Zweistromland

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Wieder also wird uns selber das Werden des Gesetzes auf die Seele, in die Hände gelegt. So wenig wie bei der Lehre darf einer uns kommen und uns im voraus sagen wollen, was alles dazu gehöre und was nicht. Wir dürfen es nicht vorherwissen wollen, selbst wenn wir es könnten. Wir dürfen mit keinem Willen und mit keinem Wissen der unwissentlich-unwillentlichen Wahl unsres Könnens vorgreifen. Was wir vorher wissen dürfen, ist das Reich des Tubaren; was wir vorher wünschen dürfen, ist: daß unsre Tat in diesem Reich ihren Platz finde; ob sie ihn hier finde, steht schon nicht mehr bei uns, wenigstens soweit wir Wissen und Willen sind. Da wir es sind, soweit wir es sind, geben wir unserm Wissen, unserm Willen diese Richtung, diese Sphäre. Wir haben keine andre Gewähr, daß die wirkliche Tat, wenn sie entspringt, jüdisch sein wird, jüdisch, einerlei ob sie dann in jenem Reich des schon Tubaren Platz finden wird oder nur jenseits der Grenzen dieses Reichs. Ist dies letzte der Fall, so werden sich die Grenzen durch sie hinausrücken. Aber einerlei ob innerhalb oder außerhalb der alten Grenze, in jedem Fall ist es ein neues, ist es unser heutiges Gesetz, was so gesetzt wird, und doch gerade dadurch wieder – das Gesetz. Denn eben dies war es ja, was wir an dem Gesetz, wie seine neuen Hüter es uns entgegenhielten, vermißten und vermissen durften: daß das alte nicht auch zugleich ein neues war. Eben dieser Mangel an Heutigkeit war anerkannt, wenn durch jene Grenzlinie, von der ich sprach, das Leben von heute zum „Erlaubten“ geworden war. Damit war dem Gesetz selber die Heutigkeit abgesprochen. Vergessen war die in ihrer Paradoxie schon den alten Erklärern übergewaltige Kühnheit, die den Mose des Deuteronomiums zu dem Geschlecht, das nicht am Sinai gestanden hatte, sprechen lassen konnte: Nicht mit unsern Vätern schloß Gott diesen Bund, sondern mit uns, uns, diesen, hier, heut, uns allen, den Lebenden. Dieser Kühnheit müssen wir standhalten. Uns ist jene innere Grenzlinie verwischt, und eine äußere muß es wohl geben – denn sicher erweitert nicht jede Tat, die im Gesetz, das wir kennen, keinen Platz findet, seine Grenzen, so wenig wie jede unsrer Erkenntnisse Lehre wird; aber wir können nicht wissen, ob es nicht doch geschehen wird: wir kennen die Grenze nicht und wissen nicht, wie weit die Pflöcke des Zelts der Thora hinausgerückt werden können und welche unsrer Taten bestimmt ist, sie hinauszurücken. Daß sie hinausgerückt werden, und durch uns, darf uns für sicher gelten; denn wie dürfte auf die Dauer etwas draußen bleiben; da würde ja die Grenze das, was sie nicht werden darf: starr und bekannt, wie jene innere zwischen Verboten und Erlaubt, die uns überflutet wurde; ja unversehens wäre sie wieder eine solche innere Grenze geworden und unserm Tun sein edelstes Erbe genommen: daß wir nur Söhne zu sein brauchen, um Bauleute zu werden.

