskapitalistischen Systems. Sein »Nationales System der politischen Ökonomie«27 umriß den Plan, und seine Denkschrift »Über den Wert und die Bedingungen einer Allianz zwischen Großbritannien und Deutschland« enthielt die weitere Ausarbeitung.28 Die »Allianzdenkschrift« enthüllt unmißverständlich die der Übernahme von Rassentheorien und Staatskapitalismus zugrundeliegenden Ursachen:

»Der herrschende Teil der Völker dieser Erde hat seit einiger Zeit angefangen, sich mehr und mehr nach ihrer Abstammung voneinander auszuscheiden … daß man in politischer Beziehung von einer deutschen, einer romanischen und von einer slawischen Rasse spricht; allein diese Unterscheidung scheint großen Einfluß auf die praktische Politik der Zukunft üben zu sollen. An der Spitze der drei Rassen stehen England, Frankreich und Rußland … Es ist kaum einem Zweifel unterworfen, daß die germanische Rasse durch ihre Natur und ihren Charakter von der Vorsehung vorzugsweise zur Lösung der großen Aufgabe bestimmt ist, die Weltangelegenheiten zu leiten, wilde und barbarische Länder zu zivilisieren und die noch unbewohnten zu bevölkern, weil keiner der beiden andern die Eigenschaft beiwohnt, in Masse nach fremden Ländern auszuwandern, dort … vollkommenere Gemeinwesen zu gründen und sich von dem Einfluß barbarischer und halbbarbarischer Urbewohner freizuhalten.«

England, von einer germanischen Rasse bewohnt sowie mit einer mächtigen Flotte und einem riesigen Empire ausgestattet, hat die Mission, die Welt neu zu gestalten. Das kann aber nur mit Deutschlands Hilfe gelingen. »Für alle Fälle wird die Allianz mit Deutschland für England das einzige wahre Mittel bleiben, um Asien und Afrika seiner künftigen Größe dienstbar zu machen, aber nicht Deutschland, wie es gegenwärtig ist, sondern Deutschland, wie es sein sollte und wie es mit Hilfe Englands werden könnte.«29 England muß erkennen, so erklärt List, daß Deutschland nicht auf der Grundlage des Freihandels stark werden kann. Die Doktrin des Freihandels eignet sich nur für eine Nation, die bereits mächtig ist. Deutschland ist uneinig und schwach, und nur Schutzzölle könnten seine politische Einheit und wirtschaftliche Macht gewährleisten. Deutschland muß so stark werden, daß es in der Lage ist, Englands Rivalen, Frankreich und Rußland, in Schach zu halten. Im übrigen gereiche, wie die Vergangenheit hinlänglich bewies, Deutschlands industrielles Wachstum England zum Nutzen, da England den deutschen Markt beliefert.

