Luther, Rosenzweig und die Schrift

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V

Alles Neue hat seine Vorgeschichte, zum mindesten eine negative, die „Erbschaft“, von der Goethe einmal zu Eckermann sprach. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts läuft eine ganze Wissenschaft nach dem Kampfziel der Vermenschlichung der Schrift. Gewiß war dies wissenschaftliche Ringen befangen in einer merkwürdigen Verwechslung der beiden Fragen: Was sagt das? und: Was hat der Schreiber damit sagen wollen? – einer Verwechslung, deren Recht doch dieselben Gelehrten etwa als Rezensenten mit gutem Grund energisch zurückgewiesen hätten. Trotzdem hat diese Bewegung wenigstens ihr kritisches Ziel erreicht: der als goldener Reif oder als goldene Scheibe um das Buch gelegte Heiligenschein umgibt es heute nicht mehr. Daraus zu schließen, daß es darum nicht heilig sei, wäre so naiv, als wenn man den alten Malern zutrauen wollte, sie hätten sich vorgestellt, der heilige Franz wäre wirklich mit so einem Metallring um den Kopf herumgelaufen. Was die Legende aus dem Mund von Augenzeugen über Strahlerscheinungen berichtet, haben sich die Künstler in die Formen, die allgemeinen und die zeitbesonderen, ihrer Kunst übersetzt; wenn heut einer den Nimbus anders malt, wenn er ihn gar nicht malt, so braucht er um nichts weniger an die Heiligkeit des Heiligen zu glauben; einen Glauben an die Ausdrucksform einer vergangenen Zeit binden zu wollen, ist eine billige Ausflucht von Leuten, denen in ihrer Haut unheimlich wird bei dem Gedanken, jemand „in unsrer Zeit“ könne glauben. Die kritische Wissenschaft hat sich jenes Fehlschlusses nicht schuldig gemacht. Sie hat mehr oder weniger bewußt von Anfang an auch einen neuen Begriff der Heiligkeit der Schrift zu bestimmen gesucht. Daß sie bei diesem Versuch regelmäßig wieder in die Nähe des starren, abteilenden Offenbarungsbegriffs des alten Dogmas geriet, liegt vielleicht nicht so sehr, wie dem Juden naheliegt zu vermuten, an konfessioneller Befangenheit, als vielmehr an jener geschilderten Verwechslung dessen, was in das Buch hineingeschrieben wurde, mit dem, was aus dem Buch herausspricht. Denn geschichtliche Fragestellung, weil sie notwendig zielstrebig ist, zeichnet leicht, auf ein Gegenwärtiges angewandt, die Linien ihrer Zielstrebigkeit auch in dieses hinein, wo sie dann natürlich zu Trennungs- und Umgrenzungslinien erstarren; Goethes Faust, wie er ihn entworfen und niedergeschrieben hat, und wie ihn also der Literaturhistoriker im Kolleg doziert, ist ganz und gar nicht der, den er geschrieben hat; der ist viel eher der, den ein Schuljunge mit heißen Backen aus dem Reclamheftchen liest.

Der Kampf der Wissenschaft um die neue menschliche Heiligung der Schrift spiegelt sich nun auch in den Übersetzungsversuchen, die ihr wie aller Philologenarbeit zur Seite gehen, und von denen ja einer, der von Kautzsch und zehn andern Gelehrten unternommene, mit der „zur Erbauung des Bibellesers“17 veranstalteten kommentarlosen Ausgabe in vielen Zehntausenden von Exemplaren verbreitet ist und mit Recht in dem Ruf steht, das Ergebnis der anderthalb Jahrhunderte alttestamentlicher Wissenschaft zu bieten. Mit Recht – es ist wirklich eine ganze Wissenschaft, die in ihm zu Worte gekommen ist; wenn im Folgenden gezeigt wird, daß diese Wissenschaft, um ihr eigenes Ziel zu erreichen, nicht wissenschaftlich genug ist, so geht das gar nicht auf den einzelnen Gelehrten, von dem etwa das grade angezogene Übersetzungsbeispiel stammt, sondern wirklich auf die Wissenschaft selber, von der der einzelne Forscher nur ein Exponent ist, auf den Anspruch also an Exaktheit, und das heißt doch wohl: an Wissenschaftlichkeit, den die Wissenschaft an sich selber stellt.

