Lernendenorientierung

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Andere Tätigkeiten vor Studienbeginn

Nach dem Erwerb der Maturität tritt nur eine Minderheit sofort in die (universitären Hochschulen und Fach-)Hochschulen ein (BFS 2011a). Wie erwähnt, beträgt das Durchschnittsalter bei Eintritt in das Bachelorstudium von FH und PH 23,2 Jahre (in der Untergruppe der Teilzeitstudierenden 26,0 Jahre), d. h., es ist einige Jahre höher als das durchschnittliche Alter beim Erwerb des Zulassungsausweises. Entsprechend sind Erwerbstätigkeit vor Studienbeginn, Praktika und Auslandaufenthalte vor Studienbeginn weit verbreitet (Kiener 2010, S. 9, 14):

 Drei Viertel der Neustudierenden der ZHAW 2008 waren vorher erwerbstätig, die Hälfte gemäss ihren eigenen Angaben mit einem inhaltlichen Zusammenhang zur folgenden FH-Ausbildung.

 Zwei Fünftel der ZHAW-Studierenden haben ein Praktikum absolviert.

 Ein Viertel war seit dem 15. Geburtstag ein oder mehrere Male sechs Monate oder länger ausserhalb der Schweiz.

Mit diesen und anderen Tätigkeiten werden Erfahrungen gemacht, welche berufs- und ausbildungsbezogene Wünsche, aber auch beruflich relevantes Wissen und allgemein die Arbeitsmarktfähigkeit beeinflussen können. Die Verbreitung dieser Tätigkeiten differiert nach Alter der Studierenden und dem Fachbereich.

Zusammenfassung

Herkunft der Studierenden, Bildungslaufbahnen und andere Tätigkeiten vor Studienbeginn können als Ressourcen für das Studium aufgefasst werden. Denn die genannten Unterschiede wirken sich z. B. materiell aus als unterschiedliches Ausmass der Elternfinanzierung des Studiums oder als unterschiedliche Höhe eigener Ersparnis. Immateriell können sie sich in unterschiedlichen Fähigkeiten ausdrücken, mittels qualifizierter Arbeit Einkommen zu verdienen, aber auch in unterschiedlichen Kompetenzen, Erwartungen, Wünschen, die informell mitgebracht bzw. an das Studium gerichtet werden.

Während des Studiums 2

Wohnformen

Knapp die Hälfte der FH/PH-Studierenden (46 %) wohnt bei den Eltern, knapp ein Viertel (23 %) in einer Wohngemeinschaft. Weitere 16 % leben mit Partnerin oder Partner und/oder mit Kindern (9 % sind verheiratet), 10 % allein in einer Wohnung. Das Wohnen bei den Eltern nimmt mit steigendem Alter kontinuierlich ab: 58 % bei den Studierenden bis zum Alter 21, 6 % ab Alter 31 (BFS 2010a, S. 108 ff.).

Leben mit Kindern

7,4 % der FH/PH-Studierenden haben Kinder, wobei es bei den FH/PH-Teilzeitstudierenden 17,4 % sind, was auch mit deren höherem Lebensalter zusammenhängt (BFS 2010a, S. 29 ff.). 55 % der Eltern sind Frauen, 45 % Männer. Während der Zeit, die für das Studium verwendet wird, übernimmt bei 40 % der Befragten die Partnerin oder der Partner die Kinderbetreuung.

Erwerbstätigkeit

2009 waren bei der schweizweiten Befragung 74 % der FH/PH-Studierenden während der letzten zwölf Monate vor der Befragung erwerbstätig, davon 77 % auch während des Semesters. Mit steigendem Alter nimmt nicht nur die Erwerbstätigkeit, sondern vor allem auch ihr Umfang zu. Auf der Bachelorstufe geben 45 % an, ihre Erwerbstätigkeit benötige keine «spezielle Ausbildung».

Die Erwerbstätigenquote und der Umfang der Erwerbstätigkeit variieren nach Fachbereich: Die Quote bewegt sich zwischen 64 % im Fachbereich Technik und IT und 84 % im Fachbereich Soziale Arbeit. Im Ersteren arbeiten 4 % zu mehr als 50 %, im Letzteren aber 27 %.

Im berufsbegleitenden Studium hat Erwerbstätigkeit selbstverständlich einen ganz anderen Stellenwert, meist findet sie im vorher erlernten Beruf statt.

Bei den Motiven für die Erwerbstätigkeit wird zwischen ökonomischen, beruflichen (um Erfahrungen zu sammeln, um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen u. a.) und sozialen (bessere soziale Integration u. a.) unterschieden. Im Vordergrund stehen die ökonomischen Motive (BFS 2010a, S. 93). Die Hälfte der Erwerbstätigen bezeichnet Erwerbstätigkeit als «zur Bestreitung meines Lebensunterhaltes unbedingt nötig».