Aber stellt uns nicht dies Wort des Talmud, das jeden Lehrvortrag beschließt, erst vor die schwerste Frage? grade uns! Sind wir denn noch Söhne, können wir es wieder werden? Liegt hier nicht der bedenklichste Unterschied zwischen Lehre und Gesetz, daß uns zwar die Rückkehr zu jener erlaubt ist, denn es ist bloß eine Rückkehr des Bewußtseins, bloß Selbstbesinnung, aber die Rückkehr zu diesem nicht, denn sie kann nicht im Bewußtsein allein geschehn, sondern nur im Tun selber, und das Tun verträgt keine Rückwendung, es kann nur vorwärts gehen; sieht es rückwärts, so wird es nicht wie das Wissen dadurch vertieft, sondern zur, höflich gesprochen, romantischen Schwärmerei und, unhöflich gesprochen, zur Lüge. Und zur gefährlichsten aller Lügen, zur getanen. Die gesagte Lüge kann leicht wieder gutgemacht werden; sie wird zurückgenommen; aber die Tat läßt sich nicht zurücknehmen. Ich möchte dieser Frage nichts von ihrem Ernst abziehen, sie stand hinter allem, was ich zuvor gesagt habe. Aber ich meine: wenn man sie noch ernster stellt, wenn man nämlich nicht bloß da, wo sie die Gefahr sieht, nichts abzieht, sondern auch da, wo sie keine Gefahr sieht, etwas zulegt, so ist sie schon beantwortet. Ich glaube nämlich nicht an die Ungefährlichkeit einer Rückkehr im Bewußtsein. Eine geistige Seuche, wie es jede Romantik ist, wird nicht damit aus der Welt geschafft, daß man ihren Herd zerstört. Die gesagte Lüge läßt sich in ihren Folgen ebensowenig widerrufen wie die getane. Und der Weg des Gedankens ist genausowenig ein Krebsgang wie der Weg der Tat. Auch der Gedanke setzt einen Fuß vor den andern. Es ist im Leben des Geistes ein ganz besonderer Fall, wenn er gefahrlos rückwärts sehen darf oder wenn es ihm sogar heilsam ist, es zu tun. Selbstbesinnung kann zum geistigen Selbstmord werden. Wann tritt dieser Fall ein, wann der andre?

Das Leben des Geistes ist so sehr ein wirklicher einsinnig gerichteter Lebenslauf, daß er wie jeder einsinnige Ablauf beständig Totes abscheidet; nur um diesen Preis wird ihm die Erneuerung gewährt; jedes Geborenwerden kostet ein Sterben. Diese toten Körper werden nun unter Umständen noch lange im Strom mitgetragen; es ist ein Zufall, wenn sie einmal ans Ufer geschwemmt werden. Da nun der Strom des Geistes nicht in all seinen Teilen die gleiche Geschwindigkeit hat, sondern immer Wellen vorauseilen, während andre nur langsam folgen, so ist es um der Gesundheit, nämlich um des Zusammenhangs des Ganzen willen gut, wenn von Zeit zu Zeit die Vorausgeeilten anhalten und, den Blick rückwärts gewandt, die Zurückgebliebenen erwarten. Nichts andres ist, was man Selbstbesinnung nennt, beim Einzelnen wie bei geistigen Ganzen. Und die Gefahr dieses Blicks rückwärts ist nun, daß man das nur noch mitgeschleppte Tote nicht unterscheidet von dem nur langsamer und deshalb noch quellnäher strömenden Lebendigen und auf jenes wartet, als wäre es dieses. Die Folge ist dann, daß von den toten, doch für lebendig gehaltenen Körpern der Strom sich staut und sein Wasser versumpft. Es ist also für den Geist – und zwar ganz gleich für den schauenden wie für den tätigen – lebenswichtig, ob er die Instinktsicherheit hat, bei solchen Rückgriffen Totes und Lebendiges auseinanderzukennen. Die künstliche Erneuerung veralteter politischer Institutionen ist nicht gefährlicher als die eines toten Glaubens. Beispiel des einen sind die ständischen Sommernachtsträume Friedrich Wilhelms IV. im Gegensatz etwa zu der Wiederbelebung des in Englands Recht noch lebendig erhaltenen Gedankens der Geschworenengerichte im Europa des vorigen Jahrhunderts; Beispiel für das andere wären etwa die wotanistischen Bemühungen in deutsch-völkischen Kreisen, im Gegensatz wieder zu der Besinnung auf den alten Volksglauben in der Form, die er schon im Kampf mit dem fremden Weltglauben annahm, wie sie in der Wiederentdeckung der Sage einer-, des Märchens andrerseits der deutschen Bildung des 19. Jahrhunderts geschehen ist.

