Behemoth

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Man kann die politische Arglosigkeit, wenn nicht die Selbsttäuschung der Reformstrategen am Ende der Weimarer Republik recht gut durch eine Anekdote erläutern. Franz Neumann hatte 1930 auf die pessimistische Krisendiagnose der Weimarer Verfassung, die sein jungsozialistischer „Genosse“ Otto Kirchheimer vorgelegt hatte, negativ reagiert: Vordringlich sei nicht die marxistische Kritik des gegebenen Staates, vielmehr sei es „die zentrale Aufgabe der sozialistischen Staatstheorie, den positiven sozialen Gehalt des zweiten Teils der Weimarer Verfassung zu entwickeln und konkret darzustellen … Wenn Kirchheimer in seiner Überschrift, die sehr stark kommunistischen Gedankengängen nahekommt, ,Weimar – und was dann?‘ fragt, dann kann die Antwort nur lauten: ,Erst einmal Weimar‘!“9

Franz Neumann hat diese defensive Haltung in wirtschaftspolitischen Dingen lange beibehalten, während sich Kirchheimer bekanntlich seit 1930 daran machte, das ganze Ausmaß der antidemokratischen Reaktion zu dokumentieren: In der Justizpraxis ebenso wie im akademischen Staatsrecht, in der Verselbständigung der Bürokratie gegenüber dem Parlament ebenso wie im Notverordnungsregime des Reichspräsidenten sah er Kräfte am Werke, die das Legalitätsgerüst der Weimarer Republik unterminierten und auf einen autoritären Staat hinarbeiteten.10 Erst als Neumann 1932 neben seiner Gewerkschaftsarbeit zusätzlich als Syndikus der SPD tätig wurde, positionierte er sich in der größeren politischen Öffentlichkeit und ergriff Partei z.B. gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit.11

II. Im Exil: Radikalisierung der Theorie und Analyse des Nationalsozialismus

Die Machtergreifung Hitlers erlebte Franz Neumann als Schock. Jetzt war er so exponiert, dass er sofort in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung geriet: Als am 2. Mai 1933 SA-Schergen sein Büro im Kreuzberger Gewerkschaftshaus stürmten, entging er nur knapp der Verhaftung und machte sich wenig später auf den Weg nach London. Wieder ist es erstaunlich, wie schnell er sich im englischen Exil zurechtfand: Neumann hielt sich nicht lange mit der schmerzlichen Zerstörung seines beruflichen Wirkungsfeldes auf, vielmehr nutzte er seine wohl schon vorher bestehenden Beziehungen zur englischen Labour-Party, um sich neu zu orientieren. Durch die Vermittlung von Harold Laski erhielt er ein Stipendium und begann ein Promotionsstudium an der London School of Economics, in dem sich seine bisherigen Erfahrungen in Deutschland im angelsächsischen Wissenschaftssystem sozusagen zu spiegeln begannen. Vorher Gegner jedes politischen Radikalismus, verwandelte sich der deutsche Gewerkschaftsjurist nicht nur in einen fulminanten Kritiker des Hitler-Regimes, sondern stürzte sich atemlos in die theoretische Arbeit. Er nutzte das Exil für eine grandiose Ausweitung der theoretischen Perspektive.

Bereits im Herbst 1933 war Neumann mit einem englischen Aufsatz hervorgetreten, der den „Decay of German Democracy“ mit dem Ausdruck der Verzweiflung konstatierte und dabei sowohl analytisch aufs Ganze ging als auch mit herber Selbstkritik nicht sparte. Es folgte eine Reihe von Interventionen und Pamphleten, die unter dem Pseudonym „Leopold Franz“ nach Deutschland eingeschmuggelt wurden, um den Widerstand gegen Hitler zu unterstützen. Das interessanteste von ihnen ist eine kleine, aber scharfgeschnittene Geschichte der deutschen und europäischen Gewerkschaftsbewegung, die mit einer knappen eigentumsrechtlichen Grundlegung beginnt und dann ihre Etappen – von der Entstehung über die rechtliche Anerkennung im Liberalismus bis zur Instrumentalisierung durch die fortschreitende Monopolisierung des Kapitals – im Einzelnen schildert. Am Ende dieser Entwicklung steht die schrittweise und schließlich die völlige Vernichtung der freien Gewerkschaften, die der totalitäre Staat und besonders seine extreme Ausformung im Nationalsozialismus durchgesetzt haben. Geradezu diabolisch stieß Neumann dabei die Tatsache auf, dass dieser Destruktionsprozess noch mit denselben theoretischen Mitteln analysiert werden konnte wie die Zukunftsversprechungen, die vorher damit verbunden gewesen waren.12

