Zweistromland

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Dies der Plan. Verlockend zunächst, aber wie es scheint aussichtslos, was die Verwirklichung anlangt. Auf ein erstes Bedenken wird schon die vorausgesetzte wirkliche Neunklassigkeit stoßen. Denn dies allerdings ist hier ganz entschieden verlangt, daß jede Klasse wirklich für sich unterrichtet wird. Das System (wenn man ein reines Verlegenheitserzeugnis so nennen will), das System der Zusammenlegung mehrerer Klassen zu einer „Stufe“ ist geradezu der Tod jedes lebendigen Unterrichts, der eben, im Ideal, eine ständige Wechselwirkung zwischen dem Lehrer und sämtlichen anwesenden Schülern voraussetzt; die zwei Drittel Unbeteiligte im Klassenzimmer müssen gerade für den guten Lehrer, d. h. für den Lehrer, der sein Lehren aus den auf ihn gerichteten Augen der Schüler schöpft, ein Bleigewicht sein; ganz abgesehen davon, daß die eine Lehrergehaltsersparnis erkauft wird durch eine vielfache Schülerzeitverschwendung. Und dabei ist gerade dieser Mißstand bei etwas gutem Willen verhältnismäßig leicht zu beheben. Es ist weiter nichts erforderlich als eine Zusammenlegung der Unterrichtsstunden von sämtlichen höheren Schulen der Stadt oder des Stadtbezirks, allenfalls bis zu 30 und mehr Schülern, eine Zahl, die sich ja in den Oberklassen automatisch verkleinern würde. Geeignete Nachmittagsstunden wenigstens hierfür freizuhalten, wäre kein übermäßiger Anspruch an die Schulen; zur Not müßte man eben weniger günstige Zeiten wählen; auf Vormittagsstunden wird sowieso kaum zu hoffen sein. Überhaupt wird man gut tun, sich nicht allzuviel auf Entgegenkommen der öffentlichen Mächte zu verlassen und nach Möglichkeit in diese ganzen Überlegungen nur die eigene Kraft als Faktor einzustellen. So wird man vor allem sich zunächst auch auf ein staatsgesetzliches Obligatorischwerden unseres Unterrichts nicht versteifen dürfen; gewiß wäre es ein sehr wünschenswertes Stück „Gleichberechtigung“; aber andrerseits würde der staatliche Einfluß in einem Maße verstärkt, wie es einer so jungen Einrichtung nicht zuträglich wäre. Verlassen wir uns lieber zunächst sowohl in der Finanzierung wie in der Schülerheranziehung auf die eigenen materiellen und pädagogischen Leistungen. Gerade die Stellung des Hebräischen im Mittelpunkt des Unterrichts wird vielfach, obwohl die Sprache hier ja keineswegs Bildungsziel, sondern durchaus nur notwendiger Bildungsträger ist, den Behörden ein Dorn im Auge sein; man wird trotz der wirklich bescheidenen Zeitbeanspruchung – zwei Wochenstunden! während etwa der übliche private Musikunterricht durchschnittlich mit „Üben“ vier bis sechs Wochenstunden wegnimmt – den Überbürdungseinwand machen, ein Einwand, der ohnehin bei „jüdischen Köpfen“ weniger stichhält als im allgemeinen; und man wird vielleicht im Grunde noch weitergehende nicht auszusprechende Besorgnisse haben. Denn verhehlen wir es uns nicht: gerade der liberalgerichtete Flügel der deutschen Judenpolitik hat – von Dohm und Hardenberg und Humboldt an – stets den Leitgedanken gehabt: die Emanzipation sei das Mittel zur Lösung der Judenfrage im Sinne einer Assimilation, die auch der entschiedenste Assimilant, der sich noch zu uns zählt, nicht unter dem Wort mitbegreifen würde. Deswegen können wir hier nur auf vorsichtige Unterstützung rechnen und selbst auf diese eher aus – freilich unsere Ziele und Gründe mißverstehenden – konservativen als aus liberalen Kreisen. Wie in den schulorganisatorischen Fragen, so auch in der Frage der Stellung des Lehrers im Lehrerkolleg. Auch hier möge auf den Kampf ums Recht nicht zuviel nützlicher zu verwendende Kraft verpulvert werden. Hier wie überall ist es besser, vom Keller und aus Eigenem zu bauen; steht einmal erst ein Gebäude eindrucksvoll da, so wird die öffentliche Gewalt sich schon von selbst und in ihrem eigenen Interesse bereitfinden, ihm öffentliche Rechte und dadurch sich selber geregelten Einfluß zu begründen.