Die Gefahr ist also die gleiche und nicht geringer für das Wissen als für das Tun. Aber auch die Möglichkeit ist die gleiche. Sie liegt in dem, was ich eben als Instinkt für Totes und Lebendiges bezeichnete. Dieser Instinkt kann irren, aber seine Irrtümer sind für die Völker nur selten lebensgefährlich, weil auch die Rückwendung selbst nur seltene Male in der Geschichte den Völkern zur Lebensnotwendigkeit wird. Das ist für unser Volk anders. Ihm ist das Leben nicht der einsinnige Ablauf wie jenen. Unsre Geschichtslosigkeit oder, positiv gesagt, unsre Ewigkeit macht uns alle Augenblicke unsrer Geschichte gleichzeitig. Die Rückwendung, das Aufholen des Zurückgebliebenen wird hier zur ständigen, nicht wie für die Völker nur zur historischzeitweiligen Lebensnotwendigkeit. Aber freilich zur Lebensnotwendigkeit – wir müssen in unsrer Ewigkeit leben können. Deshalb genügt uns gegen die Gefahr jener Rückwendung nicht der Schutz, der Völkern, für die jene Notwendigkeit und Gefahr nur etwas Gelegentliches bedeuten, wohl genügen darf: der Schutz des Instinkts muß für uns mit stärkeren Sicherheiten umgeben sein. Diese Sicherheiten liegen in dem, was ich zuvor immer wieder als Letztentscheidendes angerufen habe: in unserm Können. Die Einsetzung dieser Berufungsinstanz könnte höchste Frivolität sein, wenn sie nicht höchster Ernst wäre. Im höchsten Ernst hat der Midrasch Israels freies Annehmen des Gotteswortes „unterm“ Sinai in ein gezwungenes, gott gezwungenes umgedeutet: Er stülpte den Berg über sie wie ein Faß, bis sie annahmen. Wir mögen das unsre tun, um Hindernisse, die fortzurücken in unsrer Macht steht, zu beseitigen; wir dürfen unser Können freimachen und sollen es. Aber die letzte Wahl ist unserm Willen entzogen und unserm Können vertraut.

Freilich, sowie das Können kann, kann es nicht mehr anders; es wird Nichtanderskönnen, Müssen. Kein wählend-prüfender Instinkt ist so bei uns damit betraut, die Gefahren der Rückwendung abzuwehren, sondern unser ganzes Sein. Denn das heißt ja schließlich die Berufung aus Können. Wie unser ganzes Sein, und in jedem Augenblick, vor die Aufgabe der Heimkehr gestellt ist, nicht wie bei den Völkern nur einzelne Schichten und Provinzen des Seins und nur in gewissen historischen Augenblicken, so muß auch das Aufnehmen der Aufgabe durch unser ganzes Sein geschehen. Die Entscheidung, die aus dem Können geschieht, kann nicht irren, weil sie ja gar nicht zu wählen, nur zu gehorchen hat. Eben darum kann auch keiner den andern zur Rede stellen, obwohl jeder den andern lehren kann und muß; denn was einer kann, weiß er nur selber; die Stimme des eignen Seins, der er zu gehorchen hat, wird nur von seinem eignen Ohr vernommen. Auch weiß keiner, ob nicht im Nichtkönnen des andern mehr Bauarbeit an der Lehre und am Gesetz geschieht als im eignen Können. Nur daß uns allen die Möglichkeit, zu können, gegeben ist, das wissen wir. Denn was den Völkern eine seltne und schwere Aufgabe ist, jene Rückwendung im vorwärtsdrängenden Strom des Lebens – denn sie fühlen sich gemeinhin nur als Zeit- und Raumgenossen und höchstens an Fest- oder an Schicksalstagen der Volksgemeinschaft als die Kette der Geschlechter –, das ist uns das Grundgefühl des gemeinsamen – und auch des einsamen – Lebens: das Gefühl, Kinder der Väter zu sein und Ahnen der Enkel. Darum dürfen wir erwarten, uns irgendwie und irgendwann in jedem Wort und in jeder Tat der Väter wiederzufinden, und hoffen, daß unser Wort und unsre Tat für die Enkel nicht ungesprochen und nicht ungetan sein wird. Denn wir sind, die Schrift schreibt es, „Kinder“ und sind, die Überlieferung liest es, „Bauleute“.