Jenes Bibelwerk gibt als seinen eigenen Zweck an: „jeder Art von Lesern den Inhalt des Alten Testaments, so wie es mit den Mitteln der heutigen Schriftforschung geschehen kann, in klarem heutigem Deutsch zu vermitteln“18. In dieser Formulierung ist schon ausgesprochen, was der Übersetzerarbeit dieser Wissenschaft – und übrigens nicht dieser allein, sondern dem Übersetzergewissen in allen Zweigen der Philologie – zur wirklichen Gewissenhaftigkeit fehlt. Denn, es ist fast beschämend, solche Selbstverständlichkeiten auszusprechen, aber doch nötig, – denn man kann den Inhalt nicht vermitteln, wenn man nicht zugleich auch die Form vermittelt. Für das, was gesagt wird, ist es nicht nebensächlich, wie es gesagt wird. Der Ton macht die Musik. Das Kommando: Stillgestanden! ist zwar „inhaltlich“ identisch mit dem: Bitte stillgestanden! eines zarten Kunsthistorikers und Etappenleutnants und auch mit der „inhaltlich“ einwandfreien Satzumformung: ich befehle euch, stillzustehn; dasselbe ist es nicht. Und doch: so, genau so, wird „wissenschaftlich“ übersetzt. Das klingt übertrieben, aber was ist es andres, wenn etwa in der Erzählung des Ereignisses am Schilfmeer – ich nehme die Beispiele alle aus dem zweiten Buch Moses, das in jenem Bibelwerk von zwei Gelehrten umschichtig übersetzt und jüngst von einem dritten neubearbeitet19 ist und also schon dadurch ein guter Repräsentant des allen Gemeinsamen – in wenigen aufeinanderfolgenden Sätzen (14, 19 ff.): „da änderte … seine Stellung“, „brachte … zum Weichen“, „nahmen die Verfolgung auf“, „brachte … in Verwirrung“ für schlichtes hinwegzog, zurücktrieb, setzten nach, verschreckte des Originals steht. Vielleicht gibt es in einem stilistisch so verschiedenartigen Buch wie der Bibel auch Stellen, für die dieses Deutsch eines kleinstädtischen Amtsblättchens das richtige zur Übersetzung ist. Über die ganze Erzählung ohne Unterschied ausgegossen, verfälscht es den Ton und damit auch die „Musik“. Freilich läßt dann gleich die wissenschaftliche Übersetzung die Wasser „zurückfluten“; aber gerade für diesen „starken sinnlichen Realismus“ muß das Original die Verantwortung ablehnen, das hier ganz allgemein „kehren“ sagt. Und ebenso ist es eine Fälschung in der umgekehrten Richtung, wenn das Bibelwerk da, wo das Original sich einmal einer umständlich verschnörkelten Wendung bedient, wie in der seltsam unerzählten Schilderung der Niederfahrt Gottes zum Offenbarungsberg: Da ward der Schall der Posaune fortgehend mehr erstarkend (19, 19), ein simples „wurde immer mächtiger“ hat. Wenn Luther in dieser Art übersetzt, bleibt er nicht hinter seiner eigenen Forderung zurück; wenn die moderne Wissenschaft so den Inhalt des Textes wiedergegeben zu haben meint, entblößt sie nur ihre wissenschaftliche Anspruchslosigkeit.

Das charakterisierte Obenhin-Übersetzen weicht bezeichnenderweise einer um eine Spur größeren Genauigkeit in einem poetischen Stück wie dem Siegeslied von Kapitel 15; hier weiß sogar die Wissenschaft schon, daß die Ausdrucksweise nicht ganz unwichtig für das Ausgedrückte ist; während balladenhafte Klänge (13, 21f. und 32, 17f.) und dithyrambische Aufschwünge (2, 23ff. und 12, 42) der Erzählung unfehlbar in die Sauce des einen und allgemeinen Polizeisekretärsdeutsch eingeschluckt werden.

