Luther, Rosenzweig und die Schrift

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VIII

Als Luther 1523 den ersten Teil seines Alten Testaments herausgab, grüßte er, über die „Klüglinge“ seiner Zeit hinweg und hinweg über die siebzehn Ausgaben der deutschen Bibel in den sechzig Jahren vor ihm, über einen Geschichtsraum von elf Jahrhunderten hin, in männlichfreier Ehrerbietung als seinen Vorgänger den großen Hieronymus: „Nun wird sich auch der Kot an das Rad hangen, und wird keiner so grob sein, der hie nicht wolle Meister über mich sein, und mich hie und da tadeln. Wohlan die laß ich fahren! Ich habs von Anfang wohl bedacht, daß ich eher zehn tausend finden wollt, die meine Arbeit tadeln, ehe ich einen fünde, der mir das zwanzigste Teil nachtät. Ich wollt auch gar gelehrt sein und mein Kunst köstlich beweisen, wenn ich sollt S. Hieronymus’ lateinische Bibel tadeln. Aber er sollt mir auch wohl wiederum Trotz bieten, daß ichs ihm nachtät“.

Das sind die Zeiträume dieses Buchs. Ich sagte zu Anfang, daß alles Sprechen Übersetzen sei. Das Gespräch der Menschheit hat mit diesem Buch angehoben. In diesem Gespräch liegen zwischen Rede und Widerrede halbe, ganze Jahrtausende. Der Frage des dritten Kapitels der Genesis suchte Paulus die Antwort, indem er die Worte des zwanzigsten Kapitels des Exodus in Frage stellte. Seine Antwort wurde von Augustin und Luther wiederholt, doch auf sein Infragestellen gaben die beiden jeder wieder eine eigene Antwort, jener die Antwort seines Gottesstaats, dieser die Antwort seines Schreibens an die Ratsherrn, daß sie christliche Schulen aufrichten sollten. Jedesmal steht vor dem neuen Satz des Gesprächs eine Übersetzung. Die Übersetzung in die Sprache der Tragödie, die Übersetzung in die Sprache des Corpus Juris, die Übersetzung in die Sprache der Phänomenologie des Geistes. Wann das Gespräch zuende sein wird, weiß kein Mensch; es hat auch niemand gewußt, wann es anhub. So kann ihm auch keines Menschen Unwille, Besserwissen und Wohlweisheit sein Ende setzen, sondern allein der Wille, das Wissen, die Weisheit dessen, der es angehoben hat.

Anmerkungen

1 Sämliche Werke III, II, S. 218.

2 Vorrede über das Buch Hiob (Drucke von 1524 und 25).

3 Luther spricht vom 68. Psalm.

4 Vorrede zum Deutschen Psalter.

5 Zit. nach Hopf. Würdigung der Lutherschen Bibelübersetzung, S. 126.

6 Vollständige Darstellung und Beurteilung der deutschen Sprache in Luthers Bibelübersetzung. 1794 und 95.

7 Für die Cansteinsche ist das neuerdings ausführlich dargestellt von Burdach (Die nationale Aneignung der Bibel und die Anfänge der germanischen Philologie. 1924).

8 Gött. Gel. Anz. 1885.

9 Das Neue Testament von 1522 kostete anderthalb Gulden, „soviel wie ein Pferd“.

10 Vorrede zum Deutschen Psalter.

11 Vorrede über das Buch Hiob (1524 und 25).

12 Cochläus und Dietenberger (bei Hopf a. a. O., S. 132 ff.).

13 Emser und Eck (bei Hopf a. a. O., S. 172).

14 Cochläus (bei Hopf a. a. O., S. 132).

15 Eck in der Vorrede zu seinem auf Befehl der bayrischen Herzöge hergestellten Konkurrenzunternehmen (bei Hopf a. a. O., S. 134).