 

Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Habe ich es Ihnen gesagt? Insofern ich an Ihre Rede anknüpfte, und insofern mir diese Rede den Antrieb gab, Dinge heute auszusprechen, die ich früher nur nach und aus der vollen Erfahrung eines Lebens auszusprechen dachte und die auszusprechen ich jetzt nicht mehr erwartete, – insofern gewiß. Und daß grade Sie, der Sie den einen Weg zur Thora uns neu erschlossen haben, nicht sehen können sollten, was uns heute auch auf dem andern treibt, das mochte ich nicht glauben. Mehr als Ihnen sichtbar machen, was in uns vorgeht, durfte ich nicht wollen, durfte es gerade nach dem, was ich meine, nicht. So darf ich wohl guter Hoffnung sein, daß meine Worte von Ihnen, dem sie zugesprochen sind, mit offenem Auge – denn an Ihr Auge mehr als an Ihr Ohr sind sie gerichtet – aufgenommen werden. Schwerer drückt mich etwas andres. Ich sprach nicht für mich allein, – das wäre vermessen gewesen und auch dem Inhalt dessen, was ich zu sagen hatte, zuwider. Aber ich könnte die „Wir“, aus deren Mund ich sprach, nicht mit Namen bezeichnen. Nicht wenige, die ich kenne, gehören dazu, mehr wohl noch, die ich nicht kenne. Aber wohl keiner von ihnen würde mit allem mitgehen, was ich hier gesagt habe. Dennoch ist es auch für diese mitgesagt. Es eröffnet ein Gespräch, das, hoffentlich mehr mit Taten und Lebensläufen geführt als mit Worten, unter denen, die ich in meinem „Wir“ zusammenzuschließen mich unterfing, nicht mehr zur Ruhe kommen soll. Dann mögen meine Worte, die es eröffneten und nur eröffnen konnten, ruhig in den Worten der andern verschallen. Das erste Wort ist nur gesprochen um des letzten willen. Und dies mein verfrühtes „Wir“ soll einst schweigen im letzten.

Vom Wesen des Judentums

Apologetisches Denken

Bemerkungen zu Brod und Baeck

I.

Es ist oft gesagt und noch öfter nachgesagt worden, daß das Judentum keine Dogmen habe. So wenig das nun richtig ist – schon ein oberflächlicher Blick auf die jüdische Geschichte oder in das jüdische Gebetbuch lehrt das Gegenteil –, etwas so Richtiges ist doch damit gemeint. Das Judentum hat nämlich zwar Dogmen, aber keine Dogmatik. Schon der Punkt, wo das talmudische Schrifttum in die Diskussionen eintritt, auf welche spätere Versuche, die jüdischen Dogmen festzustellen, zurückgehen mußten, ist in diesem Sinn merkwürdig. Im Zusammenhang der Bestimmungen über Strafprozeß und Strafrecht tritt auch das Problem der jenseitigen Strafe auf; und hier werden die Dinge aufgezählt, deren Leugnung den Juden seines „Anteils an der zukünftigen Welt“ verlustig gehen läßt. Hier konnten Maimonides und andere anknüpfen. Es ist also ein gesetzlicher Zusammenhang, in dem die Probleme der religiösen Metaphysik auftreten. Merkwürdig genug, wenn man an die vielberufene und für die Gegenwart ja auch sicher festzustellende metaphysische Neigung unsres Stammes denkt.

