Zuhause wartet schon dein Henker

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Im Wohnzimmer lief der Fernseher, auf dem Tisch vor der Couch wartete das Feierabendbier neben ein paar Wurstbroten. Eine Kerze brannte. »Meine Frau ist nicht da. Besucht eine Freundin auf Öland. Krankenbesuch. Hella ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich den Oberschenkel gebrochen. Und da sind drei Kinder und ein Mann zu versorgen«, erklärte Clemens und wies entschuldigend auf einen Haufen Schmutewäsche in der Ecke. »Ich hoffe, sie kann bis Ende der Woche wieder nach Hause kommen. Leider konnte sie sich noch nicht auf einen Termin festlegen. Ist mir nicht so angenehm, das Alleinsein«, brummte der Ortsvorsteher und bot seinen Gästen Plate an. Fiel ächzend in die Couch zurück, schaltete den Fernseher aus.

»Ihr kommt wegen Mommsen. Wahrscheinlich hat seine Familie euch zu mir geschickt.«

Er grunzte zufrieden, als die beiden nickten.

»Ja, ja. Ich dachte mir schon, dass sie das tun würden. Über Tote spricht man nicht gern schlecht, schon gar nicht, wenn es sich um Familienmitglieder handelt, die auch noch ermordet wurden. Und dann auch noch derart theatralisch. Ungewöhnlich für Hummelgaard. Sehr ungewöhnlich sogar.«

»Weil hier nicht gemordet wird?«, fragte Knyst nach.

»Nein, das meine ich nicht. Aber ich würde annehmen, dass ein Hummelgaarder den schnellen Weg wählt. Erstechen, erschießen, vergiften, erschlagen – alles drin. Aber die Show mit dem Kreuz. Das war doch unnötiger Firlefanz. Untypisch für Hummelgaard.«

Clemens sah die Besucher fragend an. »Ein Bier?«

»Nein, ich fürchte, unser Feierabend ist noch weit entfernt«, meinte Lundquist schmunzelnd. »Erzähl uns doch, was für ein Mensch Arne Mommsen war.«

»Eine einfache Frage, könnte man meinen. Aber in Arnes Fall ist sie nicht leicht zu beantworten. Zum einen wusste er grundsätzlich alles besser als jeder andere hier. Doch wer seinem Rat blind folgte, rutschte schnell in die Katastrophe. Natürlich lehnte Arne für das Scheitern jede Verantwortung ab, schließlich habe der Betroffene die Freiheit der Entscheidung gehabt. Was wiederum nur bedingt richtig war. Wer Arnes Rat nicht folgte, machte sich den Pfarrer zum Feind. Er konnte es nicht ausstehen, um seine Hilfe gebeten zu werden, wenn der andere nicht bereit war zu tun, was er ihm vorschlug. Eine Art Teufelskreis – oder Dilemma. Egal welche Entscheidung du triffst, sie wird dir schaden.«

»Und es wollte niemand riskieren, Arne gegen sich aufzubringen.«

»Genau. Er war cholerisch, brüllte herum, verlor die Kontrolle. Manche nennen das: eine Persönlichkeit mit Ecken und Kanten. Ich sage, es ist eine behandlungsbedürftige Persönlichkeitsstörung gewesen. Aber das ist jetzt müßig. Arne konnte auch anders sein. Um Hans hat er sich intensiv gekümmert. Hat dafür gesorgt, dass er ausgerechnet in Hummelgaard in die Gesellschaft reintegriert wurde, hier hat nicht jeder sofort an einen Justizirrtum glauben wollen. Oder Solveigh. Eine Künstlerin – nicht weltberühmt, aber mit den Macken und Zicken einer international gefeierten Diva. Diese Frau kann einen zur Weißglut treiben. Er hat erreicht, dass sie am Rand des Ortes ungestört arbeiten kann. Manchmal habe ich den Eindruck, die Hummelgaarder sind inzwischen fast schon ein wenig stolz darauf, dass sie bei ihnen lebt.«

»Arne konnte also auch richtig nett sein.«

»Durchaus. Er nutzte seine Predigten, um geschickt das Denken der Leute zu manipulieren.«

