Behemoth

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IV. Politikprofessor in New York und Berlin

Franz Neumanns Wirken an der New Yorker Columbia University erscheint aus der ideengeschichtlichen Distanz wie ein Blitzlicht: Kurz und grell leuchtet es auf, ebenso rasch ist es erloschen. Zum Political Science Department hatte er schon seit Anfang der 1940er Jahre Kontakt gehalten, 1948 wurde er dort zum Visiting Professor und 1950 zum Full Professor berufen. Zwar war Neumann damit im intellektuellen Establishment der amerikanischen Ostküste angekommen, doch entsprach er weder als Person dem „normalen“ Bild eines amerikanischen Professors, noch erschöpfte sich seine Tätigkeit in der Ausfüllung eines Lehrstuhls, dessen Denomination auf „Government“ lautete. Vielleicht kommt man der Realität am nächsten, wenn man annimmt, dass sich Neumann in den 1950er Jahren tatsächlich dem Idealtypus des „political scholar“ annäherte, sozusagen zu seinem Realtypus wurde, freilich nur, wenn man sofort hinzufügt, wie viel an Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen zu bewältigen war, sobald das Ideal der Wirklichkeit ausgesetzt wurde. Es sind das Changieren zwischen weit auseinanderliegenden Welten, das Überschreiten der geographischen wie der theoretischen Grenzen und nicht zuletzt die Erfahrung neuer Behinderungen und Bedrohungen, die Neumanns letzte Lebensphase auszeichnen.

In der Tat trat jetzt eine geradezu abenteuerliche Rastlosigkeit in den Vordergrund: Neumann pendelte periodisch zwischen New York und Berlin hin und her, er nutzte alte Kontakte zur amerikanischen Politik und stiftete neue nach Deutschland, er organisierte Fachkonferenzen mit Kollegen, hielt eine Vielzahl von Vorträgen und scheute sich nicht, sie auch gleich, in skizzenhafter oder thesenartiger Form, zu publizieren. Seine Aufsätze umfassten ein breites Spektrum an Themen und Fragestellungen, hielten sich dabei nicht an die akademischen Fächergrenzen, sondern reagierten auf aktuelle Anlässe oder bewegten sich souverän zwischen verschiedenen Methoden und Theorien. So rigoros der deutsche Emigrant im Gewande des amerikanischen Professors das Doppelpostulat von wissenschaftlicher Wahrheitssuche und politischem Engagement auch verstanden hat und so sehr er dafür von seinen amerikanischen Studenten und Kollegen bewundert wurde – das ändert nichts daran, dass diese Lebensgeschichte in persönlicher Hinsicht als ein Torso dasteht, ebenso wie fragmentarisch und vieldeutig geblieben ist, was man Neumanns wissenschaftliches Spätwerk nennen kann.

Ob es in den verstreuten Publikationen aus den 1950er Jahren dennoch so etwas gibt wie ein methodisches Programm, aus dem sich eine Theoriekonzeption oder gar eine geschlossene Gesellschaftstheorie hätte entwickeln können – darüber ist einiges gesagt und noch mehr spekuliert worden.30 Die hier vorgelegte Skizze fragt nicht primär nach der Solidität von Neumanns theoretischer Ausrichtung, sondern möchte die kontextbedingten Veränderungen freilegen, die sich im Verhältnis von Theorie und Praxis, von wissenschaftlicher Anstrengung und politischem Engagement ergeben haben. Wenn es einen verallgemeinerbaren Trend in der Wirkungsgeschichte von Franz Neumann gab, der in der letzten Phase deutlich kulminierte, dann lag er im eigentümlichen Vorgang einer Abstraktifizierung, d.h. in einer Entwicklung, die sowohl das politische Engagement als auch das wissenschaftliche Fragen auf ein allgemeineres, aber auch mehr selektives Niveau verwies. Interessant werden diese unvollendeten Orientierungsversuche, wenn man sie geschichtsphilosophisch ausdeutet, z.B. auf die Alternative zwischen einer eher optimistischen oder einer eher pessimistischen Zukunftsperspektive bezieht.