List entwickelte damit als erster die Theorie, die Hitler in »Mein Kampf« zur vollen Entfaltung brachte, und welche die nationalsozialistische Außenpolitik in den Jahren vor dem deutsch-russischen Nichtangriffspakt von 1939 in die Tat umzusetzen versuchte: eine Neuaufteilung der Erde zwischen Deutschland und England auf der Grundlage der deutschen Lehre von der rassischen Überlegenheit. Ähnliche Motive zeigen sich in den Schriften und der politischen Aktivität Adolph Wagners, des Führers der Kathedersozialisten.30 Die Grundfrage, die er sich stellte, lautet: Wie kann Deutschland mächtig werden? Seiner Meinung nach kann das nicht durch Übernahme des britischen Wirtschaftssystems, das heißt des Freihandels und freien Wettbewerbs, geschehen. Ebensowenig kann Deutschland groß werden, wenn es sich den marxistischen Sozialismus zu eigen macht, eine materialistische Lehre, die den Klassenkampf schürt und das Recht auf Eigentum negiert.31 Jedoch gesteht Wagner bereitwillig zu, daß die marxistische Kritik des Liberalismus einen wahren Kern enthalte. Die Lösung liegt darin, die deutsche Wirtschaft nach den von List vorgeschlagenen Richtlinien aufzubauen.32 Die Wirtschaft muß der Gemeinschaft, alle egoistischen Interessen müssen dem Staat untergeordnet werden. Die auf diesem Weg die Vorherrschaft erwerbende Gemeinschaft ist, nach dem von Herder und Schlegel entworfenen Modell aufgefaßt, rassisch bestimmt.33 Die von der germanischen Rasse geschaffene deutsche Kultur ist allen anderen überlegen. Seine aggressive Lehre vom Rassenimperialismus brachte Wagner im französisch-preußischen Krieg von 1870 zur praktischen Anwendung, wo er Frankreich heftig als einen einstmals mächtigen, nun aber dekadenten Staat denunzierte, der letztlich unterliegen wird, weil seine gallische Rasse verglichen mit der germanischen biologisch tieferstehe.34 Deutschland könne nicht den ihm gebührenden Platz erringen, wenn es den Prinzipien des Manchester-Liberalismus anhänge. Im »Verein für Sozialpolitik« (1872) bot sich Wagner ein machtvolles Medium, Liberalismus und Sozialismus gleichermaßen anzuprangern und der akademischen Welt (und über sie dem Beamtentum) seine staatssozialistische Idee einzuhämmern. Die staatliche Reglementierung, wie er sie vorhersah und begrüßte, würde die Produktionskapazität der Industrie ausschöpfen und erweitern und dadurch die ökonomische und politische Macht des Proletariats schwächen.

Von diesem Rassenimperialismus zum Antisemitismus war es nur ein Schritt. Auf diesen werden wir später noch näher eingehen.

Die große Popularität der Rassenlehre beginnt mit der Veröffentlichung des dilettantischen Machwerks von Houston Stewart Chamberlain »Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts«35, einer 1854 erschienenen Bearbeitung der Abhandlung des Grafen Gobineau über »Die Ungleichheit der Menschenrassen«36. Gobineau verwarf in seinem Werk die französischen Revolutionen von 1789 und 1848 und alles, wofür sie stehen. Seine Lehre war zum Kampf gegen den politischen Liberalismus und die Arbeiterbewegung bestimmt, und das Buch, in dem er sie vertrat, war dem König von Hannover gewidmet, der erst kurz zuvor die liberale Verfassung mit verfassungswidrigen Mitteln beseitigt hatte. Gobineau suchte eine ideologische Grundlage für seine Staatsform, die das Proletariat von politischen Rechten ausschließen, der aristokratischen Herrschaft ein festes Fundament sichern und zugleich die konterrevolutionären französischen Theorien von Bonald und de Maistre noch vervollkommnen sollte. Gobineau sieht die Aristokratie als rassisch bedingt an. Er entwickelt eine Rassenhierarchie, in welcher der Neger die niedrigste Art darstellt und die weiße Rasse die einzig zivilisierte ist, wobei die hellhäutige, blonde germanische Rasse eine besondere Führungsposition einnimmt. Weiterhin ist es England und nicht Deutschland, das als typisch für die germanische Rasse gilt. Es wurde ein eigener Gobineau-Verein gegründet, der viel zur Verbreitung der Lehre des Meisters beitrug.37 Gobineau ging es jedoch nicht um die Rechtfertigung irgendeines Imperialismus’, weder des französischen, noch des deutschen oder englischen. Sein Hauptinteresse galt der Bewahrung, oder vielmehr der Restauration der Privilegien einer Aristokratie, deren politische Macht durch eine Reihe von Revolutionen erschüttert war und deren Herrschaft sich nicht länger mit der Tradition rechtfertigen ließ.