»Gibt es jemanden, der wegen Arne ganz besonders verärgert war? In eine existenzielle Katastrophe geraten ist, zum Beispiel?«

»Ja, sicher. Ruth hat ihren Mann verlassen. Wegen eines nichtigen Grundes, nichts, was nicht aus der Welt zu schaffen gewesen wäre. Arne hat ihr eingeredet, selbst gekittet sei ihre Ehe nichts mehr wert. Heute lebt sie einsam und verbittert in einem Heim für Menschen mit ›mangelndem Lebensmut‹, du verstehst schon. Gunnar verlor sein gesamtes Vermögen, Larsson seinen Hof. Traurige Schicksale allemal. Allerdings würde ich bei einem Aktiengeschäft wohl nicht den Pfarrer um Rat gefragt haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Von denen wohnt keiner mehr hier in der Nähe, haben ihre Zelte abgebrochen, keine Kontakte mehr in den Ort. Alle weg – so weit es ihnen nur möglich war.«

»Kannst du uns eine Liste …?«

»Klar.« Clemens griff nach Stift und Notizblock.

»Ich würde auch gern mal die Künstlerin besuchen.« Lundquist rieb sich die Hände, als sei ihm kalt. »Bisher haben wir überwiegend Schlechtes über Arne gehört. Da wäre es wichtig, auch der anderen Seite Raum zu geben.«

Clemens stemmt sich aus dem tiefen Polster hoch, legte einen zusätzlichen Scheit Birkenholz ins Feuer. »Kühl geworden. Rück ruhig ein bisschen näher an den Kamin ran. Ihr seid wohl schön nass geworden in Arnes Garten, wie?«

Er fiel wieder in die Couch zurück.

»Wie stand es um seine Ehe?«, schnitt Knyst ein neues Thema an.

»Ulrika war nicht glücklich an seiner Seite. Da half es auch nichts, dass sie seinen Wunsch nach Kindern brav erfüllte. Neben einem dominanten Mann mit cholerischem Temperament ist das Leben kein Zuckerschlecken. Immer wieder gab es Gerüchte. Er besuchte angeblich private Clubs in der Stadt. Kellerbordelle. Dann erzählte man sich, er sei mehrfach mit einer fremden Frau gesehen worden, in inniger Umarmung. Nicht leicht für Ulrika, das alles zu parieren. Schließlich war Arne nicht nur ihr Mann, sondern auch Pfarrer. Zuletzt wollte ihm jemand ein Verhältnis mit Hans andichten. Gerade jetzt, wo die beiden doch längst nicht mehr so eng befreundet sind, wie sie es mal waren. Die Kinder haben unter seinen Wutausbrüchen zu leiden gehabt. Das Getuschel über ihren Vater haben sie natürlich mitbekommen. In der Pubertät können Jugendliche mit so etwas nicht gut umgehen. Na ja. Insgesamt ein bisschen verkorkstes Familienleben, würde ich mal sagen. Normal für die Zeit, in der wir leben.«

Er begann ungelenk, einige Namen zu notieren.

Offensichtlich schrieb er nicht oft mit der Hand.

Vielleicht nutzt er für seine Briefe den Computer, überlegte Lundquist.

Zum Glück gibt es sogar Eingabehilfen – die ihm selbst irgendwann helfen würden, sollte die Multiple Sklerose sich zurückmelden. Er kniff sich in den Oberschenkel, zwang seine Gedanken zurück zum Fall.