Noch merkwürdiger wird die Sache, wenn man sich den Inhalt dieser Dogmen ansieht. Von Gott, von dem offenbarten Gesetz, von der messianischen Erlösung und von dem, was damit zusammenhängt, wird gehandelt: es fehlt der Gedanke, der das Judentum ganz durchdringt, der allein das Gesetz verständlich machen und allein die Erhaltung des jüdischen Volkes erklären kann, der Gedanke der Auserwähltheit Israels. Dieser wahre Zentralgedanke des Judentums, den etwa ein christlicher Forscher, von der Christologie herkommend, an erster oder wenigstens unmittelbar nach der Lehre von Gott an zweiter Stelle in einer jüdischen Dogmatik zu finden erwarten würde, kommt z. B. in den Dreizehn Glaubenssätzen des Maimonides, aber auch in seinem philosophischen Werk, das doch ein Führer für die an den Grundwahrheiten des Judentums Irregewordenen sein sollte, überhaupt nicht vor. Voraussetzung des Denkens wie des Lebens ist er auch hier, wie überall; ausgesprochen wird er nicht; er ist selbstverständlich. Wohl sind Gebet und Gedicht unermüdlich, ihn wieder und wieder in Worte zu kleiden; wohl spiegelt die schriftdeutende Legende ihn in tausend Facetten; wohl senkt sich die Mystik tief in ihn hinein, bis zur mythologischen Hypostasierung: er wird Wort, Sinn, Gestalt, nur nicht dogmatische Formel, nicht – mit der einen großen, doch eben von all jenen andern Kräften mitgenährten, Ausnahme des Jehuda Halevischen Kusari – Philosophem. Das Dasein ist von ihm erfüllt und getragen, alle unmittelbare Äußerung des Daseins ist von ihm bewegt, – aber wenn das Bewußtsein sich über das bloße Dasein hinauszuschwingen sucht, verleugnet es ihn.

Das hat tiefe Gründe und weitreichende Folgen. Eine geistige Gemeinschaft entzieht ihr innerstes Wesen hier der geistigen Belichtung. Das heißt doch: sie will nicht nur geistige Gemeinschaft sein, sondern sie will sein, was sie ja tatsächlich im Gegensatz zu andern, nur geistverbundenen Gemeinschaften ist: eine natürliche Gemeinschaft, ein Volk. Die ungeheure Wirklichkeit des jüdischen Seins hat sich hier einen Selbstschutz geschaffen. Was hier aber schützend, wirklichkeiterhaltend wirkt, die Abdrängung des Bewußtseins von der geheimen Quelle des Lebens, das hätte in einer ihrem Wesen nach rein geistigen Gemeinschaft wie z.B. in der christlichen Kirche lebenerstarrend wirken müssen. Hier wird gerade das immer erneute Insbewußtseinheben der Grundlage des Daseins, in diesem Fall also die immer wiederholte Neuformulierung des christologischen Dogmas, zur inneren Bedingung für den äußeren Fortbestand der Gemeinschaft. Unzugängliches Geheimnis steht da gegen unerschöpfliches, Substanzialität gegen Spiritualität.