Blickt man zurück auf die Weimarer Republik und nimmt als Maßstab die Intensität der Beziehungen zu den Gewerkschaften, dann fällt sofort ins Auge, wie dünn sich Neumanns Verhältnis zur wiedererstandenen Arbeiterbewegung im Nachkriegsdeutschland gestaltet hat. Dokumentiert ist nur ein einziger Vortrag, den Neumann 1950 vor dem Sozialpolitischen Ausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Düsseldorf gehalten hat.31 Aber auch umgekehrt gab es offenbar kein ernstgemeintes Rückkehrangebot von welcher Gewerkschaft auch immer, ganz zu schweigen von der peinlichen Frage, warum die westdeutschen Gewerkschaftsführer, als es 1954 den Posten des Arbeitsgerichtspräsidenten zu vergeben galt, nicht einen „Ehemaligen“ aus den eigenen Reihen (wie eben Franz Neumann oder seinen Socius Ernst Fraenkel) ins Spiel brachten, sondern mit Hans Carl Nipperdey einen ehemaligen nationalsozialistischen Arbeitsrechtsprofessor unterstützt haben.32 Hier nur von gegenseitiger „Entfremdung“ zu sprechen wäre offensichtlich eine zu harmlose Formulierung.

Aber auch Neumann hielt mit handfesten Differenzen nicht hinterm Berg, sondern artikulierte gegenüber der sich formierenden Gewerkschaftsbewegung massive Kritikpunkte, und dies, obwohl er in den frühen Nachkriegsjahren noch von einem positiven Zusammenspiel zwischen Arbeiterbewegung und demokratischer Politik ausgegangen war und z.B. gegenüber der Militärregierung immer wieder darauf insistiert hatte, dass – neben den ausgewiesenen „Widerständlern“ und manchen Geistlichen – bei den Arbeiterfunktionären noch am ehesten Reste eines demokratischen Geistes zu erwarten seien, weswegen man ihnen gegenüber den weitgehend korrumpierten Beamten beim Wiederaufbau der deutschen Verwaltung den Vorzug geben solle. Dieser Betonung eines konstruktiven Zusammenspiels zwischen sozialer und politischer Demokratie lief jetzt eine andere Einschätzung zuwider, die besonders seit dem Regierungsantritt Adenauers und mit der schrittweisen Etablierung der sozialen Marktwirtschaft in den Vordergrund trat.33 Hinter ihr stand die Beobachtung von zwei längerfristigen historischen Tendenzen, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einer grundsätzlichen Bedrohung für den Aktionsradius der Arbeiterbewegung zusammenzubrauen schienen:

Einmal stellt Neumann fest, dass die Macht der Arbeiterbewegung, bedingt durch die Verbreiterung der Mittelschichten zwischen Kapital und Arbeit, in ganz Europa im Schwinden begriffen ist34; zum andern bemängelt er an Gewerkschaften wie SPD eine gefährliche Neigung zur Verselbständigung der bürokratischen Führungskader gegenüber der Basis, wodurch sich fortsetze, was schon 1933 an der Kapitulation der Gewerkschaften vor Hitler mitgewirkt habe: Die Isolation der Mitglieder lähmt die Aktivität und die politische Kampfbereitschaft an der Basis, die dazugehörige legalistische Einstellung führt zur Identifikation der Funktionäre mit den gegebenen Verhältnissen und schwächt umgekehrt die Orientierung an weiterreichenden sozialpolitischen Zielen.35 Die wiedererstandene Arbeiterbewegung operiert auch nach 1945 wieder zwischen diesen beiden Scherenmessern und ist zusätzlich bedroht von der prokapitalistischen Besatzungspolitik der Westmächte sowie vom Neutralitätszwang, der aus dem Konzept der Einheitsgewerkschaft resultiert. Wie richtig diese Diagnose war, hatte sich schon an den liberalkapitalistischen Tendenzen des Grundgesetzes gezeigt und war durch den Sieg der konservativen Christdemokraten in der ersten Bundestagswahl 1949 bestätigt worden.