Die Gobineausche Lehre wurde von Houston Stewart Chamberlain und dessen Schwiegervater, Richard Wagner, neu bearbeitet; in ihren Händen wurde sie zu einem machtvollen Instrument für den Rassenimperialismus und Antisemitismus. Es wäre ermüdend, Chamberlains Argumente hier zu wiederholen. Kurz gesagt meinte er, daß der teutonischen Rasse alle jene angehörten, »die .. als wahre Gestalter der Geschicke der Menschheit auftreten, sei es als Staatenbildner, sei es als Erfinder neuer Gedanken und origineller Kunst … daß unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des Germanen«.38 Chamberlain ging weit über Gobineau hinaus, ja er kreidete ihm sogar an, die schöpferische Funktion von Mischrassen anerkannt zu haben. Reine Rassen, so meinte er, bildeten sich im Laufe eines langen historischen Prozesses heraus, der letztlich eine Rasse von Übermenschen hervorbringen werde.

Richard Wagner lernte Gobineau im November 1876 in Rom kennen, war tief von ihm beeindruckt39 und wurde zu einem glühenden Verfechter seiner Theorien. Als Chamberlain Mitglied des Wagner-Kreises wurde und später Wagners Tochter heiratete, ging die Begeisterung seines Schwiegervaters für Gobineau bald auf ihn über. Die zwischen ihm und seiner Schwiegermutter, Cosima Wagner, gewechselten Briefe40 geben deutlich Aufschluß über die Entwicklung der Rassenlehre und den Einfluß der Persönlichkeit und des Denkens Gobineaus auf den Wagner-Kreis. Merkwürdig genug, weist Chamberlain den Gedanken, eine reine Rasse sei einer hybriden überlegen, zurück (Brief vom 15. November 1893). Er schreibt die Gegenthese Gobineau zu und erklärt sogar, »daß über einige Ausführungen im X. Bande (der Gesammelten Schriften R. Wagners) der Schatten der Gobineauschen Lehren wie eine dunkle Wolke liegt.«41 Der Briefwechsel macht darüberhinaus verstärkt klar, daß der gesamte fertige Bau der »Grundlagen« lediglich eine Ausschmückung des Chamberlainschen Antisemitismus’ war, dessen zentrale These in der Behauptung gipfelte, die Juden hätten sich zur Vernichtung der germanischen Rasse verschworen.42 In einem Brief vom 11. November 190243 betont Chamberlain: »Der Abschnitt über den Semitismus ist für mich der wichtigste.« Der Gedanke einer jüdischen Verschwörung taucht in den Diskussionen des Wagner-Kreises, namentlich in den Äußerungen von Richard Wagner selbst, immer wieder auf. Wagner hielt mit erstaunlicher Hartnäckigkeit an diesem Gedanken fest, und das obwohl einer seiner einflußreichsten Wegbereiter in der Musikwelt Hermann Levi war, Leiter der Königlichen Oper München, der Wagners Opern seine ganze Energie schenkte. Wagner dagegen verdächtigte Levi immer und bildete sich ständig eine jüdische Verschwörung ein, wenn irgend etwas bei der Aufführung seiner Werke schiefging. Dies geht besonders deutlich aus dem Briefwechsel zwischen ihm und König Ludwig II. hervor.44

 

3. Antisemitische Theorien

Der Rassismus wurde zunehmend zum puren Antisemitismus: in dem Maße, wie sich die Doktrin der deutschen Rassenüberlegenheit durchsetzte, entwickelte sich auch die antisemitische Gesinnung fort. Wiederum wäre es nutzlos, den Wahrheitsgehalt von nationalsozialistischen antisemitischen Äußerungen einer wissenschaftlichen Diskussion zu unterziehen, denn der Antisemitismus ist tief in der deutschen Geschichte verwurzelt. Die Judenhetze zieht sich durch die gesamte Geschichte des deutschen Geisteslebens, und antisemitische Organisationen spielten auch schon in der Kaiserzeit eine führende Rolle.

Mit Ausnahme Lessings, Goethes, Schellings und Hegels verrieten fast alle großen deutschen Dichter und Denker, auch wenn sie keine ausgesprochenen Antisemiten waren, häufig unbewußt eine antisemitische Gesinnung, die in scharfem Gegensatz zu den von ihnen vertretenen humanitären Philosophien stand.