Mit der Lehrerfrage haben wir nun allerdings den Kern aller Ausführungsfragen angeschnitten. Hier liegt der Sitz des Übels und damit die Stelle, an der die Pflege ansetzen muß. Es soll hier nichts gegen den Stand unserer jüdischen Elementarlehrer gesagt werden. Der Verfasser dieses Aufsatzes hat persönlich und auf Grund seiner Kindheitserfahrungen alle Achtung vor dem ernsthaften und nicht erfolglosen Bildungsstreben, das unter ihnen verbreitet ist; sie haben ihre Sache nicht schlecht gemacht. Dennoch muß gesagt und soll im folgenden, und zwar ebensosehr, ja noch mehr aus allgemein judenschaftlichen Gesichtspunkten als aus den besonderen pädagogischen, begründet werden: der Unterricht, wie wir ihn uns denken, muß soweit irgend möglich von akademisch gebildeten Lehrern gegeben werden. Und zwar genügt es nicht, diesen Unterricht etwa nebenher von jüdischen Mathematikern oder Neuphilologen geben zu lassen; abgesehen davon, daß auch nach dem Krieg schwerlich eine genügende Zahl vorhanden sein wird, um, noch dazu nebenher, diesen immerhin achtzehnstündigen Unterricht mitübernehmen zu können. Ganz abgesehen davon brauchen wir einen Stand von eigens theologisch gebildeten Lehrern; wir brauchen eine wissenschaftlich gebildete Theologie unabhängig von der Rücksicht auf Pflichten eines geistlichen Amts.

Es ist kaum zu bestreiten, daß das moderne westjüdische Rabbinertum innerhalb der jüdischen Entwicklung etwas Neues darstellt. Wohl ist der Zusammenhang mit dem Alten auch jetzt noch hinlänglich zu erkennen, aber mehr und mehr haben sich Züge hervorgedrängt, die den beamteten Gelehrten, gewissermaßen den theologischen Syndikus seiner Gemeinde von einst zu dem Geistlichen, ja in gewissen Funktionen namentlich in den „liberalen“ Gemeinden geradezu Priester von jetzt umschufen. Es soll an dieser Entwicklung nicht gemäkelt werden; das Neue entspricht in gewissem Umfang neuen Bedürfnissen; verhängnisvoll ist bloß, daß das Alte beseitigt ist, ohne seinerseits ein Fortleben neben dem Neuen gesichert zu bekommen. Gänzlich verschwunden ist von dem früheren Zustand gerade das Allerwesentlichste: der Rabbiner von einst war wie noch heute im Osten zwar in seinem Amt, nicht aber in seiner Bildung (geschweige in seiner Lebenshaltung) einzigartig in seiner Gemeinde. Abgesehen von der Amtsverantwortung war er als Gelehrter einer von mehreren, meist sogar von vielen; seinen Gelehrtentitel hatte er wohl überall gemeinsam mit einer ganzen Anzahl seiner Gemeindemitglieder, so wie heute den Doktortitel. Aber während der Doktortitel keinerlei besondere Gruppe innerhalb der Gemeinde hervorhebt, welcher der Rabbiner durch ihn angehörte, schuf die Morenu-Würde innerhalb der Gemeinde einen Kreis von jüdischen Gelehrten, innerhalb der Judenschaft den Kern eines Publikums. Und eben dies, ein jüdisches Publikum in einem äußeren Umfange, der einigermaßen der ungewöhnlichen Breite unserer allgemein geistig interessierten Schicht entspräche, fehlt. Dieser Mangel macht sich schmerzlich bemerkbar. Das spezifisch Jüdische ist in unseren Gemeinden statt Sache Aller Spezialität Weniger, ja geradezu Einzelner geworden. Das jüdische Interesse bezieht sich wesentlich auf äußere Gemeindeangelegenheiten und auf das den inneren Fragen gegenüber gleichfalls äußerliche Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Das Niveau unserer spezifisch jüdischen Zeitschriften war so, wie es diesem Zustand entsprechend sein mußte; wenn sich hier neuerdings eine Wandlung bemerkbar macht, so ist die eine der beiden allein in Frage kommenden Erscheinungen doch nur Äußerung einer wenn auch hochbedeutsamen Minderheitsgruppe, die andere in ihrem auffallenden Mangel eines