Es war also ein Selbstzerstörungsvorgang allergrößten Ausmaßes, der sich als der eigentliche Schock entpuppte, und er wirkte umso nachhaltiger, als die daraus entspringende Selbstreflexion die theoretische Anstrengung befeuerte. Vielleicht muss man einen krassen Widerspruch dieser Art ins Zentrum rücken, um die Ausrichtung und Reichweite, aber auch die Wucht und den inneren Widerstreit zu verstehen, die sich in Neumanns theoretischem Denken in den 1930er Jahren Ausdruck verschafften. Er folgerte daraus einerseits entschieden die notwendige Rückkehr zur marxistischen Gesellschaftstheorie, differenzierte diesen Schritt aber andererseits durch Annahmen aus der zeitgenössischen soziologischen und politischen Theorie, für die Harold Laski und Karl Mannheim Pate standen. Die Dissertation, mit der Neumann 1936 an der London School of Economics promoviert wurde, orientiert sich ganz an diesem zweifachen Methodenprogramm und entwirft eine großflächige Strukturgeschichte der Rule of Law bzw. des Rechtsstaates in der bürgerlichen Gesellschaft:

Beginnend mit einer pointierten Methodenkritik des Weimarer Staatsrechts, wird in einem weit ausgreifenden Exkurs die „Entzauberung des Rechts“ (Max Weber) an der Ideengeschichte des abendländischen Rechtsdenkens von Thomas von Aquin bis zu Hegel durchdekliniert – mit dem lapidaren Ergebnis, dass der Konflikt zwischen Recht und Macht, zwischen Freiheitssphäre und Staatsouveränität zwar jeweils verschieden artikuliert wurde, aber theoretisch durchgehend ungelöst blieb. Der zweite, der Hauptteil der Arbeit konzentriert sich auf die neuere Entwicklung seit dem Liberalismus und entwirft ein Theoriemodell, das speziell dem Gesetzesrecht drei Hauptfunktionen zuweist: Das Gesetz (definiert durch Allgemeinheit, Bestimmtheit und Nicht-Rückwirkung) ist staatlich gesetztes Recht (im Gegensatz zum Naturrecht) und garantiert erstens die Berechenbarkeit der Ökonomie, es sorgt zweitens politisch für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung und verdeckt dies gleichzeitig, und es steht drittens für ein ethisches Minimum, das im individuellen Rechtsschutz kristallisiert ist.

Dieses Konstrukt aber, so wird unmissverständlich behauptet, ist selber nur ein Idealtypus, eine theoretische Abstraktion, die zwar im englischen Parlamentarismus und im deutschen Rechtsstaatsverständnis eine gewisse Realisierung erreichte, deren wirkliche Geschichte aber anders verlief und anders verlaufen musste – zum einen, weil schon der liberale Staat sich seines irrationalen Machtüberschusses niemals entledigt hatte, und zum andern, weil dieser Staat und sein Recht im Zuge der Industrialisierung zunehmend unter das Diktat des Kapitals und seines inneren wie äußeren Expansionsstrebens gerieten. Das Letztere wird besonders deutlich greifbar an der jüngsten Entwicklung in Weimar-Deutschland, in dem das Gesetzesrecht zunehmend nicht nur für die Aufrechterhaltung des Monopolkapitalismus instrumentalisiert, sondern damit auch seiner formalen Eigenschaften beraubt wurde, um schließlich, mit dem Übergang vom autoritären zum totalitären Staat, ganz kassiert zu werden.13 Diese Diagnose war sicherlich einigermaßen grobmaschig gewebt, aber sie hielt auch ein ganzes Arsenal scharfgeschliffener analytischer Instrumente bereit, um zu verstehen, was die politische Stunde geschlagen hatte.