Martin Luther war der erste unverhohlene und leidenschaftliche Antisemit. Christen, warnt er, sollen nicht mit Juden über die Glaubensartikel debattieren. Besser sei es, die Juden aus Deutschland zu vertreiben. Seine ironischen Bemerkungen, wie sie verjagt werden sollen, klingen oft wie jene des »Stürmer«, dem antisemitischen Blatt Streichers, in dem Anzeigen erscheinen, welchen den Juden Fahrkarten nach Palästina antragen – Rückreise ausgeschlossen. »Land und Straßen«, sagt Luther, »stehen ihnen offen, sie mögen in ihr Land ziehen, wann sie wollen, wir wollten gerne Geschenke dazu geben, daß wir ihrer los wären, denn sie sind uns eine schwere Last, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserem Lande.« Dieser Erklärung folgen weitere, aus denen bitterer Haß und Ressentiment sprechen. Wenn die Juden gehen, soll man ihnen »alle Barschaft und Kleinod an Silber und Gold« nehmen; »daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiß der Nase, wie Adams Kindern aufgelegt ist«; »daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke«; »daß man ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre … Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun wie die Zigeuner … in der Verbannung und gefangen, wie sie ohne Unterlaß vor Gott über uns Zeter schreien und klagen.«45

Die zwei speziellen Abhandlungen, in denen diese fanatischen Haßausbrüche vorkommen, sind typisch für die Gesinnung eines kleinen Teils des deutschen Mittelstandes in der ganzen modernen Geschichte Deutschlands; sie bildete die Grundlage für antisemitische Handlungen bis hin zu der Zeit, als der Nationalsozialismus sie zu einem Bestandteil der offiziellen Politik machte.

Fichte war ein erklärter Antisemit, und seine antisemitischen Gefühle nahmen in der Periode ihre schärfste Form an, als er seine beinahe anarchistische Staatstheorie entwickelte. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß die antisemitischen Äußerungen in die liberale Periode seiner Entwicklung fallen. Der Zusammenhang ist nicht zufällig, wie wir erkennen können, wenn wir uns daran erinnern, daß gerade die liberale Bewegung in der auf die Französische Revolution und die Befreiungskriege folgenden Periode den Antisemitismus aufgriff und weiterführte. Die Herrschaft Napoleons hatte den Juden in Deutschland die rechtliche Emanzipation gebracht, und der Kampf gegen Napoleon wurde dort zu einem Kampf gegen all das, was mit seinen Reformen erreicht worden war. Mit liberalen und vaterländischen Losungen zerstörten Pöbelhaufen jüdische Häuser und Synagogen, während die Mißhandlung von Juden zu einer fast alltäglichen Erscheinung wurde. Seit den Befreiungskriegen ist der Antisemitismus in Deutschland stets eine politische Kraft gewesen. Die Bismarck-Zeit machte ihn zu einer Volksbewegung. Den Juden wurden für die Finanzkrise, die dem Wirtschaftsaufschwung der Jahre nach dem Krieg von 1870 ein Ende setzte, die Schuld gegeben. 1873 veröffentlichte Wilhelm Marr, ein Hamburger Journalist, ein Pamphlet mit dem Titel »Der Sieg des Judentums über das Germanentum«46, das zu heftigem Judenhaß aufhetzte. In der gleichen Zeit gesellte sich der antisemitischen Welle ein aggressiver Imperialismus hinzu, der mit rassischen Argumenten gerechtfertigt wurde.