gemeinsamen Untertons geradezu ein Spiegelbild jenes Zustands der Publikumslosigkeit, von dem wir sprachen. Ein Blatt von der Einheitlichkeit des Tons und dennoch Vielheit der darin zu Gehör kommenden Stimmen, wie etwa die „Christliche Welt“, findet sich bei uns nicht und ist auf Grund des heutigen Zustandes auch nicht zu schaffen. Die geistige Verflachung der Vereinigungen, die sich die Aufgabe setzen, ein solches jüdisches Publikum herzustellen und zu kräftigen, wie die Literaturvereine und in gewisser Weise auch die Logen, ist kaum zu leugnen; mit Vorträgen über alle Dinge „und“ die Juden ist keine Vertrautheit in der eigenen jüdischen Sphäre zu erreichen; ihnen daraus einen Vorwurf zu machen, wäre ganz unangebracht; sie versuchen Unmögliches; was sie wollen, ist mit Vorträgen und Vereinen überhaupt nicht zu erreichen, wenn der Unterbau, die Schule, fehlt. Soweit das Problem von der Seite des aufnehmenden und in Widerhall und Wechselwirkung die Entwicklung weitertreibenden Publikums.

Die andere Seite liegt bei der wissenschaftlichen Produktion selbst. Sie ist augenblicklich, da 100 Jahre um sind, seit der Begründer der „Wissenschaft des Judentums“ auf die Universität zog, glücklich so weit, daß ihr unmittelbar die Gefahr droht, selbst von diesem ihrem eigensten Gebiet durch nichtjüdischen Wettbewerb verdrängt zu werden, dem sie auf dem Gebiet der biblischen Forschung sowieso nie gleichgeachtet entgegengetreten ist. Sowenig das vom allgemeinen Standpunkt der Wissenschaft ohne weiteres ein Unglück wäre – bei näherer Betrachtung würde auch das anders erscheinen – so gefährlich ist es für uns. Man braucht hierüber nicht viel zu sagen. Die Erfahrungen, die wir in einem Jahrhundert protestantischer Behandlung des „Alten Testaments“ gemacht haben, sprechen laut. Soll auch für das „nachbiblische Judentum“ das modernisierte Christentum der anerkannte Maßstab der Betrachtung werden, so braucht man die Dinge nur sich selber zu überlassen; die Entwicklung des wissenschaftlichen Interesses in protestantisch theologischen Kreisen ist reif dafür. Gelehrte, denen bei allem Scharf- und Feinsinn dennoch die Eigentümlichkeiten jüdischen religiösen Denkens nie ins Gefühl übergehen können, werden dann an Halacha und Hagada, Philosophie und Kabbala ihre Methoden anwenden und uns ähnliche Wunder der sondernden Kritik bescheren, wie sie uns solche mit der Trennung des „unvereinbaren“ „jüdischen Chauvinismus“ und „prophetischen Universalismus“ im 72. Psalm oder mit der Herauslösung des leidenden Knechts Gottes aus der großen messianischen Weissagung der Volks- und Menschheitsgeschichte von Jes. 40 ff. beschert haben; es gibt auch auf dem bisher noch der Wissenschaft des Judentums eingeräumten Sondergebiet genug Erscheinungen, die bloß auf die protestantische Entdeckung ihrer „Unvereinbarkeit“ harren. Nicht daß wir die Leistungen dieser Wissenschaft nicht auch bewunderten; wenn wir wie soeben von „Jes. 40 ff.“ sprechen, bekennen wir uns ja, trotz Ibn Esras Andeutungen, als ihre Schuldner; und daß unsere eigene Beschäftigung mit der Schrift hier nichts Gleichwertiges hervorgebracht hat, bleibt uns ein Anlaß der Scham; um so mehr als wir uns klar sein müssen, daß es uns wahrhaftig nicht an „voraussetzungsloser Kritik“ gefehlt, daß sie sich nur auf andere Gebiete ergossen hat. Aber mindestens neben der protestantischen Wissenschaft müssen wir der jüdischen als der, ich möchte sagen heimischen, innerfamiliären Ansicht dieser Dinge ihren Platz erobern oder sichern; von einer solchen Vervielfältigung der Gesichtspunkte wird letzthin auch jene ihren Vorteil haben. Aber noch sind keine Anzeichen und keine Hoffnungen dafür vorhanden.