Jenes Obenhin wird aber geradezu Verwüstung bei dem Zielpunkt des Buchs, dem Höhepunkt vielleicht des ganzen Fünfbuchs, beim „Zelt“. Die gewaltige Gottesrede der Kapitel 25 bis 31, das Wort zu der Vision, die dem Führer bescheidet, zu welchem Ende, zu welchem „Werkdienst“ sein Volk aus dem „Frondienst“ geführt wurde, wird in dem erwähnten Bibelwerk aus ihrer strengen, sachlichen Erhabenheit in ein unruhig geschwätziges, die Klarheit der Linie verkritzelndes Idiom transponiert, ein Abstand etwa, wie wenn der Kompaniefeldwebel in der Instruktionsstunde die klassischen Sätze der Felddienstordnung zu „erläutern“ sucht. So, um ein greifbares Beispiel anzuführen, meint jenes Bibelwerk, das ohne Unterlaß durch die ganzen Kapitel hindurchziehende Wort „machen“, das Thema dieser großen Fuge, in anmutiger Abwechslung, die wahrscheinlich den Leser vor Langeweile schützen soll, bald durch „errichten“, bald durch „anfertigen“, bald durch „anbringen“, bald durch „arbeiten“ wiedergeben zu müssen; ohne jede Ahnung, daß dadurch nicht „nur“ die Form, sondern auch der ganze Sinn der Vision verlorengeht, deren Gegenstand ja das in sechstägigem Wolkendunkel (24, 16) auf dem Sinai geschaffene Urbild der „Wohnung“ ist20, zu dessen Schau Mose am siebenten Tag in die Wolke hineinberufen wird und das dann das Volk, ein menschgeschaffenes Gleichnis der göttlichen Schöpfung, vollendet (39, 32 und 40, 33 = I, 2, 1 f. Ferner 39, 43 = I, 1, 31 und 2, 3). Wie also die sechs Tage und der siebente hier wiederkehren, und das Wort der Vollendung, und das bestätigende Ja, und der abschließende Segen, so auch das einfachste und umfassendste, göttliches Tun menschlichem, menschliches göttlichem vergleichnissende Wort für die Schöpfung selber: das Machen.

Immer wieder muß gesagt werden, daß all das durchaus nicht zu Lasten des einzelnen Gelehrten geht, der an dem Werk nach seinen besten Kräften mitgearbeitet hat. Die Wissenschaft selber ist im Übersetzen wissenschaftlich zu anspruchslos. So hat sie das Vertrauen zur lutherschen Übersetzung zwar in weiten Kreisen erschüttert; aber was sie an ihre Stelle gesetzt hat, ist nicht die Übersetzung des neuen Glaubensausdrucks, dem doch, bewußt und unbewußt, all ihre Arbeit dient. Wohl hat sie Einzelheiten berichtigt; aber andrerseits lassen sich viele der lutherschen „Fehler“ grade vor dem Richterstuhl der modernen Wissenschaft, der ja den alten Übersetzungen, denen Luther dabei vielfach folgte, eine Stimme gegen den überlieferten hebräischen Text zuerkennt, sehr gut verteidigen. Von solchen Einzelberichtigungen also abgesehen gibt sie auch im wissenschaftlichen Sinn nichts Besseres und allermeist Schlechteres als Luther.

VI

Luther selbst sah die wissenschaftliche Bedeutung seines Werks darin, daß er auf den Grundtext zurückging. Auch die Gegner empfanden, wenn auch mit dem schlechten Gewissen des Widerstands gegen eine Forderung der Zeit, das als das Revolutionäre. Und doch war der Revolutionär noch innerlich gebunden an das, was er stürzte. Die Vulgata hatte ja, wie schon aus den angeführten Äußerungen „Meister Klüglings“ hervorging, für den Bildungsmenschen des sechzehnten Jahrhunderts eine ganz ähnliche Bedeutung wie heute die Lutherbibel: wirklich oder vorgeblich vertrauter Besitz, und in beiden Fällen, heut zwar vornehmlich im zweiten, Ruhekissen des Gewissens und Türpolsterung des kultivierten Arbeitszimmers gegen störende Schälle von draußen. Aber auch Luther selbst steckte ihr Wortlaut in Fleisch und Blut. Er, dessen deutscher Psalter vielleicht den Gipfel seiner übersetzerischen Leistung darstellt, hat doch selbst in späteren Jahren noch, wenn er, ein „großer Psalmensager“, in äußeren oder inneren Anfechtungen sich zurückzog, um im Gebet einer Reihe Psalmen seine Kraft zu erneuen, den ihm aus langen Mönchsjahren vertrauten lateinischen Text gesagt! Das allein, wüßten wir es nicht sonst noch21 und verriete es der Text seiner Übersetzung nicht fortwährend, würde schon dahin führen, daß der innere und häufig auch der äußere Ausgangspunkt seines Übersetzens trotz allem die Vulgata war und der Grundtext nur das, freilich aufs stärkste herangezogene Korrektiv. Anders ausgedrückt: er hat, indem er den Sinn des hebräischen Textes ergründete, doch bei diesem Ergründen nicht hebräisch gedacht (und auch nicht wie nachher beim Umgießen des ergründeten Sinns in deutsche Rede: deutsch), sondern lateinisch.