Jedes politische Exil ist per se oder zumindest in den meisten historischen Fällen eine schwierige, wenn nicht ruinöse Konstellation, was erfolgreiches politisches Handeln betrifft, ebenso oft erweist es sich für viele intellektuelle Leistungen, für künstlerische oder wissenschaftliche Ideen zumal als eine Wüste der Sprach- und Wirkungslosigkeit. Für Franz Neumann trifft das nur teilweise zu: Da er in England keine Perspektive mehr für sich sah, wanderte er 1937 in die USA weiter und erhielt in New York, vermittelt durch Harold Laski, eine Anstellung in Max Horkheimers Institute of Social Research. Zwar ist es von einiger Aussagekraft, dass Neumann seine Londoner Dissertation weder in den 1930er Jahren noch später publiziert hat, als er selbst Professor an der Columbia University geworden war – immerhin hat er in gekürzter Form einige ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert, auch wenn dabei der aufreizende Theorieimpuls und seine methodischen Folgerungen deutlich abgeschwächt wurden.14 Das aber hinderte Neumann nicht daran, sein ureigenes Projekt weiterzutreiben. Obwohl er hauptsächlich für die Finanzangelegenheiten engagiert worden war, verstand er es, die Kontaktmöglichkeiten des Instituts zu nutzen und in eine lebhafte Forschungs- und Diskussionsgemeinschaft vor allem mit Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse einzutreten, die schon vorher zum Institut gestoßen waren.

Trotzdem ist es nach wie vor ein Geheimnis, wie es für Neumann in so kurzer Zeit möglich war, das Werk zu schreiben, das die erste große Publikation des Instituts für Sozialforschung in den USA werden und sein eigenes „magnum opus“ bleiben sollte: Das Buch trug, in gleichzeitiger Anspielung auf das Alte Testament und auf Thomas Hobbes, den Titel „Behemoth“ und erschien 1942 bei Oxford University Press.15 Es versprach eine kompakte Darstellung von Politik und Gesellschaft des Nationalsozialismus, löste diesen Anspruch auch voluminös ein und wurde daher in der amerikanischen Öffentlichkeit sofort als Standardwerk über die neueste Entwicklung in Deutschland begrüßt. Und da die USA gerade der Anti-Hitler-Koalition beigetreten waren, stand das Buch eines bislang unbekannten Exilanten aus Deutschland auch für eine politische Botschaft, die ebenso klar war, wie sie mit bemerkenswerten Ambivalenzen aufwartete: Neumann gab sich wenig Mühe, seine marxistische Grundorientierung zu verbergen, modifizierte diese lediglich durch neuere Theorien aus Soziologie, Rechtswissenschaft und Ideengeschichte und behauptete mit großer Verve, dass nur so das politische Ungeheuer, als das der Nationalsozialismus von vielen Zeitgenossen empfunden wurde, historisch zu verstehen, analytisch zu bewältigen und moralisch zu bändigen sei. Zu besiegen aber sei es nur, wenn die Westmächte mit ihrer Kriegserklärung gegen Hitler Ernst machen würden.16

 

Die folgenden Zeilen können keine inhaltliche Würdigung eines mehr als 600 Seiten umfassenden Buches sein, sondern wollen lediglich die Leitbegriffe herausstellen, die Neumanns Analyse den Weg weisen und die am Ende zu einem Gesamturteil verknüpft werden.17 Vielfältig in der Tat, ja überbordend ist, was da an historischen Zusammenhängen, an neuesten Gesetzestexten und Verwaltungsverordnungen, an ökonomischen und sozialen Daten, schließlich an kriegerischen Machenschaften referiert wird, um „Germany’s New Order“ anschaulich zu machen.18 Aber erst aus der Zusammenschau der politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen ergibt sich das ganze Bild: Nur so wird greifbar, wie die nationalsozialistische Bewegung historisch auf den Weg kam, die politische Macht eroberte und dann die deutsche Gesellschaft, so rasch wie folgenreich, zu einem Regime aus Ideologie und Terror verschmelzen konnte, das die innere Opposition beseitigen, Europa mit Krieg überziehen und nichts weniger als ein rassistisches und genozidales Imperium errichten konnte. Neumanns Analyse gliedert sich in drei große Abschnitte: das politische System des Nationalsozialismus, die Organisation der Wirtschaft und die Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft.