 

Der Grund dieser gegenwärtigen Aussichtslosigkeit der Lage steckt genau da, wo der Grund für das Nichtvorhandensein eines jüdischen Publikums steckt: in der Zuspitzung der theologischen Bildung auf die künftigen Rabbiner. Damit ist eine geistige Verarmung oder mindestens eine Vereinseitigung fast notwendig gegeben. Gewiß sind auch die theologischen Fakultäten der Universitäten so gut wie ausschließlich zur Ausbildung der Geistlichkeit geschaffen; aber schon durch ihre große Zahl bilden sie unter sich zusammengenommen eine Masse von eigenem Aufbau und eigenem Gemeinsinn. So hat sich in ihnen als gelehrter Körperschaft bis zu einem gewissen Grade ein von dem pädagogischen Zweck befreiter mehr oder weniger rein wissenschaftlicher Geist entwickeln können. Ein gleiches ist der Wissenschaft des Judentums schon durch die geringe Zahl ihrer Vertreter erschwert worden; so ist hier die wissenschaftliche Leistung immer Einzelleistung geblieben, hat kaum zur Schulebildung geführt, durch die nun einmal erst der allgemeine Einfluß der Ideen gesichert wird. Der breite Kreis, den die theologischen Fakultäten der Universitäten durch ihre eigene große Zahl darstellen, muß bei uns auf andere Weise hergestellt werden. Und hier bietet sich als Weg zu diesem Ziel der Entwicklung eines eigenen genügend großen Kreises wissenschaftlicher Tätigkeit das gleiche, was wir vom Gesichtspunkt des Schulunterrichts aus zu fordern hatten: die Schaffung eines eigenen theologisch gebildeten Lehrerstandes.

Weniger die Ausbildung als vielmehr die Unterhaltung eines solchen Standes scheint bei den vorhandenen Mitteln unvorstellbar. Für die Ausbildung würden schließlich auch die bestehenden Rabbinerseminare genügen. Selbstverständlich bleibt deshalb die theologische Fakultät im Rahmen einer deutschen Universität ein großes Ziel, vielleicht das Wichtigste, was wir jetzt, wenn wir selbst die nötigen materiellen Opfer bringen, vom Staat im gegenwärtigen Augenblick erreichen könnten. Ganz abgesehen von der anregenden Luft des Universitätsbetriebs, in die der jüdische Theologe seine Studien dort versetzt sähe, wäre es für die ganze deutsche Judenheit – gerade nach dem deutschen Begriff vom Verhältnis zwischen sozialem und geistigem Leben, der in diesem Fall erstrecht auch der jüdische ist – ein kaum zu überschätzender Gewinn, wenn sie in einer Fakultät eine sichtbar erhöhte geistige Vertretung besäße. An inneren Schwierigkeiten sollte der Plan am wenigsten scheitern. Die Zwiefachheit der religiösen „Richtungen“ wäre sicher zu überbrücken; man müßte nur von vornherein für jedes Fach eine Doppelbesetzung vorsehen, also um einmal die geringste Fächerspaltung zugrunde zu legen: je zwei Ordinariate für biblisches, rabbinisches, philosophisches Schrifttum; ganz von selbst werden sich die beiden Fachvertreter innerhalb der Fachgrenzen wieder verschiedenen Hauptgegenständen zuwenden, und während der „liberale Bibelforscher“ Pentateuchkritik treibt, wird sein „orthodoxer“ Kollege die Entwicklung der Exegese behandeln; während der „liberale“ Professor für Rabbinismus sich den Talmud selbst als sein