»Hans und Arne waren gern in Göteborgs Kneipen unterwegs. Kennt ihr die Bee Bar in den Saluhallen? Am Kungstorget? Jeden Samstag ab 22 Uhr ist das Ding eine echte Schwulenbar. Ulrika hat das natürlich nicht gern gesehen, aber da dort auch Heteros mitfeiern können, hat sie auch das hingenommen. Aber ganz sicher nur zähneknirschend. Im Ort haben manche sie wirklich mitleidig angesehen. Die beiden Freunde sind im Sommer auch gern in der Drottninggatan zum Night-Fever gegangen und erst vor dem Frühgottesdienst nach Hause gekommen. Wie Arne dann eine sinnvolle Predigt abliefern konnte, ist mir unverständlich. Aber das war nicht meine Baustelle. Damit musste die Familie schon allein klarkommen.«

»Wie heißt das am Kungstorget? Bee Bar?«

»Ja. Der Schwulen-Club nennt sich BarBee. Die haben sogar ein Motto sowohl für den Club wie die Bar. ›Straight Friendly‹. Na ja. In letzter Zeit waren sie nicht mehr so oft miteinander unterwegs. Verstimmungen eben.«

Er riss das oberste Blatt vom Block und reichte es an Lundquist weiter. »So, das sind die Namen, die mir so auf Anhieb einfallen, weil die Folgen, die sie ertragen mussten, gravierend waren. Aber mal ganz ehrlich: Ich kann nicht glauben, dass einer von ihnen Mommsen tatsächlich umgebracht haben soll. Und schon gar nicht auf diese blasphemische Weise. Hier leben Menschen, die gottesfürchtig sind. Sie wissen, dass sie das Recht nicht in die eigenen Hände nehmen dürfen. Hier hofft man noch auf göttliche Gerechtigkeit.«

Ole und Britta saßen bei Linda Studentsborg am Feuer.

Der Früchtetee dampfte in den Tassen, leise Musik sorgte für Behaglichkeit.

»Oh ja. Arne war heute Nachmittag bei mir. Gegen halb drei würde ich meinen. Er ist nicht lang geblieben, die Liste für heute sei schier endlos, hat er behauptet.« Dabei nickte Linda heftig mit dem Kopf und ihre violetten Löckchen hüpften aufgeregt mit.

»Dann wirkte er bestimmt ziemlich gehetzt. Immer zu wenig Zeit für die Probleme, die man mit ihm besprechen will, nicht wahr?«, meinte Britta mitfühlend.

»Nun ja. Es ist, wie es ist. Immerhin hat es für eine Tasse Tee und ein paar von meinen selbstgebackenen Keksen gereicht.« Ole sah seinen Teepott nachdenklich an. Hatte Arne Mommsen seinen letzten Tee in diesem Leben aus dieser Tasse getrunken? Er fröstelte.

»Arne Mommsen ist tot.«

»Ach herrjeh! Es ist traurig, dass er sterben musste. Aber natürlich war er selbst schuld.«

»Selbst schuld?«

»Aber ja! Unvorstellbarer Leichtsinn bei so einem Wetter. Aber er dachte wohl, sein Chef passt auf, dass er nicht krank wird oder einen Unfall hat«, murmelte Linda leise. »Aber der hat wohl heute anderswo seine Schäfchen gehütet. Arne jedenfalls wurde nicht vor dem Tod bewahrt. Es ist ja so schnell nachtschwarz geworden – und Arnes Lampe war defekt.«

»Nun, Pfarrer Mommsen wurde gewaltsam zu Tode gebracht. Man hat ihn ermordet.«

Linda sah Britta verständnislos an. Runzelte dann die Stirn und schwenkte vorsichtig ihren Tee, schnupperte diskret, prüfte, ob etwas darin war, das nicht hineingehörte. Womöglich hat mein unberechenbarer Sohn als Scherz eine seiner halluzinogenen Drogen unter die Kräuter und Blüten gemischt, mutmaßte Linda. Jørgen war in einem schwierigen Alter. Er fand so etwas umwerfend komisch.

»Wir haben ihn im Garten seines Hauses gefunden.«

»Ach.« Vielleicht war das Zeug in der Teedose ungünstig verteilt gewesen, überlegte Linda weiter, ich merke nichts, aber die arme Polizistin hat es ziemlich erwischt, steht zu befürchten. Bestimmt wird ihr Kollege schnell merken, dass sie wirres Zeug redet und sie nach draußen begleiten.