Einleitend schildert Neumann noch einmal die Ausgangslage der Weimarer Republik und hebt die Faktoren hervor, die von Anfang an Verunsicherung und Instabilität mit sich brachten. Was die Rolle der reformistischen Arbeiterbewegung betrifft, so erscheint ihm das Ende der ersten deutschen Demokratie sowohl selbstverschuldet als auch das logische Ergebnis der Aufkündigung des Klassenkompromisses durch Junkertum und Großindustrie, auch wenn die „nationale Revolution“ ihre eigenen Wege einschlug und dann von der völkisch-antisemitischen Bewegung überholt wurde.

Die Analyse des politischen Systems des Nationalsozialismus im engeren Sinn setzt auf eine These, die bereits die Exposition von Neumanns Gesamtinterpretation ist: Zwar sei die Feindschaft gegenüber Liberalismus und Demokratie in die Rhetorik des „totalen Staates“ gehüllt worden, doch bedeute das nicht, dass der Anspruch der NS-Bewegung auf die Subordination der staatlichen Gewalt umstandslos verwirklicht worden sei. Vielmehr gehen Staat und Partei eine schwer definierbare Symbiose ein, die in heftig umkämpften Kompromissen schließlich zur erfolgreichen Gleichschaltung des politischen wie des sozialen Lebens führt. Noch am ehesten wird für Neumann dieses neuartige Gebilde aus alltäglicher Gewalt und bürokratischer Rationalität beschreibbar, wenn man sich an den Weber’schen Begriff der charismatischen Führerherrschaft hält und diesen durch eine ausführliche Bestandsaufnahme der ideologischen Formierung und der praktischen Anwendung der NS-Weltanschauung anreichert. In diesem Sinne rekonstruiert Neumann die Ursprünge der Begriffe Volk und Rasse im deutschen 19. Jahrhundert sowie ihre „Modernisierung“ zum politischen Antisemitismus, vor allem aber interessiert er sich für ihre Benützung zur rechtlichen und ökonomischen Diskriminierung der Juden. Der Feinderklärung nach innen entsprechen nach außen die Theorien vom deutschen „Lebensraum“ und von der Überlegenheit der germanischen Rasse, die nicht nur das Völkerrecht zerstörten, sondern im Zweiten Weltkrieg schreckliche Wirklichkeit wurden.

Die Analyse des Wirtschaftssystems ist Neumann ein besonderes Anliegen. Das marxistische Plädoyer für den methodischen Primat der Ökonomie und die Annahme vom fortgesetzt kapitalistischen Charakter des Wirtschaftens unterm Nationalsozialismus führen indes nicht dazu, die großen Umbrüche der 30er und frühen 40er Jahre zu verkennen. Detailliert wird ausgeführt und an der Reorganisation der Wirtschaft im Kraftfeld zwischen Staat und Großindustrie demonstriert, dass sich die machtvoll erstarkende Konjunktur im Nebeneinander und Ineinander von zwei großen Regelkreisen bewegt: Während der privatkapitalistische Sektor vor allem durch rapide Monopolisierung charakterisiert ist, die exakt dadurch eine ungeahnte Dynamik entfalten konnte, dass die dirigistischen Eingriffe des Staates (mittels Zwangskartellen, Preiskontrollen und nicht zuletzt der Regulierung des Arbeitsmarktes) für die Steigerung des Profitstrebens eingesetzt wurden, funktionierte der ebenfalls wachsende staatliche Sektor zwar direkt als Befehlswirtschaft, ohne jedoch die gesamte Ökonomie planwirtschaftlich zu transformieren. Im Gegenteil, die Pointe von Neumanns empirienaher Argumentation geht darauf, dass der aus der Logik der Rassenideologie folgende staatliche Eigentumsraub, konkret die „Arisierung“ der jüdischen Vermögen und die „Germanisierung“ der fremdländischen Industrien, vor allem den privaten Wirtschaftsgiganten zugute kam. In der zweiten Auflage des Buches von 1944, angesichts der fortgeschrittenen Kriegswirtschaft, wird dann nicht so sehr die Umkehrung dieses Gedankens erwogen, sondern die Verschmelzung von Politik und Wirtschaft im kollektiven Verbrechen konstatiert: „Die Praktiker der Gewalt werden mehr und mehr Unternehmer und die Unternehmer Praktiker der Gewalt“.19