16 Cochläus (bei Hopf a. a. O., S. 132).

17 Vorwort zur „Textbibel“.

18 Vorwort der großen Ausgabe, wiederangeführt im Vorwort zur Textbibel.

19 Ich zitiere nach der Neubearbeitung des Hauptwerks von 1922, weil eine Neubearbeitung der Textbibel noch nicht vorliegt; nur für die Stellen, wo das große Werk wegen angenommener Textverderbnis nicht zu übersetzen wagt, lege ich die hierin mutigere Textbibel zugrunde. Auch das Hauptwerk wendet sich ja an das große Publikum; und die Neubearbeitung pflastert ihren Weg mit guten Vorwortsätzen von „Angleichung an den Urtext, die auch vor dem den hebräischen Sprachcharakter kennzeichnenden starken sinnlichen Realismus nicht zurückschreckt“ und macht dem dernier cri von 1922, der „lebendigen Wissenschaft“, das charakteristisch formulierte Versprechen, „unschöne Wendungen zu bessern, überhaupt die Wiedergabe nicht nur photographisch exakt, sondern bildmäßig lebendig zu gestalten, um sie dem Ideal eines künstlerisch vollwertigen Abbildes des Originals in etwas näherzubringen“. Wen bei dem Wort lebendige Wissenschaft, diesem Produkt der Galgenreue, eine Gänsehaut überläuft, der wird freilich sagen, daß ihm eine gute Photographie lieber ist als ein schlechtes Bild. Es kommt beim Übersetzen nur und ausschließlich auf die „Exaktheit“ an, das „Künstlerische“ braucht man nicht zu bemühen.

20 Dazu und zum ganzen Zelt vgl. das Buch „Der Pentateuch“ von B. Jacob, unter den Lebenden, Juden wie Christen, wohl dem besten Kenner der hebräischen Bibel.

21 Vgl. etwa für die Frühzeit, 1514, die Äußerung, die den hebräischen Text für den Buchstaben erklärt und den lateinischen für den Geist (zit. bei Scheel, Martin Luther II, 228 u. 408); für die Spätzeit die bekannte Mathesiussche Schilderung Luthers beim Revidieren der Übersetzung: „mit seinen alten lateinischen und seinen neuen teutschen Biblien, dabei er auch stetigs den hebräischen Text hatte“.

22 Die Kreatur, 1. Jahrgang, Heft 1: „Die Schrift und das Wort“.

23 Um „Dritten Teil des Alten Testaments“ 1524 und 25.

24 Nachwort zu Jehuda Halevi.

Walter Homolka
Martin Luther als Symbol geistiger Freiheit? Der Reformator und seine Rezeption im Judentum

„Wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen“, befand vor gut einhundert Jahren der junge Rabbiner Reinhold Lewin (1888−1943).1 Als 1911 seine preisgekrönte Inaugural-Dissertation „Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters“ erschien, war dies die überhaupt erste wissenschaftliche Monographie zu diesem Thema, die auf der Durchsicht aller Schriften des Reformators beruhte. Lewin machte in seiner Arbeit das Schwinden von Luthers Konversionshoffnung für dessen Abkehr von seiner anfänglich toleranten Haltung gegenüber den Juden verantwortlich.2

Martin Luther ist Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Legitimationsfigur des Antisemitismus geworden. Es gab aber schon zu Lebzeiten des Reformators auch jüdische Stimmen zu seinem Wirken und zu seiner Wirkung; Andreas Pangritz hat diese frühe Rezeptionsgeschichte ausführlich geschildert.3 Als eine der ersten jüdischen Reaktionen gilt die des aus Spanien stammenden Jerusalemer Kabbalisten Rabbi Abraham ben Elieser Halevi (ca. 1460−1528), der in einem Brief von 1525 Luther als denjenigen beschrieb, der die Christen zum wahren Glauben zurückbringen würde, also als Wegbereiter des Messias.4