 

Nun ist ja das Werk des Hieronymus heut auch von protestantischer Seite als die Meisterleistung, die es ist und als die es Luther selbst beurteilt hat, anerkannt. Es war also kein schlechter Führer, dem er sich für die ersten Schritte anvertraute. Vor allem den Sinn eines Satzganzen – und auf ihn vornehmlich mußte es Luther, bei dem zu Anfang geschilderten Verhältnis der beiden Grundrichtungen alles Übersetzens in seiner Übersetzung, ja ankommen – arbeitet die Vulgata als, ob auch späte, Erbin logizistisch-rhetorischer Sprachtradition oft überraschend plastisch heraus. Aber grade das klassische, weil von Luther selbst in seiner typischen Bedeutung erläuterte, Beispiel des „du hast das Gefängnis gefangen“, wo Luther übrigens grade durch den Vorgang der Vulgata sich zu einer allzu dogmatischen Auffassung des Texts verleiten ließ, zeigt, welche tiefen Blicke, und sei es selbst einmal allzutiefe, der enge Anschluß an die hebräische Wendung eröffnen kann. Und wenn nicht nur da, wo ein umschriebenes Dogma hinweist, sondern grundsätzlich überall im Menschenwort die Möglichkeit verborgen geglaubt wird, daß sich eines Tages, zu seiner, zu meiner Zeit das Gotteswort durch es offenbart, dann wird es zur Notwendigkeit für den Übersetzer, soweit irgend seine Sprache es ermöglicht, den eigentümlichen Wendungen jener offenbarungsträchtigen Menschenrede, seis nachbildend, seis andeutend, zu folgen.

So haben, um bei dem Beispiel zu bleiben, die den semitischen Sprachen, aber nicht ihnen allein, sondern allen noch anschauungsstarken Sprachen eigenen Potenzierungen eines Zeitworts, auch wenn sie nicht wie hier durch ein Hauptwort, sondern wie meist durch einen Infinitiv geschehen, im Hebräischen jedesmal einen ganz präzisen Sinn, und sei es nur den einer mächtigen Hervorhebung des Worts. Wenn etwa – auch hier alle Beispiele wieder aus dem zweiten Buch – die sieben Jethrotöchter (2, 19) dem Vater lebhaft die Antwort hervorsprudeln: er schöpfte auch, schöpfte für uns, oder wenn Mose (5, 23), Gott nach dem ersten Mißerfolg wieder aufsuchend, ihm vorwurfsvoll entgegenhält: doch errettet, – errettet hast du dein Volk nicht, so kommt eben jene lebhafte Heraushebung des antworttragenden Tatworts und die Ausdruckskraft jenes Vorwurfs auch im Deutschen nur heraus, wenn man auch hier verdoppelt. Nun gar erst, wenn wie in der Sprache des Rechts die Verdoppelung einen ganz präzisen juristischen Sinn – gewöhnlich den der Rechtsnormalität: vollgültige Vergeltung, sühngerechte Sühne, gezählte Bezahlung – hat.