 

»Es gibt einen Mörder in Hummelgaard!« Britta bemühte sich nach Kräften, zu Lindas Denken vorzudringen. »Hast du noch nichts davon gehört?«

»Nein!« Die Dame des Hauses versuchte zu begreifen, dass diese ungeheuerliche Neuigkeit wahr sein sollte. »Du meinst, er war hier und ist dann zuhause seinem Mörder in die Arme geradelt? Warum sollte jemand ihm so etwas antun?«

»Das würden wir gern herausfinden.«

»Er war ein so schöner Mann, weißt du? Bestimmt hätte er dir auch gefallen. Und herzensgut war er auch. Verständnisvoll. Freundlich. Bist du sicher, dass wir von unserem Pfarrer reden? Den bringt doch keiner um!«

Ronald Halmquist packte gerade Kleidung in große Pappkisten und trug sie vor die Haustür, als die beiden Ermittler durch das Törchen kamen.

»Kriminalpolizei Göteborg, guten Abend!« Beide präsentierten ihre Ausweise.

»Und? Ihr kommt nicht, weil ihr mich mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt habt. Also, was ist es diesmal, das ihr mir anhängen wollt?«, fragte er und baute sich aggressiv vor den beiden auf.

»Arne Mommsen wurde heute Nachmittag ermordet. Er hat dich doch aufgesucht, oder? Du stehst auf seiner Liste.«

»Und deshalb soll ich jetzt ein Mörder sein? Es ist nicht zu fassen! Das halbe Dorf steht auf der Liste!«

»Wir versuchen nur, den Nachmittag des Mordopfers zu rekonstruieren«, begann Ole in besänftigendem Ton, zog die Liste hervor und zeigte sie Halmquist. »Siehst du, hier stehen nur Namen, aber keine Zeiten. Wir besuchen jeden, damit wir uns ein Bild von Arnes Nachmittag machen können. Niemand verdächtigt dich.«

Der Mann schrumpfte ein wenig, sank wieder in seine normale Körperhaltung zurück.

»Deshalb die vielen fremden Wagen. Und die Streife. Ich dachte, vielleicht wurde bei ihm eingebrochen. Aber ermordet … Welcher Einbrecher tötet schon?«

»Es war kein Einbrecher.«

Es dauerte eine Weile, bis Ronald diese neue Information verarbeitet hatte.

Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Wann war er bei dir?«, wollte Britta wissen und zog das Heft wieder hervor.

»So genau kann ich das nicht sagen. Tut mir leid. Kommt erstmal rein.«

Er führte die Besucher in ein chaotisches Wohnzimmer. »Ich räume aus. Meine Frau ist abgehauen. Knall auf Fall. Mit ihrem Fitnesstrainer. Ich habe fast einen ganzen Monat darauf gewartet, dass sie zurückkommt – aber nun ist gut. Ich werfe all ihren Kram weg.« Der Ton war eine ungute Mischung aus Wut und Trauer, Einsamkeit und Verzweiflung. Britta, die solche Abschiede zur Genüge kannte, fühlte mit ihm.

»Jünger als ich, durchtrainiert. Wie soll ich da mithalten. Ich sitze den ganzen Tag im Büro, beeile mich am Abend, um nach Hause zu kommen und Zeit mit meiner Frau genießen zu können. Wann soll ich also ins Sportstudio gehen? Und dann brennt sie ausgerechnet mit so einem Kraftmeier und Bizepszüchter durch!« Er holte tief Luft, atmete hörbar aus. »Aber hier geht es nicht um mich. Arne wurde ermordet. Ein Mörder in Hummelgaard! Wisst ihr, wie unwahrscheinlich das ist? Bei uns wird nicht einmal ein Fahrrad geklaut – und wenn, dann von jemandem, der auf der Durchreise ist! Bei uns ist nichts los. Und dann wird ausgerechnet der Pfarrer … Na, so kommt unser Ort mal in die Presse, was?«

»Was für ein Mensch war Arne Mommsen?«

»Ein netter. Zupackend, zuverlässig. Ein guter Zuhörer. So einer, der, wenn er wieder geht, eine Art bessere Luft zurücklässt. Du verstehst schon: Alles klärt sich, du kannst wieder durchatmen.«

»Und wann hat er dir zum Durchatmen verholfen?«, hakte Ole nach.