Auch wenn diese messianischen Hoffnungen enttäuscht wurden und die anfängliche Sympathie bald schwand: Luther hatte mit seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) eine unerhört neue Position vertreten.5 Als er sich zunächst in die Lage der Juden in Europa versetzte und schrieb: „Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte gesehen, dass solche Tölpel und Knebel den christlichen Glauben regieren und lehren, so wäre ich eher eine Sau als ein Christ geworden“, da weckte das bei den Juden in den deutschsprachigen Ländern zunächst große Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lage: „Das war ein Wort, wie es die Juden seit einem Jahrtausend nicht gehört hatten“, urteilte Heinrich Graetz.6 Doch dann empfand Luther das Festhalten der Juden an ihrem Glauben als Infragestellung seines eigenen Glaubensangebots, was später mit zu seinen starken Ausfällen gegen ihre „Verstocktheit“ führte, so zu seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543.7 Noch im selben Jahr fand eine umfassende Vertreibung aus dem Kurfürstentum Sachsen statt, wo die harte Einstellung des Reformators gegenüber den Juden dominierte; bei der Vertreibung aus dem lutherischen Braunschweig berief sich der Stadtrat 1546 ebenfalls auf Luthers Judenschriften. Zuvor hatte als erster protestantischer Landesherr der hessische Landgraf Philipp „der Großmütige“ das jüdische Leben mit einer Judenordnung reglementiert. Rabbiner Abraham Geiger (1810−1874) kommentierte die Wirkung des Reformators folgendermaßen: „So darf es uns denn auch nicht befremden, wenn das befreiende Reformationswerk in seiner Heimstätte sich sehr bald zur dogmatischen Formel verengt, daß wir fast glauben müssen, es sei hier keine Befreiung vor sich gegangen, sondern nur Fessel mit Fessel vertauscht worden, das Volksleben sei nicht erfrischt worden, vielmehr habe ein kleinlicher Geist dasselbe verunreinigt und zerfleischt.“8

 

Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Luther im Zuge der jüdischen Aufklärung zum Symbol und Ausgangspunkt geistiger Freiheit. Jüdische Reformer wie Saul Ascher (1767−1822) begriffen ihn als Wegbereiter für Emanzipation und Erneuerung des Judentums.9 Die jüdische Luther-Verehrung erinnert damit sehr an die Begeisterung für Friedrich Schiller.10 Dorothea Wendebourg hat auf den Umstand hingewiesen, dass die judenfeindlichen Schriften des späten Luthers bis zu ihrem Nachdruck in der 1826 begonnenen Erlanger Gesamtausgabe offensichtlich nicht bekannt waren.11 Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fielen seine gehässigen Ausfälle kaum ins Gewicht, wenngleich der Leipziger Pastor Ludwig Fischer 1838 Luthers Schriften über Juden von 1523 und 1543 veröffentlicht hatte um die Notwendigkeit einer „freundlichen“ Judenmission gegenüber der „erstarrten“ lutherischen Orthodoxie zu begründen.12

Stattdessen wurde er als Übersetzer gewürdigt, der den Reichtum der hebräischen Sprache erkannt und die Schrift verdeutscht und volkstümlich gemacht hatte, und nicht von ungefähr wurde Moses Mendelssohn (1729−1786), der die Tora ins Deutsche übertragen hatte, im 19. Jahrhundert als Reformator und als „Luther des Judentums“ gefeiert.13 Heinrich Heine bestärkte in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland diesen Topos; „Wie Luther das Papstthum, so stürzte Mendelssohn den Talmud.“14

Mendelssohns Tora-Übersetzung von 1783 kam erst 1815 auch in deutschen Lettern heraus. Mangels einer anerkannten umfassenden jüdischen Bibelübersetzung in deutscher Sprache griffen Juden im Allgemeinen auf die Luther-Bibel zurück, bis 1837 die von Leopold Zunz verantwortete Übersetzung und 1839 die Philippson-Bibel erschienen. Bemerkenswerterweise kritisierte Ludwig Philippson noch 1859 Luthers Übersetzung als „einseitig, monoton und prosaisch, wo das Original viel- und tiefsinnig und voll Schwunges, voll Zartheit und Erhabenheit, voll Abwechslung und Biegsamkeit ist“.15