Die deutsche Arbeiterbewegung, resümiert Neumann, hat ihre eigentliche historische Mission, nämlich die Durchsetzung eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus, nicht erfüllt, teils weil die weltpolitische Stellung der Supermächte dies verhinderte, teils weil die Arbeiterbewegung diese weltpolitische Lage zu phantasielos zur Grundlage der eigenen Politik gemacht habe. Hier, im vorläufigen Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber ihren eigenen Zielen, dürfte einer der tiefsitzenden Gründe für die bei Neumann festzustellende Tendenz zum politischen Skeptizismus, wenn nicht zum psychischen Pessimismus liegen, wobei beides nicht gleichzusetzen ist mit einem grundsätzlichen Umschwenken des ehemaligen Sozialdemokraten zu einer neoliberalen Auffassung von Politik und Gesellschaft. Wohl aber wird aus dieser Tendenz heraus verständlich, weshalb Neumann im Hinblick auf die von ihm in der Weimarer Republik mitbegründete und noch in den 1940er Jahren festgehaltene Konzeption der Wirtschaftsdemokratie einen bemerkenswerten Positionswechsel vollzog.

Neumann hatte sich, worauf sein Freund Herbert Marcuse hingewiesen hat36, in den frühen 1950er Jahren an Ort und Stelle über die in der Montanindustrie installierten Versuche einer expansiven Mitbestimmung informiert – und er war entsetzt über die sich ausbreitende Apathie der Arbeiterfunktionäre und ihre mehr oder weniger reibungslose Integration in kapitalistische Interessensmuster. Aber wieder ist die daraus abgeleitete Ablehnung der Wirtschaftsdemokratie, die er doppelt – sowohl als Strategie der Arbeiterbewegung als auch unter demokratietheoretischem Gesichtspunkt – diskutiert37, nicht so sehr als ein Zurückgehen hinter früher vertretene Ziele zu verstehen, sondern als ein skeptisches Vorantasten: Die Wirtschaftsdemokratie erscheint ihm, gemessen an der Forderung einer aktivistischen Überwindung der politischen Entfremdung, als eine zu partikulare, zu konservative Form von politischer Beteiligung, auch wenn der heutige Begriff der Zivilgesellschaft noch nicht fällt.

Die in diesen Überlegungen sichtbar werdende Aufwertung der politischen gegenüber der Wirtschaftsdemokratie verweist auf das zweite Handlungsfeld, das Neumann in der Nachkriegszeit sicherlich am positivsten besetzt hatte, in das, sozusagen kompensatorisch, sein wissenschaftspolitisches Herzblut floss. Es ist gleichzeitig dasjenige, auf dem er seinen größten Erfolg, ja sogar eine erkennbare Langzeitwirkung erlangen konnte: Neumann hat als eine der prägenden Figuren in der Gründergeneration der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft zu gelten, er hat direkten und maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der Berliner Wissenschaftslandschaft genommen und sich hervorgetan sowohl bei der finanziellen Ausstattung der Freien Universität im Allgemeinen als auch bei der konzeptuellen Ausrichtung der Politikwissenschaft im Besonderen. Und weil davon auszugehen ist, dass die Berliner Gründung sowohl quantitativ wie qualitativ Vorbildcharakter für die gesamte Bundesrepublik hatte, wird man den Einfluss Franz Neumanns noch multiplizieren können.38 Dies umso mehr, als es am Anfang buchstäblich um die Frage von Sein oder Nichtsein einer politischen Wissenschaft in Deutschland überhaupt ging, wurde die Politikwissenschaft doch als ein der deutschen Universitätstradition „fremder“ Importartikel, als Diktat der Besatzungsmächte diffamiert, gegen den sich der Widerstand der konservativen Professorenschaft mit besonderer Vehemenz artikulierte.

 

In der geschickten Überwindung dieser Widerstände zeigte sich einmal mehr das politikpraktische Genie, das Franz Neumann aus der Gruppe der anderen Wissenschaftsemigranten heraushebt. Er war es nämlich, der die Existenzfrage für die Politikwissenschaft von Anfang an mit der Forderung nach ihrer institutionellen Selbständigkeit verknüpfte und dafür alle verfügbaren finanziellen und konzeptuellen Ressourcen mobilisierte.39 Dazu gehörte zwar auch, die Autorität der amerikanischen Besatzungsmacht für sich geltend zu machen, aber mehr noch stand Neumann für eine Haltung, die aus der negativen Erfahrung der Emigration positive Schlussfolgerungen zog, in ihm verkörperte sich eine kollektive Kraftleistung, die für die politikwissenschaftlichen Emigranten zu verallgemeinern ist: Sie alle waren erst im Verlauf der Emigration selber „gestandene“ Vertreter der „political science“ geworden und repräsentierten daher in persona eine alternative Wissenschaftstradition, die sie gegenüber ihren deutschen Kollegen mit fachlicher Autorität und politischem Selbstbewusstsein, aber auch mit Feingefühl und Geschick zu vertreten verstanden.40