Die Grenzen des Sprachmöglichen dürfen natürlich nicht überschritten werden. Ja mehr noch: auch schon die Wiedergabe eines hebräisch gewöhnlichen Ausdrucks durch einen im Deutschen ungewöhnlichen ist unstatthaft; eine flache Wendung darf nicht vertieft, eine glatte nicht aufgerauht, eine unschöne nicht verschönt werden. Aber genau sowenig umgekehrt. Etwa der ungeheure Schluß des zweiten Kapitels ist mit seinem viermal wiederholten Subjekt Gott gewiß, wie Luther empfand, kein normales Deutsch. Aber genau sowenig normales Hebräisch! Nur engster Anschluß an den Urtext kann da die Überhöhung eines „Anthropomorphismus“ durch den andern – in Wahrheit sind natürlich Gottes sogenannte Anthropomorphismen die Theomorphismen des Menschen – bis zum letzten unüberhöhbaren „Gott erkannte“ auch im Deutschen zum Reden bringen.

Was im Deutschen sprachmöglich ist, darüber entscheidet freilich hier bei diesem Buch das Sprachgefühl keines Einzelnen, sei er auch Angehöriger der berufsmäßig unfehlbaren Berufe; auch der Übersetzer selbst darf sich nicht an seine eigene Sprache binden wollen; er steht hier nicht als Einzelner vor einem Einzelnen oder vor dem Werk einer einzelnen Zeit, sondern literarisch gesehen vor der Anthologie mindestens eines Jahrtausends; schon der Wortschatz der Bibel ist unvergleichlich größer als der andrer gleich umfangreicher Bücher. Und in der Frage der Sprachmöglichkeit irren bisweilen selbst die Größten; Luther gibt in der Vorrede zum Alten Testament von 1523 als Beispiele für unzulässige Sprachneuerungen die Worte: beherzigen, behändigen, ersprießlich! So gefährlich ist das Schulmeistern, – selbst für Genies. Doch wenn Luther eine zeitlang schwankte, ob er dem deutschen Sprachgefühl die Bildhaftigkeit der „starken Hand“ (3, 19) zumuten könne, und sie deshalb im achten bis zwölften Druck durch „starke Wunder“ ersetzte, so hat er mit Recht im dreizehnten die echte „starke Hand“ wiederhergestellt: nur sie leitet zu dem folgenden „So recke ich denn meine Hand“ hin, wie sie andrerseits auch wieder durch diese Fortsetzung selber ganz deutlich wird. Daß das wissenschaftliche Bibelwerk ohne Schwanken durch alle Ausgaben, von 1894 bis 1922, „Zwang“ sagen wird, wird der Leser schon kaum mehr anders erwarten.

Jenseits von Luthers Erkenntnis lag das, doch schon von Hieronymus gelegentlich ergriffene, wichtigste Mittel, das lebendige Gewächs der hebräischen Rede in eine abendländische Sprache umzupflanzen. Ich habe an andrer Stelle22 von der Bedeutung der „Atemkolen“ ausführlich gehandelt. Hier darum nur dies: sie machen so wenig durch ihre Absätze die Prosa zur Poesie – ein häufiges, aber darum nicht minder törichtes Mißverständnis – wie etwa durch ihre Überschneidungen des poetischen Metrums die Poesie zur Prosa. Sondern beiden, den poetischen wie den prosaischen Teilen der Bibel ganz gleichmäßig, geben sie den in der Schriftlichkeit der Schrift erstickten freien, mündlichen Atemzug des Worts zurück. Die weltweite Entfernung, wie sie etwa im ersten Buch zwischen der unartikuliert-artikellos stammelnden Schilderung der Urschöpfung im zweiten Vers des Schöpfungskapitels und dem flüssigen Erzählen der Josephsgeschichte besteht oder im zweiten Buch zwischen der Groteskheit der Froschplage, dem Jauchzen des Meerlieds, der Wort gegen Wort auf der Wage der Leidenschaft auswägenden großen Anrede Moses an Gott, dem erhabenen Schildern der Wohnung und dem genauen Verumständen und Bedingen der Rechtssprüche: dieser ganze Reichtum der Stimmen und Klangfarben wird, aus dem eintönigen Grau der gewohnten Klavierauszugsnotierung befreit, erst durch diese Partiturschreibung wieder lautbar, lesbar, – laut lesbar.