Forschungsgebiet ausgewählt hat, wird der „orthodoxe“ sich auf die Kodifikatoren werfen; während der „liberale“ Philosoph systematische Religionswissenschaft vorträgt, wird der „orthodoxe“ über die mittelalterliche Blütezeit arbeiten. So wird sich eine Arbeitsteilung trotz der Doppelprofessuren irgendwie von selbst ergeben – einfach durch die Weitläufigkeit des Gebiets. Eine nicht zu geringe Zahl von Extraordinarien würde daneben zum mindesten die Behandlung der sozial- und sittengeschichtlichen Gebiete sowie der sprachlichen Hilfswissenschaften sichern; nicht bloß das talmudische Aramäisch würde hier trotz der philosophischen Fakultät seinen Platz finden, sondern auch gewisse Spezialitäten des Arabischen, etwa philosophische Terminologie. Wenn ferner der orthodox-liberale Gegensatz als der geistige Gegensatz, der er ist, Berücksichtigung und Ausgleich verlangt, wie er ja auch auf dem Gebiet der Gemeindeverwaltung solchen Ausgleich im wesentlichen gefunden hat, so ist der andere Gegensatz unserer Epoche, der jenen ersten schneidet, der zwischen Konfessions- und Nationaljudentum, als ein wesentlich politischer hier schlechthin zu ignorieren; die Frage nach der Partei muß verboten sein – das ist das innere Toleranzprinzip unserer theologischen Fakultät. Schwierigkeiten ferner, die sich aus dem Verhältnis zu den Rabbinerbildungsanstalten ergäben, würden sich bei gutem Willen wohl heben lassen. An all dem dürfte das unendlich wichtige Werk nicht scheitern. Die Mittel dafür unter uns zusammenzubringen würde nicht schwer sein. Zweifelhaft aber bleibt, trotz allerlei freundlicher Worte, die Zustimmung der Regierung. Darum sei hier die ganze Angelegenheit zurückgestellt; wir rechnen also mit den technisch ja genügenden bestehenden Vorbildungsanstalten für Rabbiner; ihnen möge auch die Bildung der Lehrer anvertraut werden; sie werden sich der neuen Aufgabe anpassen. Dann aber erhebt sich die große Frage: was weiter?

Es ist nicht genug, daß das Rabbinerseminar uns fertig vorgebildete Lehrer entläßt. Es wurde schon auseinandergesetzt, daß wir nicht bloß Lehrer brauchen, sondern auch arbeitende Gelehrte, eine Gruppe von Hunderten, die, unbeschwert von den äußeren und vor allem den inneren Pflichten des geistlichen Amts, der jüdischen Wissenschaft die nötige Breite der Produktionsmöglichkeiten geben werden. Und beides, der Lehrer und der Gelehrte, müssen die gleiche Person sein. Auch seine materielle Existenz muß auf beiden Seiten seiner Arbeit beruhen. Und was wir hier fordern, ist rein auf dem Wege der Selbsthilfe zu verwirklichen, ohne ein Nachsuchen um staatliche Mitwirkung. Freilich sind die erforderlichen Mittel nicht gering, ein Vielfaches der Summe, aus der eine Fakultät erhalten werden könnte. Wir brauchen nicht mehr und nicht weniger als dies: eine Akademie für Wissenschaft des Judentums. Sie muß von vornherein in einem Maßstab angelegt sein, gegen den die Ansätze, die jetzt schon bestehen, winzig erscheinen; denn ihr Zweck ist eben nicht bloß die Organisation wissenschaftlicher Arbeit, bei der schließlich die zulässige untere Grenze des Umfangs ziemlich