Die beiden zuletzt genannten Entwicklungsrichtungen verschmolzen zu einem Ganzen, als Adolph Wagner sich dem Hofprediger Stöcker in der »Christlich Sozialen Arbeiterpartei«, gegründet 1878, anschloß.47 Das ursprüngliche Ziel dieser Organisation war, die Unterstützung der Arbeiter für das imperialistische Programm zu gewinnen. Sie entwickelte sich bald zu einer durch und durch antisemitischen Partei, die weitverzweigte Propaganda betrieb und in den Reichstag einzog. Eine ganze Flut von antisemitischen Schriftstellern kennzeichnet diese Periode: Eugen Dühring, der berühmte Kritiker des liberalen Kapitalismus, den Engels in seinem »Anti-Dühring« bekämpfte; Max Stirner, der Anarchist, und Hermann Ahlwardt, der zu Pogromen aufhetzte und dem es gelang, einen Ritualmordprozeß in Xanten bei Düsseldorf zu inszenieren. Zuletzt ging die Bewegung ein politisches Bündnis mit der Konservativen Partei ein.

Obwohl der Antisemitismus nirgendwo so aktiv propagiert wurde wie in Deutschland, konnte er in der Bevölkerung doch nicht festen Fuß fassen; die Agitation nahm dermaßen fanatische Formen an, daß sie sich am Ende ihre eigene Niederlage bereitete. Die Arbeiterbewegung blieb immun dagegen, der Vorkriegsführer der deutschen Sozialdemokraten, Bebel, erhielt Beifall, als er den Antisemitismus als »Sozialismus der dummen Kerls« brandmarkte. 1885 strichen die Konservativen den Antisemitismus aus ihrem Parteiprogramm und lösten ihre Verbindung zur Antisemitenpartei, was zu deren parlamentarischer Niederlage führte.

Der Antisemitismus gehörte auch zum politischen Grundsatz des »Alldeutschen Verbandes«, der die Forderung nach einem großdeutschen Reich, insbesondere einem Mitteleuropa unter deutscher Hegemonie, erhob48.

Drei Hauptthemen kehren in diesen antisemitischen Schriften stets wieder. Erstens die Gleichsetzung von Kapitalismus und Judentum, vor allem in den Schriften Adolph Wagners. Dieser These ist in Werner Sombarts berühmten Buch »Die Juden und das Wirtschaftsleben« eine wissenschaftliche Untersuchung gewidmet worden. Die zweite These besagt, daß die Juden auch die Führer des marxistischen Sozialismus sind. Beide Themen tauchen in dem nationalsozialistischen Propagandaschema immer wieder auf und durchziehen die gesamte Autobiographie Hitlers.49 Das dritte und machtvollste Thema vereinigt die beiden erstgenannten: die Führer des Weltjudentums (die Weisen von Zion) haben eine jüdische Weltverschwörung zur Vernichtung des »Ariertums« organisiert. In dieser Verschwörung sind einige Juden zur Führung des Weltkapitalismus, andere zur Führung der Machenschaften des internationalen Sozialismus und Bolschewismus abgestellt worden. Den Beweis für diese Verschwörung liefern die schändlichen »Protokolle der Weisen von Zion«, deren Geschichte zu gut bekannt ist, als daß sie hier erörtert zu werden brauchte50.

4. »Blutschutz« und »Judengesetze«

Der Nationalsozialismus ist die erste antisemitische Bewegung, die die völlige Ausrottung der Juden verficht. Aber dieses Ziel ist nur Teil eines weitergehenden, als »Reinerhaltung des deutschen Blutes« definierten Planes, in dem sich Barbarei und einige wenige progressive Züge zu einem abstoßenden Ganzen verbinden. Um sicherzustellen, daß sich die »nordischen« Menschen in ausreichender Zahl fortpflanzen, sind »vorbeugende Schutzmaßnahmen« verordnet worden.51 Eine Ehe darf nur nach gründlicher ärztlicher und rassenhygienischer Untersuchung geschlossen werden. Angehörige der SS müssen eine besondere Eheerlaubnis erhalten. Noch wichtiger sind die Maßnahmen, die die Fortpflanzung physisch und biologisch ›untauglicher‹ Personen verhindern sollen, nämlich die Kastration von Gewohnheitsverbrechern und die Sterilisation von Erbkranken. Der Begriff »Gewohnheitsverbrecher« bezieht sich hier auf Personen über 21 Jahren, die bereits zweimal wegen eines Sexualvergehens zu einer Freiheitsstrafe von je sechs Monaten verurteilt worden sind, oder auf Personen, die »wegen eines zur Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs begangenen Mordes oder Totschlags« verurteilt wurden. Die eine Kastration anordnende Instanz ist die Strafkammer.