»Warte mal … Jetzt ist es schon kurz vor acht. Gegen drei wahrscheinlich. Wir haben nur darüber gesprochen, wo ich anrufen kann, damit Karins Sachen abgeholt werden. Eine Organisation, die die Kleidung nicht nach Afrika verscherbelt, sondern hier bei uns unter den Bedürftigen verteilt. Danach ist er weiter. Er hat gesagt, er habe noch einige Termine. Dann war er weg.«

»Er war nur ein paar Minuten hier, ja?«

»Ja. Er schrieb die Telefonnummer auf einen Zettel, riet mir, alles in stabile Pappkisten zu verpacken und ist losgezogen.«

Ronald kramte neben dem Telefon. »Hier! Das ist die Nummer, die er notiert hat. Die Dame dort war sehr freundlich. Morgen holen sie alles ab, was vor der Haustür steht, ich muss nicht zuhause sein. Gut so. Mein Chef sieht es nicht gern, wenn man aus solchen Gründen fehlt. Er meint, Krankheiten kann man nicht immer vermeiden und für alles andere gibt es Nachbarn.«

»Wer könnte Arne so sehr gehasst haben, dass er ihn umbringen würde?«, fragte Ole.

»Das weiß ich nicht. Ich finde, er war ein patenter Pfarrer. Keiner ohne Fehl und Tadel – das machte ihn mir sympathisch.«

Ole nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Aber irgendjemand hat das völlig anders gesehen – und ihn ermordet.«

Ronalds Miene wurde nachdenklich.

»Wie ist er umgebracht worden?«, erkundigte er sich dann mit belegter Stimme.

»Die genaue Todesursache steht noch nicht fest.«

»Oh, wie im Fernsehen, ja? Erst die Obduktion?« Der höhnische Unterton war nicht zu überhören.

»Ja. Möglicherweise starb er an einer Stichverletzung«, blieb Ole bei dürrer Information.

»Das ist ja fast ein bisschen schade. Wäre es eine ungewöhnliche Waffe, dann würde das den Täterkreis einschränken. Und eine Stichverletzung könnte ihm sicher auch eine Frau beigebracht haben. Das bedeutet für euch, dass jeder verdächtig ist, oder?« Ronalds Wangen hatten sich vor Aufregung gerötet. »Ist ungünstig für eure Ermittlungen, oder?« Nach einer Pause setzte er hinzu. »Ehrlich, wer in Hummelgaard läuft schon am helllichten Tag mit einer Stichwaffe in der Hand durch die Straßen, um den Pfarrer umzubringen? Ich sag’s euch: Keiner!«

Ole sah sich in dem unordentlichen Wohnraum um. Studierte oberflächlich die Titel der Bücher im Regal. »Aha, ich sehe, du bist ein echter Krimifan.«

»Und jetzt habe ich einen Mord fast vor der Haustür! Spannende Sache. Also – ich hätte wohl eher meine Frau oder ihren Liebhaber umgebracht. Denen geht es aber gut – wenn du willst, gebe ich dir die Telefonnummer des Studios. Arne wäre ganz sicher nicht mein Opfer gewesen.«

Als die beiden sich auf den Rückweg zu ihrem Auto machten, legte sich plötzlich eine Hand auf Oles Arm.

»Ihr seid die Polizei?«, flüsterte die dunkle Gestalt. In der hartnäckigen Finsternis nach dem Unwetter konnte Ole nicht einmal erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

»Ja. Wir ermitteln im Mordfall Mommsen.«

»Der Kerl hat es nicht anders verdient.« Ole spürte, wie knochige Finger seinen Arm schraubstockartig zusammenpressten. »Er war eine Plage. Eine Bürde. Es ist gut, dass er nun tot ist. Den Mörder sollte man feiern, nicht jagen.«

»Den Mörder feiern? Wer ist es denn?«

»Hahaha, das möchtest du nun zu gern wissen, nicht wahr? Ich kann es dir nicht sagen. Aber ich weiß, dass es gut ist, wie es jetzt ist. Könnte sein, dass noch mehr Leute ins Gras beißen müssen. Denkt an mich! Es gibt einige hier, die es verdient hätten zu sterben!«, zischte die raue Stimme eindringlich.