Der dritte Teil des „Behemoth“ buchstabiert aus, was das soziologisch bedeutet, und entfaltet zu diesem Zweck eine kombinierte Klassen- und Elitentheorie, die später als „Polykratie-Theorie“ bekannt wurde: Neumann sieht in Deutschland eine neue und scharfgeschnittene Herrschaftsstruktur entstanden, die mit direkter Gewalt und ideologischem Terror durchgesetzt wurde und nur mit denselben Mitteln aufrechterhalten werden kann. Trotzdem erscheint die herrschende Klasse weniger als eine einheitliche Formation, sondern als ein wüstes Konglomerat von politischen, sozialen und ökonomischen Machtklumpen, deren Interessenkonkurrenz nur mühsam durch die in sich selber gestaltlose Volkstumsideologie überdeckt wird – einig sind sie sich lediglich in der rücksichtslosen Gewaltanwendung nach innen und außen. Den vier zentralen Säulen des Regimes – Partei, Staatsbürokratie, Armee und Wirtschaftsführung – steht die Masse der Bevölkerung macht- und hilflos gegenüber: Wie die Zerschlagung der demokratischen Institutionen zur Zerstörung der autonomen sozialen Milieus geführt hat, so ist die Arbeiterklasse dem direkten Diktat des Kapitals und der Ministerialbürokratie ausgeliefert – Zwangsorganisationen wie die „Deutsche Arbeitsfront“ sind nur gleißende Fassade, hinter der Lohndumping und Sklavenarbeit stattfinden.

Dass Neumanns Analyse der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung schließlich einmündet in einen rechts- und staatstheoretischen Traktat, war natürlich seiner Vorbildung als deutscher Jurist geschuldet – und ebenso wenig war es ein Zufall, wie dieser Traktat theoretisch munitioniert war und worauf er am Ende abzielte: Er kulminiert in der ebenso erschreckten wie erschreckenden These, dass die raison d’être des Regimes in der gezielten Zerstörung rechtlich garantierter Freiheiten greifbar und das dadurch entstehende Vakuum gefüllt wird durch den blanken Einsatz von Propaganda und Terror. Dementsprechend entsetzt lautet die Schlusspointe, die Neumann mit großem Gestus ausführt, dass der Nationalsozialismus ein organisiertes Chaos, ein „Non-State“ und damit ein so neuartiges wie monströses Gebilde sei, das im Kontrast zur gesamten europäischen Ideengeschichte stehe. Wenn also das Wesen des Nationalsozialismus vor allem in seiner unerhörten Destruktivität nach innen und in der kriegerischen Aggression nach außen besteht, was bedeutet das für seine Gegner und wie lässt sich der Kampf gegen einen solchen Aggressor überhaupt führen?

III. Krieg und Nach-Krieg: Politikberatung und Deutschlandpolitik

In der Tat muss man die nun folgende Strecke in Neumanns Lebensgeschichte insgesamt als Antwort auf diese Frage verstehen: Sie führte ihn ab 1942 nach Washington und in die Institutionen des amerikanischen war-effort, zuerst in den Board of Economic Warfare und dann in den neugegründeten Geheimdienst, das Office of Strategic Services (OSS), wo er sich rasch als die leitende Figur in der Research and Analysis Branch etablierte. Zwar war dieser Schritt auch durch die finanziellen Engpässe des Instituts für Sozialforschung mitbedingt, aber maßgeblicher dafür wurden die politischen Zielvorstellungen, die Neumann mitbrachte und die sich am Ende des „Behemoth“ in aller Deutlichkeit formuliert finden: Neumann stellte sich unmissverständlich hinter die Politik der Alliierten, verband diese Parteinahme aber nicht nur mit der Forderung nach der militärischen Niederwerfung des Hitler-Regimes, sondern erklärte, dass ein nachhaltiger Sieg nur erreichbar sei, wenn er den demokratischen Wiederaufbau in Deutschland zum Hauptziel erhebe, dieser aber seinerseits einen veränderten sozio-ökonomischen Unterbau erhalte. In dieser Verklammerung steckte nichts weniger als ein Konflikt, der sich in dem Maße dramatisieren sollte, wie der Krieg gegen Hitler eskalierte und sich die Nachkriegsziele der amerikanischen Politik konkretisierten.