VII

Wie in dieser letzten Totalität der Rede Luthers Übersetzung, aber nicht minder alle späteren, sich noch, nicht zum Übersetzen verpflichtet fühlte, so nun auch in dem andern Pol der Sprache, dem elementaren: dem Wort. Auch hier hat zwar Luther, vielleicht mehr als alle Späteren, das Problem gesehen; etwa in den schönen Bemerkungen einer andern Psaltervorrede23 über die hebräischen Worte für Güte, Wahrheit und Treue, Glaube; oder noch näher am Schluß der Vorrede auf den Deutschen Psalter, in dem sehr ernst gemeinten Humor, mit dem er allen Meistern und Klüglingen fünfzig Gulden auslobt, wenn sie ihm das eine Wort Chen „durch und durch in der Schrift, eigentlich und gewiß verdeutschen“. Es ist sein Wort, das lutherschste Wort des hebräischen Lexikons, das Wort für Gnade. Schon das, und auch die drei vorher genannten Worte, zeigt uns wieder, was diese ganze Untersuchung überall zeigt: den Glaubenszwang, der alles wirkliche Übersetzen der Schrift bis ins einzelne beherrscht. Wieder wird eine andre Glaubenshoffnung, der alles Profane in der Schrift – und was wäre nicht profan! – nur Hülle ist, unter der sich eines Tages ein Heiliges, mein Heiliges enthüllen kann, auch dieses Problem der Wörtlichkeit des Worts anders, umfassender nehmen. Sie muß grundsätzlich die Aufgabe, ein Wort „durch und durch in der Schrift eigentlich und gewiß zu verdeutschen“, für jedes Wort anerkennen; und wenigstens da, wo ihr die erhoffte Enthüllung der Gegenwärtigkeit des Worts schon einmal geschah, wird aus jener grundsätzlich anerkannten Aufgabe eine unumgehbare, mit allen Kräften anzugreifende.

Es gibt nur Eine Sprache – mit diesem Paradox habe ich in einer andern Behandlung24 des Übersetzungsproblems einmal die Aufgabe, Ziel wie Weg, zu fassen gesucht. Diese Einheit aller Sprache liegt für ihren elementaren Anteil, das Wort, tiefer verborgen als für ihren Totalitätsanteil, den Satz. Der Satz stellt sich auch dem oberflächlicheren Blick als ein Gebilde dar, und also als bildsam, umbildsam. So arbeitet auch die Grammatik, die Satzlehre sowohl wie die ja auch das Wort auf den Satz beziehende Formenlehre, gern mit einfachen Analogisierungen der Sprachen. Das Flugbild der Wortlandschaft einer Sprache aber scheint zunächst einmal von dem jeder andern Sprache geschieden und unterschieden; und auch die Landkarten dieser Landschaften, die Lexiken mit ihrem 1., 2., 3., a, b, c, beschreiben um das Wort der einen Sprache nur je einen großen Kreis, der mehrere Kreise um Worte der anderen Sprache schneidet, so daß eine Anzahl gemeinsamer Flächen entstehen, die aber alle anscheinend beziehungslos und unverbunden auseinanderliegen. Anders wird das Bild erst durch die geologische Betrachtung. In der Wurzelschicht der Worte finden sich die oben getrennten Flächen zusammen, und in noch tieferer Schicht, des Wurzelsinns, der Wurzelsinnlichkeit, zeigt sich, jenseits allen Fragens nach etwaigen Urverwandtschaften der Sprachen, die an der Wortoberfläche nur erahnbare Einheit alles menschlichen Sprechens. In diese Schichten also muß der Übersetzer sich hinunterwagen, wenn er die in der einen Sprache eng zusammenliegenden Worte, in denen sich ein Begriffskreis schließt, in der andern Sprache, ungeachtet daß sie da oberflächlich, lexikalisch, weit auseinanderliegen, ebenfalls als geschlossenen Anschauungs- und Begriffskreis entdecken will. Bei dieser Einfahrt muß er ausgerüstet sein mit der Grubenlampe der wissenschaftlichen Etymologie; aber auch von dem Aufschimmern der Adern des Texts selbst darf er das Auge nicht hochmütig abwenden. Ja diese den Sprechern und Schreibern selbst gemeinten, gefühlten, gewollten Zusammenhänge müssen ihm für sein Werk sogar noch wichtiger sein als die Wortverwandtschaften, welche die Sprachvergleichung sei es bestätigt, sei es verwirft, sei es aufzeigt.