Als es Ole endlich gelungen war, mit der freien Hand die Taschenlampe aus dem Gürtel zu ziehen, glitten die Finger von seinem Ärmel ab und die Gestalt war so schnell verschwunden, dass es ihm nicht mehr gelingen wollte, sie mit dem Lichtkegel einzufangen.

»Shit!«, fluchte er.

»Was war das denn?«, fragte Britta beunruhigt. »Eine Warnung an uns?«

Oles Handy dudelte einen nervigen, polyphonen Klingelton.

Britta verdrehte die Augen.

»Ja?«

Ole lauschte, nickte. »Okay. Dann brechen wir hier ab und kommen ins Büro.«

Zu seiner Kollegin gewandt meinte er: »Sven und Lars wollen erstmal alles zusammentragen. Eine Strategie festlegen. Also, auf ins Büro zurück nach Göteborg!«

Eine Stunde später trafen alle fünf im Besprechungsraum zusammen.

»So – hier sind die Bilder vom Tatort.« Bernt pinnte die Fotos an die Stellwand. »Sieht ja sehr dramatisch aus. Eine echte Kreuzigung.«

»Der Rechtsmediziner, Erik Hardberg, meinte, der Mann sei tot oder zumindest bewusstlos auf die Konstruktion geschnürt worden. Auch Björn, der Kollege aus Hummelgaard, erzählte, niemals hätte sich Arne Mommsen kampflos so drapieren lassen«, fasste Lars zusammen.

»Obduktion ist morgen um 8 Uhr«, wusste Bernt.

»Das Holzkreuz sieht ziemlich massig aus. Wie ist das in den Garten transportiert worden?« Ole trat näher an die Bilder heran, kniff die Augen zusammen, um mehr Details erkennen zu können. »Könnte es sein, dass es zerlegbar ist? Ihr wisst schon, wie diese Untersetzer. Man hat zwei Holzstücke und wenn man sie über Kreuz zusammenbaut, wird ein stabiler, breiter Topfuntersetzer draus. Zum platzsparenden Wegräumen nimmt man das Ding einfach wieder auseinander.«

»Die Spurensicherung war noch da, als wir gingen. Gibt es einen ersten Bericht?«, fragte Knyst und sah Bernt an. Der schüttelte den Kopf.

»Gut – also selbst wenn man es zusammenstecken konnte, mussten ja doch zwei große Holzbalken in den Garten getragen werden. Die sind schwer, vielleicht brauchte es gar die Kraft von zwei Leuten.« Lundquist klang ungeduldig.

»Das wäre doch sicher jemandem aufgefallen.« Britta gähnte, lächelte entschuldigend in die Runde. »Kurze Nacht gehabt.«

»Nicht unbedingt. Angenommen, es wurden irgendwelche Holzarbeiten am Haus durchgeführt. Dann war es doch ein Leichtes, die Balken abzulegen, um sie später zu nutzen. Oder man hat dieses Kreuz ursprünglich für einen ganz speziellen Kontext gebaut. Eine Spendenaktion zum Beispiel. Ulrika weiß das bestimmt, wir fragen nach. Wir wissen noch nicht, ob Arne Mommsen heute gestorben ist, weil die Gelegenheit für den Täter günstig schien – oder der Zeitpunkt eine wesentliche Rolle für den Mörder gespielt hat.« Sven klopfte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Bisher hat uns niemand von einem akuten Vorfall berichtet – aber das kann ja morgen schon anders aussehen. Wir haben nur wenige Zeugen von der Liste befragen können. Sicher ist aber wohl, dass der Pfarrer mit dem Rad unterwegs war. Das hat eure Zeugin doch so ausgesagt?«

»Ja. Linda. Als wir erzählten, Arne sei tot, dachte sie zuerst an einen Unfall mit dem Rad. Wegen des Unwetters und der Dunkelheit. Dass er getötet wurde, wollte sie erst nicht wahrhaben.«