Das halbe Jahrzehnt, das Franz Neumann im amerikanischen Staatsdienst verbrachte, war lange Zeit skandalumwittert. Heute gehört es zu den am besten erforschten Episoden nicht nur einer speziellen Fraktion der sog. Frankfurter Schule, sondern der Ideengeschichte der sozialwissenschaftlichen Emigration nach 1933 insgesamt20: Wie Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer in den Geheimdienst überwechselten, wie sich eine ganze Truppe weiterer Emigranten zu ihnen gesellte, in welche Richtung die hochkompetenten Deutschlandexperten die Direktiven ihrer Auftraggeber zu lenken verstanden und wie weit sie mit der Verfolgung eigener politischer Ziele kamen – mit dergleichen Fragen lässt sich die gigantische Masse an Stoffsammlungen, Strategiepapieren und politischen Expertisen aufschlüsseln, die einerseits als wissenschaftliche „Feindanalysen“ gedacht waren und andererseits Handlungsanweisungen dafür geben sollten, was zunächst militärisch und dann politisch gegen Hitler-Deutschland zu tun sei. Hier können nur zwei der brisantesten Themenkreise erwähnt werden, die im Laufe des Krieges und besonders gegen sein Ende im Frühjahr 1945 ins Zentrum der Aufmerksamkeit getreten sind:

Während die Neumann-Gruppe anfangs davon ausgegangen war, dass die innere Opposition gegen Hitler noch über einen gewissen Handlungsraum verfügte und die deutsche Bevölkerung durch die Kriegsverluste vielleicht auf Distanz zum Regime gehen könnte, verflüchtigte sich diese Hoffnung rasch. Ein markanter Anhaltspunkt ist der 100-seitige Anhang, den Neumann 1944 der zweiten Auflage des „Behemoth“ hinzufügte, auch weil hier die neuesten Lageberichte des OSS bereits Eingang gefunden hatten, die ein weit negativeres Bild ergaben: Im Zuge der Kriegswirtschaft und besonders der Expansion nach Osten sah Neumann eine progressive Verschmelzung der vier Herrschaftseliten am Werke, wobei der Einfluss von Parteiführung und Wirtschaftsmonopolisten auf Kosten der Staatsbürokratie gesteigert erschien und der direkte Befehl und die Ausweitung des Terrors zu unwiderstehlichen Herrschaftsinstrumenten geworden waren. Die Schlusspointe lautete jetzt, dass die anarchische Struktur des „Behemoth“ zur Vollendung gebracht, die perverse Pluralität der Herrschaftseliten im kollektiven Verbrechen zusammengeschweißt war, und zwar mittels eines hochsignifikanten Vorgangs, den Neumann mit der „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“ zu verstehen versuchte.21

Schon ab 1943 war, in Naherwartung der deutschen Niederlage, die Planung der Nachkriegsordnung ins Zentrum der Forschungsarbeit getreten, ein Riesenkomplex, für dessen Kennzeichnung sich die Kurzformel von den „four D’s“ eingebürgert hat22: Dem Primat der Kriegsführung entsprechend, stand zunächst das Ziel der „Demilitarization“ im Vordergrund, und zwar in der radikalen Form der „unconditional surrender“. Zweifelsfrei konsentiert von den militärischen und den zivilen Behörden, zwischen denen der Geheimdienst positioniert war, war auch die „Denazification“, d.h. die Entmachtung der Nazi-Partei und aller ihr angeschlossenen Organisationen, was angesichts der fast vollständigen Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft einer Herkulesaufgabe gleichkam. Differenzen zu den amerikanischen Zielen hingegen taten sich, zumindest bei Franz Neumann und den ehemaligen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung, darin auf, dass sie die Grundstruktur des Nationalsozialismus als „totalitären Monopolkapitalismus“ verstanden. Daher musste die „Decartelization“, d.h. die Zerschlagung der Monopole für sie einen hohen Stellenwert einnehmen, ebenso wie sie sich den Wiederaufbau der Verwaltung und die zukünftige Gestaltung der demokratischen Ordnung („Democratization“) nur unter bevorzugter Beteiligung von Kräften der einheimischen Arbeiterbewegung vorstellen konnten.