niedrig angesetzt werden darf, weil eine kleine Leistung eben auch eine Leistung ist. Sondern sie bezweckt zugleich die geistige und materielle Zusammenfassung der gesamten höheren Lehrerschaft, also einer Gruppe von, um einmal eine Zahl zu nennen, mindestens 150 wissenschaftlichen Arbeitern. Damit ist also ein Stammkapital für mindestens 150 Stipendien von, sagen wir, 2500 Mark notwendig, für die sich die Empfänger zur Mitarbeit an einer der Unternehmungen der Akademie verpflichten. Diese Unternehmungen werden geleitet von den Mitgliedern; im Falle des Vorhandenseins einer Fakultät wären die Mitglieder ohne weiteres der Stamm der Mitglieder der Akademie, die sich dann durch Selbstergänzung entsprechend den wachsenden Aufgaben vermehren würden; anderenfalls müßte dieser Akademikerstamm aus den Dozenten der Rabbinerseminare als gewählter Ausschuß hervorgehen, der dann ebenfalls durch Selbstergänzung wachsen würde. Die nötige Summe würde sich wohl mindestens auf 10 Millionen belaufen, also ungefähr ein Jahresetat der gesamten jüdischen Gemeinden Deutschlands oder auf die Kopfzahl umgerechnet eine Aufwendung, die dem deutschen Wehrbeitrag von 1913 entspricht. Man könnte tatsächlich versuchen, sie nach diesem Muster als „einmaligen Lehrbeitrag“, etwa auch mit dreijähriger Zahlungsbefristung, durch freiwilligen Zusammentritt der Gemeinden aufzubringen; es wäre nicht der schlechteste Nebenerfolg, wenn bei dieser Gelegenheit in Form eines Zweckverbandes der Zusammenschluß der deutschen Gemeinden so aus ihrem eigenen Antrieb sich herstellte. Der andere Weg wäre der bei uns übliche, der durch Sammlung; es wäre nicht unbillig, wenn Stiftungen des Einheitskapitals von 50 bzw. (bei 4 %) 60 000 Mark auf ewig ausgezeichnet blieben und die aus dieser Quelle gespeisten Veröffentlichungen auf dem Titelblatt den Zusatz erhielten, zu wessen Erinnerung die betreffende Stiftung gemacht worden.

Die Inhaber nun dieser Stipendien müssen nicht, aber werden eine Anstellung als Lehrer im Gemeindedienst suchen. Die Gemeinde wird für die achtzehnstündige Lehrtätigkeit ein Gehalt zu bezahlen haben, das freilich immer noch den jetzigen Unterrichtsaufwendungen gegenüber sehr erheblich, andrerseits aber gegenüber dem, was Staat und Stadt dem höheren Lehrer zahlen, gering ist; angenommen, sie zahlt 2500 Mark, so sind damit für die Akademiestipendiaten Stellen von 5000 Mark geschaffen, in Anbetracht des Umstands, daß diese Stellen vor Mitte der 20er Jahre erreicht werden können, ein geradezu glänzendes Auskommen. Für die Gemeinde aber werden die ungewohnt hohen Ausgaben für einen Lehrer sich auch noch außerhalb der Schule lohnen; so wird sich auch die Übernahme des Gehalts eines nur für die höheren Schulen bestimmten Lehrers rechtfertigen, obwohl ohnehin schon bei unserer sozial vorbildlichen Steuerverteilung die Gemeindelasten wesentlich auf die Schultern derer fallen, die ihre Söhne auf die höhere Schule schicken. Auch abgesehen davon also werden sich diese Gemeindeaufwendungen rechtfertigen und lohnen. Suchen wir uns die Stellung des neuen Lehrers einmal vorstellig zu machen.