Grundlage der eugenischen Gesetzgebung ist das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933. Es erlaubt die »Unfruchtbarmachung« in folgenden Fällen: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht (Epilepsie), 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung. Der Patient, der beamtete Arzt oder der Leiter der Anstalt, in die der Patient eingewiesen wurde, können einen Antrag an ein spezielles Sterilisationsgericht, das »Erbgesundheitsgericht«, stellen, das aus einem Richter, einem beamteten Arzt und einem approbierten Arzt besteht. Gegen die Entscheidung dieser Instanz kann vor einem Appellationsgericht, dem »Erbgesundheitsobergericht«, Beschwerde eingelegt werden, das eine ähnliche Zusammensetzung wie das erste Gericht hat, und dessen Entscheidungen endgültig sind.52

Die Gerichte haben das Sterilisationsgesetz überaus weit und brutal ausgelegt.53 Wenn wir den Aussagen von William Shirer in seinen im Magazin »Life« veröffentlichten Artikeln glauben dürfen,54 dann hat Himmler, der Chef der deutschen Polizei und Führer der SS, allein in diesem Krieg die Exekution von etwa 50 000 Geisteskranken angeordnet. Da Himmler einer der eingefleischtesten Rassenfanatiker und Herr über Leben und Tod in Deutschland ist, hat der Bericht Shirers eine hohe Wahrscheinlichkeit.

Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, die teilweise in dem »Das Großdeutsche Reich« überschriebenen Kapitel erörtert wird, gehört wohl zu dem Empörendsten, was die nationalsozialistische Politik überhaupt hervorgebracht hat. Sie entbehrt so sehr christlicher Nächstenliebe, ist so wenig durch Vernunft zu rechtfertigen und widerspricht so vollkommen dem Mitleid und Mitfühlen, daß sie wie das Tun durch und durch heidnischer Menschen anmutet. Ihr Schwerpunkt liegt auf den beiden folgenden, von den NS-Führern angeordneten Geboten: für die deutschen Frauen, verheiratete wie ledige, dem Gebot, Kinder zur Welt zu bringen und für die SS dem Gebot, alle jene zu töten, die nicht lebenstüchtig seien. Gebäre so viele Kinder wie möglich, damit die Herrenrasse die Erde beherrschen kann, töte die Kranken, damit die Herren sich nicht die Last der Fürsorge für die Schwachen aufzubürden brauchen.

In dieser Hinsicht besteht ein vollkommener Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus. Das Privileg der Nazis ist nicht die Verfolgung politischer Gegner – sie wird in beiden Ländern ausgeübt – sondern die Ausrottung hilfloser Individuen.

Derselbe Geist erfüllt die gesamte antijüdische Gesetzgebung, die wir hier nur in ihren groben Umrissen behandeln können. Der Prozeß der Verstädterung, der die gesamte Bevölkerung erfaßt hatte, war bei den Juden, vor allem unter dem Hitler-Regime, besonders ausgeprägt. Schon Jahre vor Hitlers Machtübernahme war jedoch der Anteil der jüdischen Bevölkerung aufgrund der fallenden Geburtenrate bei Juden, häufiger Mischehen und zahlreicher Austritte aus der jüdischen Gemeinde rückläufig gewesen.55

 