»Wir müssen klären, wo das Rad geblieben ist. Kam er noch selbst damit nach Hause – oder wurde er bewusstlos oder gar tot dort ›abgeladen‹?«

»Bevor uns das Thema sinnlos beschäftigt: Hans Hansson saß tatsächlich unschuldig in der Zelle. Er wurde für die Zeit entschädigt. Heute hält er Ziegen und verkauft Käse. Außer Werbung für seinen Käse ist tatsächlich nichts über ihn im Netz zu finden. Sieht so aus, als versuche er, möglichst nicht aufzufallen. Solveigh – eure Künstlerin – habe ich allerdings auf unzähligen Seiten gefunden. Sie hat kleine Ausstellungen im Nirgendwo. Nichts, was man wirklich erwähnen müsste. Daneben finden sich lauter reißerische Artikel. Ein angeblicher Stalker, ein angeblicher Einbruch, eine angebliche Erpressung. Nie wurden Hinweise gefunden. Eine der neuesten Schlagzeilen aus dem letzten Herbst titelt: »Weltbekannte Künstlerin Solveigh unter Ebola-Verdacht im Krankenhaus«. Wenn man den Text liest, stellt man schnell fest, dass sie mit leichtem Fieber und Symptomen eines grippalen Infektes in der Notaufnahme vorstellig geworden ist. Man hat ihr ein fiebersenkendes Präparat gegeben und sie nach Hause geschickt. Ebola war zu der Zeit medial ausgesprochen wirkungsvoll, alle redeten darüber – also gab sie das so an die Presse raus. Unglaublich. Entblödet sich nicht, das für Publicity zu nutzen – und in Westafrika sind Tausende an der Seuche gestorben!« Bernt hatte sich in Wut geredet. Er verstummte abrupt, räusperte sich.

»Arne hat sie unterstützt. Offensichtlich war sie nicht besonders beliebt, verschrien für ihre Zicken und Macken. Er half ihr, Fuß zu fassen. Das hat der Ortsvorsteher so erzählt«, ergänzte Lars. »Sie bringt ein bisschen Glamour ins Alltägliche. Hummelgaard wirkt auf den ersten Blick nicht wie ein abenteuerlustiges Dorf auf mich. Die meisten Leute leben unauffällig. Da kann sich der Voyeurismus an Solveigh und Hans abarbeiten.«

»Du meinst, es gibt immer ein Gesprächsthema beim Einkaufen«, grinste Britta. »Ja, mag schon sein. Aber Arne selbst taugte dafür auch, oder? Eure Zeugen haben ihn nicht gerade ins Herz geschlossen gehabt – unsere schon. Er hat den Ort gespalten.«

 

»Und das, wo Pfarrer doch eigentlich integrativ wirken und aus den vielen Einzelschäfchen eine Herde formen sollen! Für die Rolle war er nicht die Idealbesetzung«, räumte Sven ein. »Auch als Vater war er bei seinen Kindern nicht beliebt, selbst die Ehefrau empfand ihre Beziehung als stark abgekühlt.«

»Übrigens hat uns jemand angesprochen, als wir auf dem Weg zum Auto waren. Erkennen konnten wir nichts, aber er warnte uns, meinte, es könne sein, dass es nicht bei dem einen Opfer bleibt.« Ole wirkte beunruhigt. »Der Kerl war sehr unheimlich. Und er klang, als meine er, was er sagte – ich bin nicht einmal sicher, dass es ein Er war …«

»Das ist sonderbar. Die meisten anderen Zeugen waren eher überrascht darüber, dass es bei ihnen überhaupt zu so einem schrecklichen Vorfall wie Mord kommen konnte. Und er vermutete gleich noch mehr Opfer?«

»Noch wissen wir nicht, wie groß der Hass einzelner auf Arne wirklich war. Ich vermute, von denen wird auch kaum einer auf unserer Liste stehen. Warum sollte ich mir den Pfarrer zum Gespräch ins Haus einladen, wenn ich ohnehin nie wieder einen Rat von ihm annehmen würde?«

»Um ihn zu töten«, stellte Lundquist trocken fest.