Die Gründung der Politikwissenschaft in Westdeutschland war in theoretischer wie institutioneller Hinsicht ein komplexer und langwieriger Prozess, doch wurde die „Demokratiewissenschaft“ in West-Berlin rasch zum Vorbild dafür, wie Wissenschaft und Demokratie auch in Deutschland in ein konstruktives Verhältnis zueinander kommen konnten.41 Für diese wissenschaftspolitische Wende kam Franz Neumann nichts weniger als eine Schlüsselrolle zu: Der eigentliche „Clou“ seines Vorgehens in Berlin war eine Art von Doppelstrategie und bestand darin, auf der einen Seite der wiedererrichteten „Hochschule für Politik“ durch verstärkte Forschungsaktivitäten eine solide wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen, auf der andern Seite aber die Freie Universität dazu zu zwingen, der Politikwissenschaft eine institutionelle Bleibe zu geben, und zwar als selbständige Disziplin. Diese Strategie ist alles in allem erfolgreich gewesen, wenn man von internen Turbulenzen personeller wie konzeptueller Art einmal absieht und eine gewisse zeitliche Verzögerung abrechnet: Das „Institut für Politische Wissenschaft“ wurde 1958 und die „Hochschule für Politik“ 1959 regulärer Bestandteil der Freien Universität, und zwar als gut ausgestattete, selbständige und miteinander kooperierende wissenschaftliche Einrichtungen.42

Versteht man die Ablehnung der Wirtschaftsdemokratie als die negative Seite des „political scholar“ und die Gründungsimpulse für die bundesrepublikanische Politikwissenschaft als seine positive Seite, so ergibt sich daraus gleichwohl keine ausgewogene Gesamtbilanz. Diesen Eindruck erhält man jedenfalls, wenn man den Versuch unternimmt, aus Neumanns Publikationen selber, aus den anlassbezogenen Vorträgen und den theoretischen Entwürfen so etwas wie den roten Faden herauszupräparieren. Das ist keineswegs einfach zu bewerkstelligen, haben doch auch die ausführlicheren Aufsätze erkennbar fragmentarischen und skizzenhaften Charakter und lassen sich nur schwer zu einem konsistenten Gesamtbild oder gar einer geschlossenen Theorie zusammenfügen. Dennoch ist es möglich, eine durchgehende Tendenz auszumachen, die freilich als eine in sich widersprüchliche Konstellation erscheint. Wenn Neumann zeit seines Lebens eine eher technizistische Auffassung von Theorie und Methode hatte, so verstärkte sich in den 1950er Jahren der Gegenpol: Der späte Neumann zeigt ein intensives Interesse an der politischen Theorie und besonders an ihrer Geschichte, was sich vor allem in seiner kontinuierlichen Lehrtätigkeit an der Columbia University niedergeschlagen hat.

Stellt man all diese Faktoren in Rechnung, so lassen sich die Leitmotive identifizieren, die Neumann gegen Ende seines Lebens umgetrieben haben müssen. Und verknüpft man sie angesichts seines plötzlichen und tragischen Unfalltodes im Herbst 1954 zu einem Denkfaden, dann kann man daran vielleicht sein eigentliches Vermächtnis festmachen. Dieser Denkfaden ist brüchig und reißt so abrupt ab wie der Lebensfaden seines Autors, aber er lässt am Ende doch erkennen, dass hier ein theoretisch hochambitionierter Kopf alles andere als optimistisch auf seine Zeit, jedenfalls nicht erwartungsfroh in die Zukunft blickte. Was sich vielmehr in den Vordergrund drängte, waren bedrohliche Tatsachen, in denen sich persönliche Erinnerungen mit aktuellen Beobachtungen wissenschaftlicher Art überlagerten und zu einem pessimistischen Geschichtsbild zu verdichten schienen. Dem entspricht beim späten Neumann eine Art von hintergründigem Denkzwang, der von einem apriorischen Gegensatz zwischen Macht und Freiheit ausgeht und – auf dem Umweg einer wenig ermutigenden Empirie – schließlich in die Akzentuierung von Entfremdung und Angst mündet. Und genau so lauten auch die Titel der Schriften aus den letzten beiden Jahren: „Zum Begriff der politischen Freiheit“ (1953) sowie „Angst und Politik“ (1954).