 

Hatte diese spezifische Ausrichtung von Deutschlands Zukunft schon vor 1945 wenig Rückhalt bei den amerikanischen Entscheidungsträgern gefunden, so spielte sie bekanntlich in der späteren Ausgestaltung der Militärregierung keine Rolle mehr, sondern fiel der internationalen Neuausrichtung auf die Fronten des Kalten Krieges zum Opfer. Einen Zwischenschritt dahin kann man in den sog. Nürnberger Prozessen erblicken, für deren Organisation die USA die Hauptrolle spielten: Man weiß heute, dass Franz Neumann an der juristischen Vorbereitung dieses Prozesses beteiligt und bei der maßgeblichen Londoner Konferenz auch anwesend war.23 Und in der berühmten Anklagerede von Robert Jackson wurden nicht nur einzelne Formulierungen aus den Papieren des OSS übernommen wie z.B. die erwähnte „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“, sondern auch der prinzipielle Aufbau der Anklage, in der die Kriegsverbrechen der Nazis als Ausfluss eines verschwörerischen „Masterplans“ und der Angriffskrieg im Osten sowie die Drangsalierung der eigenen Bevölkerung einschließlich des Massenmords an den Juden als „organisiertes Verbrechen“ bezeichnet wurden, wodurch der Schuldbegriff nicht auf Einzelpersonen beschränkt, sondern auf Institutionen und Organisationen ausgedehnt war. Diese soziologische Ausweitung der Anklage war durch die Leitkategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ nicht gedeckt und hat sich bekanntlich bei der Urteilsverkündung auch nicht durchgesetzt.

Das Office of Strategic Services wurde im Sommer 1945 aufgelöst und die Forschungsabteilung ins State Departement transferiert, wo ihre Mitarbeiter zunehmend ins politische Abseits gerieten. Frustriert von der Wirkungslosigkeit ihrer Analysen in der amerikanischen Politik und gleichzeitig tief ernüchtert von den deutschen Entwicklungen unter der Militärregierung, verließ Franz Neumann 1947 den amerikanischen Staatsdienst und etablierte sich, als Erster aus dem Kreis der engagierten Emigranten, an der Columbia University in New York. Aber auch in diesem neuen Kontext beschränkte er sich nicht auf die akademische Tätigkeit, sondern nutzte jetzt die Chance, seine politische Stimme in aller Öffentlichkeit zu erheben. Der Satz, mit dem seine erste Publikation nach dem Krieg anhebt, ist gleichzeitig ein Aufruf und eine Warnung: „Erziehen ist schwierig; Umerziehen ist noch schwieriger; eine andere Nation umzuerziehen, ist nahezu unmöglich. Zu versuchen, die Deutschen mittels einer Militärregierung umzuerziehen, heißt, das Unmögliche zu versuchen.“24

Mit dieser Mischung aus Skepsis und engagierter Analyse ist der Grundtenor angeschlagen, der Neumanns Interventionen zur Nachkriegsentwicklung charakterisiert, jetzt hat der „political scholar“ die für ihn typische Stimmlage gefunden und kündigt gleichzeitig eine gewisse Transformation des Zielpunktes für sein Engagement an. Es ging ihm jetzt nicht mehr primär um die Brechung der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, sondern um die Chancen für den demokratischen Wiederaufbau, aber natürlich ebenso sehr um die fortdauernden Hindernisse dafür. Geschickt positionierte er sich dabei zwischen der amerikanischen Deutschlandpolitik einerseits und den sich allmählich herausbildenden Akteuren der westdeutschen Gesellschaft andererseits. Während er sich in Kommentaren und kritischen Analysen in erster Linie an die amerikanische Öffentlichkeit wandte, scheute er sich nicht, den Finger in die Wunden der Kontinuitäten aus der Nazi-Gesellschaft zu legen, die durch die Versäumnisse der amerikanischen Besatzungspolitik mitbedingt seien. Dies galt für die Frage der immer weiter verwässerten Entnazifizierungsmaßnahmen ebenso wie für den mangelnden Umbau des überkommenen Bildungssystems, insgesamt sah er Nachkriegsdeutschland von einem Klima der politischen Apathie überzogen, die ihm als die schlimmste Hinterlassenschaft der totalitären „Kultur“ erschien.