Seit Luther wird die Christenheit in Mitteleuropa nicht mehr als monolithisch begriffen. Diese Konfessionalisierung hat im 19. Jahrhundert auch die Auffächerung des Judentums in unterschiedliche Denominationen erst denkbar und möglich gemacht. Leopold Zunz (1794−1886), der Begründer der Wissenschaft des Judentums, sah Luther 1855 als den Überwinder des Mittelalters, der seiner Zeit weit voraus war und dessen Wahrheiten, insbesondere die Gedanken- und Gewissensfreiheit, in der Gegenwart überhaupt erst eingeholt werden müssten.16 Das Urteil des Zunz-Schülers Abraham Geiger fiel weit nüchterner aus: „Martin Luther hat der Menschheit keinen neuen Gedankeninhalt gebracht“, schrieb der Vordenker des liberalen Judentums 1871, doch er gestand Luther sehr wohl zu, den Geist von der priesterlichen Macht befreit und die Religion mit dem Volksleben verknüpft zu haben, so wie einst die Pharisäer den priesterlichen Sadduzäismus überwunden hätten.17 Auch für Geiger war es Luthers Bibelübersetzung, die ihn heraushob, die ihre Wurzeln aber schließlich im Judentum hatte: „Mit seiner Bibelübersetzung legte Luther das Zeugnis ab, dass er seine Erfrischung der Kirche mit den Mitteln des Judentums vollbracht“.18 Zudem trug der Reformator mittelbar zur Ausprägung der modernen Bibelwissenschaft bei: „Allein die freie Forschung der heiligen Schrift, die er zwar selbst nicht unternahm, weil er von bestimmten Glaubensvoraussetzungen ausging, wurde nun vorbereitet.“19

Für viele deutsche Juden war Luther zum deutschen Nationalhelden geworden, und als Rabbiner Abraham Geiger 1855 Paris besuchte, verglich er den Panthéon mit der Walhalla und beklagte, dass König Ludwig von Bayern dort ein schlechtes Totengericht gehalten hätte: „Martin Luther wurde aus der Reihe der großen deutschen Männer ausgeschieden“.20 Dem Mann, „der mit dem Hammer seines Geistes die alte Form zertrümmert, die geistliche Bevormundung beseitigt hat“, werde „seinen Platz in der Ehrenhalle des deutschen Volkes und der Menschheit auch dann noch einnehmen, wenn auch sein religiöser Standpunkt längst überschritten ist.“21

Die jüdischen Sympathien für Luther beschränkten sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf bestimmte Aspekte seines Wirkens und galten dem Reformator, der die Konfessionalisierung von Religion ermöglicht hatte, dem Bibelübersetzer, dem Luther der Aufklärung, dem „deutschen“ Luther. Diese Zustimmung bezog sich aber immer nur auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die Luther anstieß, nie aber auf seine Theologie. Zu denen, die Luther priesen, gehörten insbesondere Schriftsteller und politische Denker, die aus dem jüdischen Milieu ihrer Familien ausgebrochen und wie Ludwig Börne und Heinrich Heine zum Christentum konvertiert oder wie Karl Marx bereits als Kind getauft worden waren.22

Für Heine war Luther Wegbereiter einer bevorstehenden deutschen Revolution: „Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt, und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf, – der dritte Befreier!“23 Wie ambivalent seine Haltung gegenüber Luthers Wirkung denn aber ist, wird in der Reihung von Paradoxa deutlich, mit der er den Reformator zu fassen versucht: „Er war ein kompletter Mensch, ich möchte sagen ein absoluter Mensch, in welchem Geist und Materie nicht getrennt sind. Ihn einen Spiritualisten nennen, wäre daher eben so irrig, als nennte man ihn einen Sensualisten. Wie soll ich sagen, er hatte etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es bei allen providentiellen Männern finden, etwas schauerlich Naives, etwas tölpelhaft Kluges, etwas erhaben Borniertes, etwas unbezwingbar Dämonisches.“24 Heines „Ruhm dem Luther!“ unterscheidet ihn von Ludwig Börne, der Luther der Lähmung des deutschen Patriotismus zieh; für ihn war die Reformation „die Schwindsucht, an der die deutsche Freiheit starb, und Luther war ihr Totengräber.“25

Marx schließlich folgerte 1844: “Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt.“26