Der erste dieser Aufsätze ist explizit theoretisch angelegt und greift ein grundsätzliches Problem des politischen Denkens auf, das seinen Platz im Kanon der modernen Fächer noch zu finden hat. Einleitend konstatiert Neumann daher: „Die Soziologie befasst sich vielfach nur mit der Beschreibung des Faktischen; die politische Theorie mit der Wahrheit. Die Wahrheit der politischen Theorie ist die Freiheit. Daraus ergibt sich ein grundsätzliches Postulat: Da keine politische Ordnung die politische Freiheit vollkommen verwirklichen kann, muss die politische Theorie immer kritisch sein. Eine konformistische politische Theorie ist keine Theorie.“43 Was aus der Geschichte des politischen Denkens altbekannt klingen mag, ist für Neumann ein nach wie vor ungelöster Konflikt, wenn nicht sogar ein unlösbarer Widerspruch: „Das Problem der politischen Philosophie und ihr Dilemma ist die Aussöhnung von Freiheit und Zwang … Die Geschichte der modernen politischen Theorie seit Machiavelli ist die Geschichte dieses Versuchs, Recht und Macht, Gesetz und Gewalt in Einklang zu bringen. Es gibt keine politische Theorie, die nicht beides unternimmt.“44

Solche Sätze klingen nicht nur schroff, sondern sie sind von geradezu dezisionistischer Schärfe und mögen manchem seiner Studierenden noch lange in den Ohren geklungen haben. Um sie zu verstehen, kann man sich an den formalen Argumentationsgang halten, der die überlangen Ausführungen zu gliedern versucht und dabei den ehemaligen Juristen entschieden hinter sich lässt; er demonstriert nämlich unmissverständlich, dass Neumann sich weder mit einem neoliberalen Freiheitspathos à la „freedom and democracy“ (Bertolt Brecht) noch mit dem negativen Freiheitsverständnis der Jurisprudenz begnügt, die in Rechtstiteln eine hinreichende Garantie für eine gute Ordnung erblickt. Wirkliche Substanz erhält der Freiheitsbegriff nach Neumann nur, wenn den Individuen und den gesellschaftlichen Gruppen tatsächliche, extensive und positive Handlungsmacht zur Verfügung steht. Neumann spricht hier vom kognitiven und vom Willenselement der Freiheit und meint damit die rationale Durchdringung der gesellschaftlichen Prozesse einerseits, die Möglichkeit ihrer aktiven und effektiven Mitgestaltung andererseits – oder genauer, da diese Mitgestaltung in der modernen Gesellschaft offenbar immer begrenzter wird, wenigstens die demokratische Kontrolle der politischen Macht.

Aber genau hier treten die geschichtsgestaltenden Tatsachen penetrant in den Vordergrund, sie beherrschen sowohl die Wirtschaftsentwicklung wie die staatliche Organisation und laufen auf den einen neuralgischen Punkt zu: auf die offenbar unumkehrbare Zentralisierung der politischen und sozialen Macht sowie auf ihre fortschreitende bürokratische Ausformung, was, zusammen mit der generellen Technisierung aller anderen Lebensprozesse (einschließlich der Kultur), einen Zustand heraufführt, der zur hochgehängten Freiheitsidee in einen destruktiven Gegensatz tritt. So mündet die Dreierfolge der genannten Freiheitstypen am Ende des Aufsatzes folgerichtig in die Darstellung der „gegenwärtigen Krise der politischen Freiheit“45, wobei interessant ist, dass zunächst das maßgebliche Signalwort, das Neumann wenig später für die Ausmalung dieser Krise benützt, noch nicht fällt, während der Tatbestand selber schon ganz präsent ist: „Entfremdung“, d.h. die Gefährdung der politischen Freiheit durch die Isolierung der Bürger von der und durch die Politik.