Viele dieser Kritikpunkte finden sich in einer Broschüre zusammengestellt, die Neumann 1950 unter dem lapidaren Titel „German Democracy“ publiziert hat und die hier als Anschauungsbeispiel für sein Bild von der noch ganz jungen Bundesrepublik referiert wird25: Fünf Jahre sind seit der Niederlage des Nationalsozialismus vergangen, seit einem Jahr tagt im provinziellen Bonn ein frei gewähltes Parlament. Aber was sich als das neue demokratische System herauskristallisiert, betrachtet Neumann mit großer Skepsis. Dahinter steht die bohrende Frage, wie, sozusagen über Nacht, aus einer erkennbar pro-nazistischen Mehrheit ein genuin pro-demokratisches Volk hervorgegangen sein soll. Waren es nicht eher die außenpolitisch determinierten, von den Besatzungsmächten diktierten Prämissen, die den Deutschen die demokratischen Institutionen mehr oder weniger verordnet haben? Konsequenterweise sieht er im Grundgesetz und besonders in seinem exzessiven Grundrechtsteil so etwas wie einen „Verfassungsfetischismus“26 am Werke, eine Haltung, die juristische Garantien mit einer lebendigen Demokratiekultur zu verwechseln droht, ebenso wie er in der starken Stellung des Kanzlers und in der aus der NS-Zeit übernommenen Ministerialbürokratie eine strukturelle Beeinträchtigung des parlamentarischen „Souveräns“ vermutet. Auch den aus den Parteien entspringenden Willensbekundungen begegnet er mit Misstrauen, nicht nur, weil die SPD sich weitgehend nach dem Weimarer Modell reorganisiert hat, sondern mehr noch, weil die CDU/CSU sich als diffuses Mitte-Rechts-Bündnis darstellt, dessen Profil hauptsächlich von einer autoritären Großvater-Figur geprägt ist. Über Konrad Adenauer heißt es: „Er ist ein äußerst intelligenter und geschickter Politiker, ganz sicher antinazistisch, aber mit ausgeprägten autoritären Charakterzügen.“27

Nimmt man die Restaurationstendenzen in den erklärten Rechtsparteien sowie die Reaktionsbildungen in der Industrie und im großen Heer der Heimatvertriebenen hinzu, so ergibt sich keine rosige Perspektive: „So ist es durchaus möglich, dass sich ein substantieller Teil der Bevölkerung tatsächlich einer neo-nazistischen Lösung zuwenden wird, obschon der Aufstieg eines zweiten Hitler innerhalb einer Generation unrealistisch scheint.“28 Und da das natürlich verhindert werden muss, lautet der kategorische Imperativ: strikte Ablehnung einer deutschen Wiederbewaffnung und weitere, ja verstärkte Kontrollen durch die amerikanische Besatzungsmacht, die vor allem den Schutz der Freiheitsrechte, die reaktionären Tendenzen in der Industrie und in den kleinen Rechtsparteien sowie die Einrichtung einer demokratischen Erziehung und eine gerechte Umverteilungspolitik im Auge behalten soll. Die westdeutsche Demokratie erscheint Neumann offenbar als ein schwaches, hauptsächlich von den Besatzungsmächten gestütztes Pflänzchen, das noch nicht autochthon eingewurzelt ist.

Dass damit jedoch kein abschließendes Urteil gefällt, der engagierte Beobachter vielmehr bereit war, seine skeptische Grundhaltung zu überprüfen und neue Tatsachen der Nachkriegsentwicklung zur Kenntnis zu nehmen, zeigt ein späterer, eher beiläufiger Aufsatz aus dem Jahr 1954. Unter dem Titel „Germany and World Politics“ nahm Neumann seine vorherige kategorische Ablehnung der deutschen Wiederaufrüstung zurück, allerdings nur unter der Bedingung, dass der deutsche Wehrbeitrag in eine europäische Verteidigungsgemeinschaft eingebaut werde. Auch der Regierungsstil Adenauers erschien ihm jetzt eher als ein Stabilitätsfaktor, während er in aller Nüchternheit darauf hinwies, dass der von Regierung wie SPD-Opposition je verschieden intonierte Wiedervereinigungswunsch nichts als Augenwischerei sei: Seine Unerfüllbarkeit sei der Preis, den man für die wirtschaftliche und militärische Westintegration zu zahlen habe. Dessen mögliche Kompensation durch die in Gang gesetzten Planungen für ein Vereintes Europa aber konnte er nicht mehr erleben.29