Erst als das Ideal des „Aufklärungsluther“ im späteren 19. Jahrhundert vom „kirchlichen Luther“ und vom „deutschen Luther“ im Sinne einer Einheit von protestantischem Christentum und Preußischem Königtum überlagert wurde, folgerte der Historiker Heinrich Graetz in seiner Volkstümlichen Geschichte der Juden (Leipzig 1889) mit Blick auf Luthers Judenschriften nunmehr voller Ablehnung: „So hatten denn die Juden an dem Reformator und Regenerator Deutschlands einen fast noch schlimmeren Feind […], jedenfalls einen schlimmeren als an den Päpsten bis zur Mitte des Jahrhunderts“.27

Zum Reformationsgedenken von 1917 wurden in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ganz unterschiedliche Stimmen zu Luther laut. Hermann Cohen (1842−1918) pries ihn in den Neuen Jüdischen Monatsheften als einen „Schöpfer des Deutschtums“ und lobte wie zuvor schon Abraham Geiger seine Übersetzungstätigkeit: „Er hat dadurch die ursprüngliche Bestimmung der Bibel, welche das Judentum in seiner ganzen Geschichte treulich gepflegt hat, in der Christenheit zur Erfüllung gebracht“.28 Der Neu-Kantianer Cohen befand: „Auch als deutscher Staatsbürger hat der moderne Jude Martin Luther als den Urheber des modernen Staatsgedankens zu feiern und eine unvergängliche innige Dankbarkeit seinem Andenken zu weihen“.29 Mit Blick auf Luthers Bibelübersetzung, Rechtfertigungslehre und Anschauung vom Staat kam er zu dem Schluss, dass Luther, „dieser deutsche Geistesheld“, Erbe des Judentums gewesen und deshalb den Juden besonders nahe sei.30

Dagegen übte der Wiener Talmudwissenschaftler und Historiker Samuel Krauss (1866−1948) entschieden Kritik. Er betonte in der Zeitschrift Der Jude Luthers Judenfeindschaft – „War sein Glaube tief und unermesslich, so war auch sein Hass unergründlich“ – und fragte, ob der Reformator, „wer weiß, am Ende vielleicht auch noch das Alte Testament verstoßen hätte“. Und dennoch: „Die Grundsätze, die Luther zu Beginn seiner Laufbahn in alle Welt eingeführt hat, Grundsätze der Aufklärung und der freien Entfaltung des menschlichen Geistes, darunter die Ablehnung gegen Juden gerichteten geistigen oder leiblichen Glaubenszwanges, erwiesen sich als gewaltige Faktoren der Folgezeit, die selbst durch Luthers eigene Fehler nicht mehr zu bannen waren“.31

Die neuzeitliche Beschäftigung des Judentums mit dem Christentum ist eng mit den Rabbinern Abraham Geiger und Leo Baeck verbunden. So wie schon Abraham Geigers Beschäftigung mit dem jüdischen Jesus und mit dem Christentum der Entwurf einer Gegengeschichte gewesen war, so hatte auch Rabbiner Leo Baeck (1873−1956) sein Wesen des Judentums (1905) als Gegengeschichte angelegt. Gerade die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, die das Leben in einen politisch-gesellschaftlichen und einen religiösen Bereich zu trennen scheint, ist für Leo Baeck eine zentrale Säule seiner Kritik am Luthertum.32 Der Mensch werde ganz passiv beschrieben, der Gnade und Erlösung bedürftig und somit unfähig, die Welt aktiv nach Gottes Wollen zu gestalten.33 Neben dem Menschenbild war es aber die enge Verbindung von Thron und Altar, die Baeck Martin Luther zuschrieb. 1926 stellte er gegenüber Rabbiner Caesar Seligmann (1860−1950) fest: „Es ist ein geistiges und moralisches Unglück Deutschlands, daß … man aus dem Deutschtum eine Religion gemacht hat. Anstatt an Gott zu glauben, glauben sie – lutherische Pfarrer voran – an das Deutschtum“.34 Durch seine Bindung an den Staat habe es das Luthertum versäumt, zum Träger einer universalen Botschaft zu werden. Es habe die Chance, Weltreligion zu sein, nicht wahrgenommen. Die absolute Unabhängigkeit der Religion vom Staat war dabei für Baeck von höchster Bedeutung. Die lutherische Reformation aber habe die Religion an den Staat ausgeliefert. Arnold Zweig (1887−1968) sprach in diesem Zusammenhang sogar davon, dass „Luther in der Vergottung des Staates durch die Identität von oberstem Bischof und Landesherrn zur Vernichtung seiner eignen reformatorischen Tat aus Gründen der Politik das letzte Wort“ gesprochen hatte.35