Dieser Schritt bleibt dem Vortrag vorbehalten, den Neumann im Frühjahr 1954 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Freie Universität in Berlin hält. Dieser, sein letzter Auftritt geht ohne Umschweife in die existentielle Dimension und buchstabiert aus, was in der Entfremdung steckt und sie so bedrohlich macht: „Das Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Angst nicht aus der Welt verschwinden lassen. Sie ist, im Gegenteil, noch größer und furchtbarer geworden und beginnt, Nationen zu paralysieren und Menschen unfähig zu machen, sich frei zu entscheiden.“46 Was als Wiederaufnahme der bekannten marxistischen Metapher erscheint, erfährt jetzt eine absichtsvolle, ja programmatische Transformation.47 Neumann nimmt nämlich nichts weniger als einen methodischen Positionswechsel vor, der angesichts all dessen, was er vorher publiziert hatte, für einen qualitativen Gedankensprung steht: Hatte Neumann in seiner Interpretation des Nationalsozialismus jeden psychologischen Ansatz abgelehnt und war damit auf riskanten Abstand vom Kreis um Max Horkheimer gegangen, so holt er genau diesen Schritt jetzt nach: Er vertieft sich nicht nur in eine intensive Freud-Lektüre und findet von hier aus zur psychoanalytischen Grundlegung der Angst, sondern liefert gleich noch ein ganzes Tableau von Argumenten hinzu, auf welche Weise die genannten Gesellschaftsprozesse, also vor allem die Zentralisierung und Bürokratisierung der politischen Macht, zu Faktoren werden, die Angst und Entfremdung zum Schicksal des modernen Menschen machen.

Zwar versucht er an dieser deprimierenden Diagnose noch gewisse Differenzierungen anzubringen: „Man kann vielleicht sagen, dass das total repressive System depressive und Verfolgungsangst, das halbwegs freiheitliche Realangst institutionalisiert“48, heißt es in „Angst und Politik“, und in den posthum publizierten „Notizen zur Theorie der Diktatur“49 findet sich der Versuch, den Unterschied zwischen diktatorischen und demokratischen Systemen stärker zu machen und selber noch einmal sozialpsychologisch zu erklären. Doch hellt sich das Gesamtbild, zumindest was die politische Gegenwartsdiagnose betrifft, dadurch nur wenig auf: Neumanns Weltbild schien sich zuletzt einer düsteren Geschichtsphilosophie anzunähern, die gewisse Ähnlichkeiten mit den apokalyptischen Befürchtungen aufwies, wie sie von Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ ausformuliert und zum Wendepunkt der eigenen Theorietradition erklärt worden waren.50 Hatte Neumann in den 1940er Jahren gegenüber solchen Generalisierungen offensichtlich noch Distanz gehalten, so wurde sein plötzlicher Unfalltod mit nur 54 Jahren für seine ganze Generation zum Fanal. Was lebensgeschichtlich absolut sinnlos erscheintder Autounfall auf einer schnurgeraden Schweizer Landstraße –, setzte auch dem „political scholar“ einen tragischen Endpunkt.

V. Nachwort: Der „Behemoth“ als wirkungsgeschichtliches Stiefkind

Dennoch: Blickt man aus der Mitte der 1950er Jahre auf die wechselvolle politisch-intellektuelle Biographie Franz Neumanns zurück, so tritt über alle Brüche hinweg ein Kontinuum hervor, das man in der stets erneuerten Verknüpfung von kritischer Theorie und politischem Engagement erblicken kann. Der Idealtypus des „political scholar“, könnte man resümieren, war das Ergebnis eines realtypischen Prozesses, der von der eher rechtstechnischen Praxis des Gewerkschaftsfunktionärs über das theoretisch ambitionierte Exil der 1930er Jahre in eine angestrengte Phase der Politikberatung führte, um schließlich in das spektakuläre Format des amerikanisch-deutschen Politikprofessors zu münden. Dennoch wird man Neumanns Stellung in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts nicht aus seinen späten Fragmenten begründen wollen, sondern aus dem Buch, das aus der breiten Masse der Emigrantenliteratur allein deswegen herausragt, weil es die erste Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus, seiner „Struktur und Praxis“ war.

 

Wie also stand der Autor Neumann zu seinem „Behemoth“, wie ist er selbst mit seinem Vermächtnis umgegangen? Hat er für sein „magnum opus“ eine nachhaltige Wirkung erwartet oder zumindest eine längerfristige Perspektive gesehen?