Wenn etwa der Text immer wieder anhebt, daß im Zelt des mo’ed über dem Schrein der ’eduth Gott sich dem Menschen hiwa’e d will, so wird das hier Gemeinte nicht deutlich, wenn (Kautzsch) Gott sich im Offenbarungszelt über der Gesetzeslade offenbart, auch nicht, wenn (Luther) er sich in der Stiftshütte über der Lade des Zeugnisses bezeugt, am ehesten noch, wenn (Luther in älteren Drucken) er sich im Zelt der Bezeugnis über der Lade des Zeugnisses bezeugt; aber weder von zeugen noch von stiften noch von setzen noch von offen noch von bar weiß der Text das mindeste. Die lexikalisch verzweigten Bedeutungen helfen hier dem Übersetzer, wenigstens wenn er an die Bedeutsamkeit des von der Schrift so stark hervorgehobenen Zusammenhangs glaubt, garnichts. Er muß in die Wurzeltiefen hinabsteigen, wo sich ihm dann bei ’ad = „bis“ und ’od = „noch“ der sinnliche Sinn der Wortgruppe erschließt: das räumlich-zeitliche Gegenwärtigsein. Nun gegenwärtigt sich Gott im Zelt der Gegenwart über dem Schrein der Vergegenwärtigung des am Sinai geschlossenen Bunds. Und auch das ha’ed, das Einschärfen und Verwarnen (Kautzsch), das Bezeugen und Ansagen (Luther), von Kap. 19, 21 und 23 und Kap. 21, 29 wird nun sinndeutlich als Vergegenwärtigen. Nur der ’ed, der bei der Tat Gegenwärtige, muß Zeuge bleiben, und die ’eda, die derzeitige Gegenwartschaft des Volkes, bleibt Gemeinschaft. Da stößt der Übersetzer an die Grenze des Sprachmöglichen, über die zwar, wie hier, die Leuchtkraft, aber nicht die Tragkraft des Wurzelsinns hinübertragen darf.

 

Die Grenze der Sprachmöglichkeit ist natürlich auch sonst gegenüber der Forderung, ein Wort „durch und durch in der Schrift“ zu verdeutschen, unbedingt innezuhalten. So kann die leichte und vieldeutige Interjektion, die Luther mit „siehe“ wiedergab, wegen des Fehlens einer ähnlich vieldeutigen Interjektion im Deutschen – das Italienische besitzt sie in ecco, dem Abkömmling des Worts, womit die Vulgata jene Interjektion gab – durchaus nicht einheitlich übersetzt werden, mag auch mit jenem „siehe“ ein großer Teil des Zaubers des „Biblischen“ wegfallen. Doch ist es genau so unzulässig, aus Scheu, etwa an jene Grenze zu stoßen, entlegene Ausdrücke des Hebräischen durch geläufige des Deutschen zu übersetzen. Und schließlich bietet das Deutsche mit seiner heutigen Leichtigkeit der Wortzusammensetzung auch einen Vorteil, der überall, wo die Wurzelaufgrabung nicht zu praktisch verwertbarem Ergebnis führt, vom Übersetzer auszunutzen ist. Etwa die das ganze Buch rahmende und zusammenschließende Gleichnamigkeit der beiden „Dienste“, des Frondiensts in Ägypten und des Werkdiensts am Zelt, wird in der Mitte des Buchs, in den Zehn Worten, noch verklammert durch die Erinnerung an das Dienstfrönerhaus und das Gebot nur dem Einen zu dienen; und noch tiefer, gelöst vom Historischen, im Ruhegebot des siebenten Tags durch die Verwendung des gleichen Worts für den Dienstknecht und das sechstägige „Dienen“ seines Herrn. Eine ehrfürchtige Treue zum Wort der Schrift wird auch solche Beziehungen ehren, seien sie nun, wie bei jenem erstgegebenen Beispiel aus den Zelt-Kapiteln, nachweisbar dem Text bewußt oder seien sie, wie das letzte Beispiel vielleicht, ihm nur vom unbewußten Tiefsinn der Sprache in den Mund gelegt, in die Feder diktiert. Jener stumme Tiefsinn der Worte gewinnt ja im Sprechen Sprache. Auch dem Übersetzer ist es gesagt, daß die Sprache der Schrift Treue und Wahrheit in ein Wort verschließt und daß sie dies verschlossene Wort im Glauben aufbrechen läßt.