Der jüdische Einfluß in den freien Berufen und in den Großstädten war zweifellos stark. Außer in den freien Berufen waren die Juden hauptsächlich in Handel, Gewerbe und Verkehr vertreten, obschon auch ihr Anteil an der Industrie nicht unbeträchtlich war. In der Landwirtschaft spielten sie – wenn überhaupt – nur eine sehr kleine Rolle. Die meisten Kaufhäuser waren im Besitz von Juden; Juden überwogen auch im Metallgewerbe (57,3%), wenngleich der Einfluß des freien Metallgewerbes infolge des in einem der vorgehenden Kapitel erwähnten Monopolisierungsprozesses stark zurückgegangen war. Juden kontrollierten 18,7% aller Banken und den größten Teil der Bekleidungsindustrie. Freilich war die wirtschaftliche Bedeutung der Banken im Schwinden begriffen, da das Finanzkapital schon lange seinen ersten Platz an das Industriekapital abgetreten hatte.56

In der eigentlichen Industrie war der Einfluß der Juden nicht sehr groß. Nur von einem der elektrotechnischen Konzerne läßt sich sagen, er sei jüdisch gewesen. Natürlich gab es jüdische Vorstands- und Aufsichtsratmitglieder in einigen großen Industrieunternehmen. Wo aber Juden hohe Posten in der Unternehmensführung innehatten, war dies ihrer Tüchtigkeit und ihren Fähigkeiten zuzuschreiben; andernfalls wären sie nicht von den führenden Männern der Industrie geduldet worden, da diese durchweg Antisemiten waren. Paul Silberberg zum Beispiel war der Gründer der Rheinischen Braunkohlenindustrie, und Oscar Oliven leistete Hervorragendes auf dem Gebiet der Elektrifizierung. Die meisten der sogenannten führenden jüdischen Industriellen hatten jedoch tatsächlich ihre Beziehungen zur jüdischen Gemeinde abgebrochen, waren dazu meistens noch aktive und eifrige Katholiken oder Protestanten und in politischer Hinsicht Reaktionäre, die sehr gern der NSDAP beigetreten wären, wäre diese Partei nicht so überwiegend antisemitisch gewesen.

Die antisemitischen Gesetze betreffen die Stellung der Juden als »Reichsbürger«. Das eine der beiden sogenannten Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, verbot Eheschließungen zwischen Juden (einschließlich Personen, die einen jüdischen Großelternteil hatten) und »Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes« (§ 1). Nicht-Arier mit einem oder mehreren jüdischen Großelternteilen durften nur mit Genehmigung des Reichsministers des Innern und des Stellvertreters des Führers untereinander heiraten. Gesetzeswidrige Heiraten (Verstöße gegen § 1 BlutschutzG) sowie außerehelicher Geschlechtsverkehr (§ 2: »Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten«) wurden mit Zuchthaus bestraft. Juden war »das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten« (§ 4,1). Außerdem durften sie »weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen« (§ 3).

Dieses »Blutschutzgesetz« gehört zu den schändlichsten im Repertoire der Nationalsozialisten. Es öffnet nicht nur der Erpressung Tür und Tor, sondern hat zur völligen Beseitigung der letzten Überreste des ehemals vom Strafgesetzbuch garantierten Rechtsschutzes geführt. Obwohl das Gesetz ausdrücklich nur den außerehelichen Geschlechtsverkehr verbietet, und obwohl § 3 StGB den Territorialgrundsatz bekräftigt, demzufolge die deutschen Strafgesetze nur auf alle im Gebiete des Deutschen Reiches begangenen Straftaten Anwendung finden, haben die Gerichte das Gesetz weit über seinen ursprünglichen Wortlaut hinaus ausgelegt, und so sind heute »Rasseverrat« und »Rassenschande« auch dann strafbar, wenn sie von im Ausland lebenden Deutschen begangen werden.57 Die neue Auslegung stützt sich auf § 2 StGB in seiner durch Gesetz vom 28. Juni 1935 geänderten Fassung, der festlegt: »Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Gesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.« Drastisch wie er ist, ist dieser Paragraph eindeutig nicht auf die hier zur Diskussion stehende Sache anwendbar, und ein alter, hochgeachteter Professor des Strafrechts übte auch sofort scharfe Kritik an den auf der Grundlage dieses Paragraphen ergangenen Gerichtsurteilen.58 Er verwies darauf, daß die Entscheidungen des Reichsgerichts nicht ein einziges Wort des Beweises enthielten und daß § 2 ein Abgehen vom Territorialgrundsatz, auf dem die gesamte Struktur des Strafgesetzbuches beruhte, nicht zulasse.