Das wirkt nun aber auch auf die Richtung und Reichweite des wissenschaftlichen Denkens überhaupt. Nicht bloß hat die jüdische Patristik keinen Augustin hervorgebracht, keinen Denker, der in körperhafter Vision für die Geschichte des kommenden Weltjahrtausends den Schauplatz absteckte, statt seiner aber die gewaltigen Schwimmer durch das „Meer des Talmud“; sondern auch die jüdische Scholastik keinen Thomas. Der Summa des Aquinaten, diesem mächtigen System einer christlichen Gesamtwissenschaft, dessen große echtsystematische Intention freilich den Zeitgeburtsfehler der apologetisch-dialektischen Methode der Scholastik nicht überwinden und sich deshalb nicht verwirklichen konnte, entspricht auf unserer Seite nicht das philosophische Werk des Maimonides, der „Führer der Verirrten“, sondern sein „großer Chibbur“, wie er selber sein halachisches Riesenwerk bezeichnet, das wirklich ebenfalls das ganze Universum auffängt, aber in dem Sieb des jüdischen Gesetzes. Hier ist in andrer Weise die gleiche unmittelbare Totalität wie der Absicht nach dort, der gleiche Wille, den Herzpunkt des eigenen religiösen Lebens zum Mittelpunkt eines geistigen Kosmos zu machen; mit Recht hat man, von anderen Überlegungen aus als sie hier angestellt sind, jenes „mein großer Chibbur“ in Maimonides’ Mund mit „meine Summa“ interpretiert. Der Führer der Verirrten aber würde den enttäuschen, der in der Erwartung, ein System zu finden, an ihn heranträte. Wie er mit einer langen, das ganze Material ausbreitenden Abhandlung über das Problem des biblischen Anthropomorphismus beginnt, so ist es auch weiterhin der apologetische Faden, an dem die einzelnen Abhandlungen, die das Werk zusammensetzen, aufgereiht sind. Die Verteidigung geht gegen die Angriffe der Philosophie, nicht oder nur beiläufig gegen die andern Religionen, von denen sie deshalb teilweise hat übernommen werden können. Die apologetische Grundhaltung gibt dem Werk den ganz unpedantischen Zug, der noch heut den Leser frisch anweht und ihn in keiner Weise „scholastisch“ anmutet; dies Denken hat, was systematisches Denken so leicht nicht haben kann: den Reiz – und die Wahrhaftigkeit – des Gelegenheitsdenkens; aber es ist ihm darum auch die Schranke gezogen, die nur systematisches Denken niederlegt: eben wiederum die Schranke der Gelegenheit: nur systematisches Denken bestimmt sich selber den Kreis seiner Gegenstände; apologetisches bleibt abhängig von der Veranlassung, vom Gegner.

Und in diesem Sinn bleibt jüdisches Denken apologetisches Denken. Es ist bezeichnend, daß es hier nicht zu der Erscheinung kommt, in der sich die Selbständigkeit des Denkens innerhalb der Kultur regelmäßig zu manifestieren pflegt, zum Kampf der Schulen innerhalb des gemeinsamen Denkens. Dem nominalistisch-realistischen Streit entspricht bei uns der Maimonidesstreit mit seinen Vor- und Nachwehen und mit seinen eigenen durch ein Jahrhundert getrennten beiden Etappen, – also nicht der Kampf innerhalb des Denkens, sondern der Kulturkampf um das Denken selber, der Kampf zwischen denen, die auf den Ruf der Gelegenheit hörten, und denen, die sich ihm versagten. Es ist auch im neunzehnten Jahrhundert, als nach fast vierhundertjähriger Brache wieder – in Deutschland seit den zwanziger Jahren – eine bis heute nicht entsprechend dem Rang ihrer Leistungen gewürdigte jüdische Philosophie entstand, nicht anders geworden. Alle Scheu vor Apologetik hat nicht verhindern können, daß die legitime Methode des Denkens selber hier die apologetische blieb. Zum jüdischen Denker wurde man nicht im ungestörten Kreise des Judentums. Hier wurde das Denken nicht zum Denken über das Judentum, das eben das Allerselbstverständlichste, mehr ein Sein als ein „tum“, war, sondern zum Denken im Judentum, zum Lernen; also letzthin nicht zum fundamentalen, sondern zum ornamentalen Denken. Wer über das Judentum nachdenken sollte, der mußte irgendwie, wenn nicht seelisch, dann doch mindestens geistig, an die Grenze des Judentums gerissen sein. So aber war sein Denken dann bestimmt von der Macht, die ihn an die Grenze geführt hatte, und der Tiefenhorizont seines Blicks von dem Grade, in welchem er bis vor, an oder über die Grenze getragen war.

Das Apologetische ist die legitime Kraft dieses Denkens, aber auch seine Gefahr. Zwei bedeutende Werke aus neuerer Zeit sollen im folgenden unter diesem Doppelgesichtspunkt betrachtet werden.

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