Er wird neben dem Rabbiner selbständig, theologisch gleichwertig vorgebildet dastehen. Er wird aber anders als dieser, wenigstens anders als dieser in den meisten Fällen, durch seine Arbeit für die Akademie dauernd unter dem befruchtenden Einfluß eines bedeutenden wissenschaftlichen Betriebes stehn. Er wird, da seine Lehramtspflichten, verglichen mit denen eines Oberlehrers, ihn zeitlich wenig und überdies nur nachmittags in Anspruch nehmen, in ganz andrer Weise für wissenschaftliche Tätigkeit frei sein. Seine äußere Stellung wird weniger auf der örtlichen Lehrertätigkeit beruhen, als auf der Zugehörigkeit zu einer großen, das ganze Reich, ja vielleicht, je nach Entwicklung der europäischen Dinge im Friedensschluß, das ganze Mitteleuropa umschließenden gelehrten Körperschaft. Als Mitarbeiter dieser Akademie wird er das jüdische Vortragswesen innerhalb der Gemeinde teils selbstwirkend, teils organisierend in die Hand nehmen und in die Literaturvereine den frischen Luftzug eines großen wissenschaftlichen Lebens hineinwehen lassen; auch die Gemeinden der umliegenden Landstädte wird er durch gelegentliche Veranstaltungen mitberücksichtigen; im Laufe der Jahre wird sich aus seiner eigenen Schülerschaft ein lebendig interessiertes weiteres Publikum hervorbilden. Gemeindebibliotheken mit anheimelndem viel besuchtem Leseraum nach dem bisher unerreichten Vorbild Berlins werden sich überall entwickeln; um so leichter, da schon heute hier weniger die äußere Möglichkeit, als der Wille und Antrieb dazu fehlt; denn schon heute würde es an vielen Orten nur der mutigen Zusammenfassung der verstreut vorhandenen Büchervorräte und Anschaffungsfonds sowie der geschickten Einrichtung von Bibliotheksstunden mit teilweis ehrenamtlichem Aufsichts- und Ausleihdienst bedürfen, um, wenn auch zunächst in bescheidenerem Maßstab, das Berliner Muster nachbilden zu können. Der Lehrer wird ferner das geistige Leben der Gemeinde wirksamer, als bisher dem Rabbiner meist möglich war, nach außen repräsentieren; er wird in der durchschnittlichen universitätslosen mittleren Großstadt schon als „Orientkenner“ zu dem kleinen Kreise der wissenschaftlichen Lokalkoryphäen gehören; seine Stellung, eben gerade weil nicht auf der örtlichen Amtstätigkeit allein beruhend, wird insofern neben dem Galerie- oder Museumsdirektor, dem Vorsteher der Stadtbibliothek, etwa einem oder dem anderen Gymnasiallehrer oder wissenschaftlich interessierten Pfarrer, dem künstlerischen Leiter des städtischen Theaters oder Orchesters sein. Der Lehrer wird nach innen und außen eine neue Lebendigkeit in das Dasein der Gemeinde bringen.

 

Wir brauchen diese neue Lebendigkeit. Die Hoffnungsfreude, mit der weite Kreise unter uns bei Kriegsausbruch eine neue Zeit für die deutsche Judenheit angebrochen sahen, ist erloschen. Es ist vom ernsthaft jüdischen Standpunkt aus ein Glück. Große Wandlungen dürfen dem Tüchtigen nicht als Geschenke von außen und oben in den Schoß fallen; die Zeit darf ihm nichts bringen, wofür er sich nicht selbst reif gemacht hat. Jene äußere Gleichberechtigung, auf die man hoffte, wäre ein solches Geschenk gewesen. Wir hätten als Einzelne erreicht, was der Gemeinschaft versagt geblieben wäre; im Grunde also der deutsche Zustand wie er schon vorher galt; mit dem einzigen Unterschied, daß, was früher wenigen Einzelnen zukam, jetzt von vielen, ja vielleicht den meisten erreicht worden wäre. Aber viele Einzelne, ja selbst die Gesamtheit der Einzelnen sind noch nicht die Gemeinschaft. Sie ist vielleicht in manchen Augenblicken bei den Wenigen besser aufgehoben als bei den Vielen. Ihr zunächst gilt es, die „Gleichberechtigung“ zu erkämpfen, und nicht zu erkämpfen, sondern zu erarbeiten. Ist erst eine solche Gleichberechtigung der Gemeinschaft, des Judentums, von uns erreicht, dann wird die Gleichberechtigung der Einzelnen, der Judenheit, von selber nachfolgen. Der Weg aber zur Gleichberechtigung der Gemeinschaft führt über die Organisation. Sie ist der Punkt, wo die bewußte Arbeit des Einzelnen den Pfad zum Geist der Gemeinschaft findet.