In den Gerichtsentscheidungen, die den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden betreffen, hat sich eine zunehmende Grausamkeit gezeigt. So erachtete es das Reichsgericht zum Beispiel als Strafverschärfungs- und nicht als Strafmilderungsgrund, daß ein alter arischer Mann, der mit einer jüdischen Frau, die er heiraten wollte, zusammenlebte, das Verhältnis auch noch nach Inkrafttreten des »Blutschutz-Gesetzes« aufrechterhielt. Ein solches Verhalten, so erklärte das Gericht, lasse auf »eine besonders hartnäckige Auflehnung gegen die nationalsozialistische Gesetzgebung« schließen.59 Mit gleicher Härte wurde in Fällen entschieden, bei denen das unverheiratete Paar ein Kind hatte, für dessen Unterhalt es voll aufkam.60

Die völlige Abkehr der Gerichte von der Legalität geht noch deutlicher aus ihrer Auslegung des Begriffes »verbotener Geschlechtsverkehr« hervor. Eine ganze Reihe von Handlungen, die in keiner Weise einen Geschlechtsverkehr darstellen, sind für strafbar erklärt worden61, und selbst eine mündliche Aufforderung zum Geschlechtsverkehr wurde als »versuchte Rassenschande« ausgelegt und bestraft.62 Es ist ein Rätsel, wie solche Entscheidungen mit dem Gesetz zu vereinbaren sind, dessen Zweck nach einer Definition des Reichsgerichts darin besteht, »das im deutschen Volke kreisende … deutsche Blut als einen lebendigen Organismus« zu schützen.63 Die Entscheidung ist mit gleicher Grausamkeit auf (von Juden und Nicht-Ariern begangene) »Rassenschande« wie auf (von Deutschen begangenen) »Rassenverrat« angewendet worden. Die Bemühungen zielten auf die systematische Schaffung eines rechtlichen Gettos ab; zahlreiche Gesetzesbestimmungen und Gerichtsurteile haben die politischen Rechte der Juden und Nicht-Arier nach und nach auf ein Nichts reduziert. Die Verordnung vom 17. August 1938 und die Durchführungsbestimmung des Reichsinnenministers vom 23. August 1938 betrafen die jüdischen Vornamen. Jeder Jude, der keinen als zulässig eingetragenen Namen hatte, wurde danach gezwungen, »Israel« oder »Sara« hinzuzusetzen. Nach Inkrafttreten des Gesetzes geborenen Juden durften nur solche Namen gegeben werden, die in der Ministervorschrift zugelassen waren. Namen wie David, Abraham, Jakob, Daniel, Gabriel, Judith, Eva und Ruth, die alle historische oder religiöse Bedeutung haben, waren darin nicht aufgeführt und folglich für Juden verboten. Die zulässigen Namen wurden jiddisch geschrieben und ausgesprochen, um sie in den Augen der Deutschen als fremdländisch und lächerlich abzustempeln. Wer unabsichtlich oder fahrlässig gegen die Vorschrift verstieß, wurde mit einer Geldstrafe belegt oder zu Gefängnis bis zu einem Monat verurteilt. Eine Verordnung vom 5. Oktober 1938 machte Sonderstempel für die an Juden ausgegebenen Pässe zur Auflage. Eine frühere Vorschrift (23. Juli 1938) verpflichtete die Juden, besondere Ausweispapiere zu beantragen, die sie ständig bei sich zu tragen und Anträgen an Staatsoder Parteibehörden beizulegen hatten.