Ich werde in den abschließenden Überlegungen einen Fauxpas begehen, den sich ein seriöser Historiker eigentlich nicht leisten darf: Ich werde nach etwas fragen, das Neumann nach 1945 nicht getan hat, und ich werde weiter über die Gründe spekulieren, die dieses Nicht-Tun bewirkt oder sogar erzwungen haben könnten. Die Freiheit dafür glaube ich mir nehmen zu können unter Berufung auf eine schmerzgeplagte Selbstreflexion, die Neumann sich offenbar nur privat gestattete und die dafür umso radikaler ausfiel. Die Formulierungen stammen aus seinen letzten Lebensmonaten und sind bekannt, auch beziehen sie sich weder direkt auf den „Behemoth“ noch auf seine theoretische Lebensleistung. Dennoch lohnt es sich, sie noch einmal ausführlich zu zitieren, nicht nur weil ihr Pathos zur Verallgemeinerung einlädt, sondern weil sich Neumann hier zu einer seltsamen Umkehrung der gewohnten Kausalität von Handlungsmotivation und Schuldzuschreibung bekennt, die man einem rationalistischen Charakter, der er lebenslang gewiss war, eigentlich nicht zutrauen möchte:

„Warum ich das Land so liebe und doch so verabscheue“, schreibt er an Helge Pross, die junge Soziologin aus Deutschland, zu der er sich nach der Trennung von seiner zweiten Frau offenbar hingezogen fühlte. „Vielleicht ist es ein Schuldgefühl, das ganz tief sitzt: Wie oft habe ich mir nach 1933 die Frage vorgelegt, wo meine Verantwortlichkeit für den Nationalsozialismus eigentlich steckt. Denn ich glaube an kollektive Schuld – aber dann kann ich mich ja davon nicht ausnehmen ...Wir, die wir in Opposition zu der Reaktion standen, waren alle zu feige. Wir haben alle kompromittiert. Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, wie verlogen die SPD in den Monaten Juli 1932 bis Mai 1933 war (und nicht nur damals) und habe nichts gesagt. Wie feige die Gewerkschaftsbosse waren – und ich habe ihnen weiter gedient. Wie verlogen die Intellektuellen waren – und ich habe geschwiegen. Natürlich kann ich das rational rechtfertigen mit der Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus, aber im Grunde genommen war Angst vor der Isolierung dabei. Dabei hatte ich große Beispiele: Karl Kraus, Kurt Tucholsky. Und ich habe immer in der Theorie den sokratischen Standpunkt für richtig gehalten, dass der wahre Intellektuelle immer und gegenüber jedem politischen System ein Metöke, ein Fremder sein muss. So habe ich also mitgemacht beim Ausverkauf der Ideen der sogenannten deutschen Linken ...“51

Eine tiefenhermeneutische Interpretation dieser so singulären wie schmerzlichen Selbstoffenbarung ist sicherlich riskant, aber angesichts der zeitgleich vollzogenen Hinwendung zu Freud doch auch naheliegend. Plausibel könnte die folgende Gedankenreihe sein: Dominant in Neumanns Worten ist erstens ein selbstquälerisches, vor allem aber ein überzogenes Schuldgefühl, das sein tatsächliches Verhalten in den Jahren 1932/3, seinen Mut und seine offensichtliche Risikobereitschaft seltsam herunterspielt oder sogar unterschlägt – die Quittung war doch Anfang Mai 1933 auf dem Fuß gefolgt, als Neumanns Büro von den SA-Schergen besetzt wurde und er mit Sicherheit verhaftet worden wäre, hätte er sich nicht bereits auf der Flucht befunden. Das führt zweitens zu der Vermutung, dass hinter dem Objekt dieser Schuldgefühle – der angeblichen politischen Feigheit, die als moralisches Versagen interpretiert wird – ein ganz anderes, allerdings hochtabuisiertes Objekt steht, aus dem sich das (übertriebene) Schuldgefühl speist. Damit stößt man drittens auf jene psychologische Grundkonstante, die für die erste Generation der Emigranten verallgemeinert werden kann, aber bei den jüdischen Emigranten eine ganz besondere Schärfe aufweisen musste. Gemeint ist der sog. Überlebenskomplex, d.h. das quälende Schuldgefühl derer, die dem Holocaust entronnen sind. Daraus schließlich könnte viertens verständlich werden, warum Neumann die ihm eigentlich fremde Denkfigur der kollektiven Schuld überhaupt für sich reklamieren kann: Die Kollektivität, die er „eigentlich“ meinte und die er gleichzeitig vor sich selber versteckte, war die der jüdischen Opfergemeinschaft.