Als man uns in der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts in Deutschland zur Teilnahme am gemeinsamen Leben des Volks und Staats heranzuziehen begann, da geschah es so, daß man für den Einzelnen durch Gesetzesparagraphen die Schranken niederzulegen suchte, die ihn bisher noch von diesem Leben fernhielten. Daß der zu emanzipierende Einzelne selber auch seinerseits von Schranken eines eigenen gemeinsamen Lebens umfangen war, das galt bestenfalls für eine unbedeutende Erschwerung. Würde man ihm nur die Tore der großen politischen Volksgemeinschaft öffnen, so würden die Ketten, die an den Eingängen der alten Geist- und Blutgemeinschaft ausgespannt waren, schon von selber fallen. Nur die Reaktionäre meinten es damals anders. Die Judengesetzgebung, die Friedrich Wilhelm IV. plante, dachte zwar ebenfalls in ihrer Weise die Juden am Staat zu beteiligen, aber nicht auf Grund des den Einzelnen eröffneten Rechts, sondern auf Grund einer körperschaftlichen Verfassung der „Judenschaft“. Das lag im Rahmen der gesamten auf Belebung der körperschaftlichen Gliederung des Volks gerichteten Staatsansicht dieser Kreise; doch gerade gegenüber den Juden und gegenüber dem Wege im Sinne einzelpersönlicher Bildung, den sie in den letzten Jahrzehnten aus eigenem Antrieb eingeschlagen hatten, sah der Pferdefuß allgemein zurückschraubender Absichten zu deutlich unter dem staatsphilosophischen Gedankentalar heraus. So sind jene Pläne damals erfolglos geblieben. Auch heute wird sie kein Verständiger unter uns wiederbelebt sehen wollen. Gleichwohl hat sich die Zeit auch von jenen schlechthin einzelrechtlichen Vorstellungen, die damals wenigstens auf dem Papier siegten, wieder abgekehrt. Wir haben gelernt, daß mit der paragraphierten Berechtigung der Einzelnen wenig gewonnen ist. Solange man den Einzelnen zwar unter Umständen als Einzelnen gern mitwirken läßt, aber doch immer nur, indem man gegenüber der Tatsache seines Zugehörens zur Gemeinschaft nachsichtig ein Auge zudrückt, solange ist alles, was der Einzelne erreicht, selbst wenn er die Zugehörigkeit zu uns nicht verleugnet, höchstens materiell gesehen ein Nutzen für die Gemeinschaft, ideell gesehen aber nicht bloß kein Nutzen, sondern geradezu ein Schade. Die Gemeinschaft selber muß in eindrucksvoller Zusammenfassung nach innen wirksam, nach außen sichtbar werden, damit sie nicht trotz unserer persönlichen Anhänglichkeit, sowie wir heraustreten, uns von der Außenwelt als ein bestenfalls harmloser Makel nachgesehen wird. Nicht die Judenschaft zwar, wie die Reaktionäre der Mitte des 19. Jahrhunderts wollten, gilt es organisch zu verkörpern, aber das Judentum. Nicht judenschaftliche, sondern jüdischgeistige Organisationen gilt es zu schaffen. Der Geist des Judentums verlangt nach eigenen Heim- und Pflegestätten. Das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdische Lebensfrage des Augenblicks.

Des Augenblicks. Denn wahrhaftig: die Zeit zum Handeln ist gekommen – „Zeit ists zu handeln für den Herrn – sie zernichten deine Lehre.“ (Ps. 119, 126).