Leo Baeck gewahrte hier Tendenzen, die für den autoritären Staat wegbereitend waren und die die schweigende Billigung des Nationalsozialismus durch die Mehrheit der Bürger förderten. In einem Polizeistaat, der keinerlei Raum mehr für die persönliche Entscheidung lässt, sah er den direkten Abkömmling des Luthertums. Der nationalsozialistische Staat war ihm somit die logische Konsequenz einer fehlgeleiteten theologischen Evolution. Kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten stellte Leo Baeck 1932 in Zwischen Wittenberg und Rom schließlich fest: „Es ist ein Mangel im Protestantismus, dass er, der dem Volk die Bibel gegeben hat, dann die Bibel, die im Leben oder gar nicht sein will, zum bloßen Predigt- und Andachtsbuch gemacht hat.“ […] „Die gerade im Protestantismus so häufige Ablehnung des Alten Testaments, dieses eifervollen Buchs, geht wohl nicht am wenigsten auf eine Ablehnung dieses Gebotes zurück, auf die altestamentliche Deutlichkeit von: ‚Ich bin der Ewige, Dein Gott, Du sollst!‘“.36 Nach der Machtergreifung konstatierte Baeck dann im Oktober 1933 in Das Judentum in der Gegenwart: „Innerhalb des deutschen Protestantismus hat sich vielfach gegenüber den Fragen, die sich aus der Beschaffenheit, den Beständen und Zuständen dieser Welt ergeben, eine neue Art der theologischen Beantwortung durchgesetzt, die von einem Glauben an ‚Schöpfungsordnungen’ ausgehen will und sich hierfür, sei es mit Recht oder Unrecht, auf die Lehre Luthers beruft“.37

 

Mit Luthers 450. Geburtstag 1933 setzte eine Rückbesinnung auf den Reformator unter nationalsozialistischen Gesichtspunkten ein. Ludwig Feuchtwanger (1885−1947), ein Bruder der Schriftstellers Lion Feuchtwanger, bemerkte zu diesem Luthergeburtstag: „Wie damals Martin Luther gegen die Juden losbrach, so tönt es immer wieder aus dem deutschen Volk seit 450 Jahren. Wir erleben im November 1933, dass zahlreiche bedeutende Vertreter der protestantischen Kirche und Lehre sich dieser Stellung Luthers ausdrücklich zu eigen, ihm Wort für Wort nachsprechen und seine Judenschriften eindringlich zitieren und empfehlen“.38

Es überrascht nicht, dass fünf Jahre später der Thüringer Landesbischof Martin Sasse (1890−1942) die Novemberpogrome mit Luthers Judenschriften rechtfertigt: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen.… In dieser Stunde muß die Stimme des Mannes gehört werden, der … der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden“.39 Sicherlich führt keine direkte Linie von Luthers Judenschriften zu Hitler und zur Schoa. Eine Linie lässt sich allerdings ziehen, und sie ist tragisch: Rabbiner Reinhold Lewin, Verfasser der ersten jüdischen Monographie über „Luthers Stellung zu den Juden“, wurde im März 1943 mit seiner Frau Evie und zwei Kindern von Breslau nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Heute, im 500. Jahr der Reformation, bleibt die Frage, ob die evangelische Theologie und die protestantischen Kirchen sich von Martin Luther distanzieren und tatsächlich von Jesus von Nazareth sprechen können, ohne wie der Reformator das Judentum als defizitär herabzusetzen und das Andauern des Bundes Gottes mit dem jüdischen Volk in Zweifel zu ziehen.40

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