Transponiert man diese psychologische Spekulation auf die objektivere Ebene der Wissenschaftsgeschichte, dann stellen sich nicht weniger dringliche Fragen, sie betreffen die Geistesverfassung der westdeutschen Nachkriegsepoche und lassen sich für Neumanns Stellung zu ihr vielleicht so ausbuchstabieren: Warum hat er gerade seinen „Behemoth“, dieses in den USA außerordentlich geschätzte Standardwerk, über den Nationalsozialismus so seltsam unter Verschluss gehalten? Warum hat er, wenn er doch so maßgeblichen Einfluss auf die Gründung der Politikwissenschaft genommen hat und dafür über große Finanzmittel verfügte, nicht für seine rasche Übersetzung ins Deutsche gesorgt? Warum hat er seine ehemaligen Landsleute nicht direkt mit seinem wissenschaftlichen Vermächtnis konfrontiert, was bedeutet hätte, vor allem die Eliten des neuen Deutschland zur Auseinandersetzung mit ihren erheblichen NS-Kontinuitäten zu zwingen? Bekanntlich hat es bis zum Jahr 1977 gedauert, bis der „Behemoth“ in der äußerst verdienstvollen Übersetzung von Gert Schäfer und Hedda Wagner herauskam, während z.B. Hannah Arendts „The Origins of Totalitarianism“ bereits 1955 auf Deutsch vorlag.52

Da man schwerlich annehmen kann, dass Neumann nicht wusste, welch hochexplosives Gemisch sowohl für die deutsche Öffentlichkeit als auch für die wissenschaftliche Forschung in seiner Nationalsozialismus-Analyse steckte, bieten sich als Antwort auf diese Fragen vor allem zwei Überlegungen an: Vergleichsweise einfach stellt sich die Vermutung dar, dass Neumann, wie u.a. dem kurzen Essay über „Ökonomie und Politik im 20. Jahrhundert“53 zu entnehmen ist, mit der marxistischen Grundierung des „Behemoth“ nicht mehr umstandslos übereinstimmte, und vielleicht wollte er dem in der Nachkriegszeit grassierenden Antikommunismus auch deswegen ausweichen, weil er die in ihm steckenden antisemitischen Reste spürte. In den dunklen Kern einer verwickelten Wirkungsgeschichte aber stößt man erst durch, wenn man sich – Marxismus hin oder her – die unbeirrte Strukturanalyse vor Augen hält, die mit ihr zusammenhängende Polykratie-Theorie von den vier Säulen des Nationalsozialismus und die höchst provozierende These, dass die Verbrechen der totalitären NS-Diktatur das Resultat eines Prozesses waren, an dem die ganze deutsche Gesellschaft mitgewirkt hat.

Nimmt man also umgekehrt an, dass Neumann nur zu genau wusste, welche Hypothek darin für die Zukunft der neuen deutschen Demokratie steckte, so kann man in seiner auffällig defensiven Haltung bezüglich der deutschen Publikation des „Behemoth“ ein tiefes Misstrauen gegen seine ehemaligen Landsleute, aber auch eine ebenso tiefe Resignation gegenüber seinem eigenen Werk und Wirken sehen. Dieser Gedanke gewinnt an Schärfe, wenn man sich fragt, ob Neumanns Zurückhaltung gegenüber der Übersetzung des „Behemoth“ ins Deutsche, d.h. in die Sprache der Täter, vielleicht mit dem Gefühl zu tun gehabt haben könnte, dass er dem dunkelsten Kapitel der Nazi-Diktatur, dem (erst später so genannten) „Holocaust“ mit seiner Analyse letztlich nicht gerecht geworden ist. Dieses Gefühl könnte umso bedrängender geworden sein, als Neumann die Vorstellung einer historischen Kollektivschuld nach dem Krieg offenbar nicht mehr fremd war, die aber natürlich für ihn selber, wie vorne vermutet, nur als Identifikation mit dem jüdischen Opferkollektiv Sinn gemacht haben kann.