Antworten von Position 4 und 5 (Skala von 1 = trifft überhaupt nicht zu bis 5 = trifft völlig zu) in %
Damit ich mir etwas mehr leisten kann65 %
Weil dies zur Bestreitung meines Lebensunterhaltes unbedingt nötig ist49 %
Um unabhängig von den Eltern zu sein52 %
Weil ich kein/zu wenig Stipendium/Darlehen erhalte50 %
Weil ich andere mitfinanziere (Partner, Kinder)6 %

Tabelle 1 Motive für die Erwerbstätigkeit: ökonomische Motive. Quelle: BFS 2010a, S. 93

Zeitbudget

Auf der Bachelorstufe FH/PH verteilen sich die aufgewendeten Stunden in einer typischen Semesterwoche wie folgt (BFS 2010a, S. 99):


• Studium 41 h
• Erwerbstätigkeit 6 h
• Haus- und Familienarbeit 5 h
• Ehrenamtliche Tätigkeit 2 h

Die 41 Stunden für das Studium teilen sich auf in 27 Stunden für den Besuch von Lehrveranstaltungen und 14 Stunden für sonstigen Studienaufwand. Es ist zu betonen: Das ist das Zeitbudget einer «typischen Semesterwoche»; davon unterscheidet sich das Zeitbudget in den Semesterferien bestimmt erheblich, wurde aber nicht erhoben.

Nach diesen Angaben tangiert die Erwerbstätigkeit das Vollzeitstudium nicht erheblich. Es handelt sich jedoch wie andernorts auch um Durchschnittswerte. Wird aber der Zusammenhang zwischen Studium und Erwerbstätigkeit bei unterschiedlichem Grad von Erwerbstätigkeit betrachtet, dann zeigt sich: Je grösser die Erwerbstätigkeit, desto geringer der Aufwand für das Studium, desto grösser aber auch das Gesamtarbeitsvolumen. Mit anderen Worten: Erwerbsarbeit während des Studiums geht sowohl zulasten des Studiums als auch der frei verfügbaren Zeit (BFS 2010a, S. 106).

Schlussbemerkung: Diese kurzen Angaben zu den Studierenden können nicht mehr sein als einige wenige Streiflichter. In der Publikation des Bundesamtes für Statistik werden Beziehungen zwischen den genannten Aspekten diskutiert, ebenso Beziehungen zu Herkunftsvariablen, persönlichen Variablen wie Geschlecht und Alter und Variablen des Studiums (Fachbereich, Studienstufe). Aus der Kombination dieser Variablen liessen sich Profile von unterschiedlichsten Studierendenteilgruppen bilden und einander gegenüberstellen. Mehr noch als bei der Herkunft und den Tätigkeiten vor Studienbeginn machen sie unterschiedliche Bedeutungen und Gewichtungen des Studiums deutlich.

Diskussion und Ausblick

In den letzten zehn Jahren ist die Studierendenzahl in den FH/PH stark gestiegen, nicht zuletzt auch wegen des Aufbaus neuer Fachbereiche wie Gesundheit. Der Frauenanteil nahm zu, nicht nur in diesen neuen (GSK-) Fachbereichen, sondern auch in den TWD-Bereichen. In den Szenarien des Bundesamtes für Statistik (BFS 2010b) wird eine weitere Zunahme des Frauenanteils sowie auch der ausländischen Zulassungsausweise prognostiziert.

Wichtiger scheinen allerdings Veränderungen zu sein, die mit den eingangs dieses Beitrages skizzierten zwei Entwicklungen zusammenhängen. Ihre Auswirkungen auf totalisierende Indikatoren wie z. B. die Berufsmaturquote oder das durchschnittliche Eintrittsalter sind nur schwer abschätzbar. Umgekehrt lassen sich diese Entwicklungen dementsprechend oft nur schwer aus den allgemeinen Indikatoren ablesen.

Die Politik der Bildungsexpansion und der erhöhten Durchlässigkeit ist gewiss eine Antwort auf gestiegene Bildungsnachfragen, genauso aber auch deren Ursache. Sie formuliert die Erwartung an die Individuen, einen möglichst hohen Bildungsstatus zu erwerben bzw. das eigene Potenzial auszuschöpfen, und sie ermuntert sie dazu, dies nach individuellem Zeitplan zu tun («es ist nie zu spät …»; «ein Umweg und ein zweiter Versuch lohnen sich …»). Bildung bzw. der Erwerb von Bildungszertifikaten ist nicht mehr auf eine bestimmte Lebenslaufphase beschränkt, sondern zunehmend Teil des ganzen Lebenslaufs – mit dem Ziel, sich auf einem spezifisch-einzigartigen Weg eine individuelle Kombination von Kompetenzen anzueignen. Weiter ist offensichtlich, dass formale Bildung immer mehr zu einer zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung für die Erlangung beruflicher Positionen geworden ist. Neben der formalen Bildung spielen non-formale und in-formale Bildungsprozesse eine wachsende Rolle. Darauf reagieren die Studierenden unter anderem mit ihren dem Studium vorgelagerten und parallelen Tätigkeiten und Laufbahnen. Einen wichtigen Aspekt dieser Entwicklung bildet die aktuelle Diskussion des Modells für den Hochschulübertritt. Das bisherige Berechtigungsmodell, nach dem ein Bildungsabschluss ohne Einschränkung zu diesem oder jenem Eintritt in die nächsthöhere Stufe berechtigt, wird zunehmend abgelöst durch ein Modell der freien Aufnahmeberechtigung (Selektionsfreiheit) der nächsthöheren Stufe: Die Hochschulen wollen als Studierende nicht aufnehmen müssen, wer sich bei ihnen mit einem Zulassungsausweis anmeldet, sondern sie nach eigenen Kriterien selektionieren können.3 Denn sie stehen unter starkem Wettbewerbsdruck und versuchen, sich durch Differenzierungen spezifische Profile zu schaffen. Eine Möglichkeit dazu bilden Studienangebote, die sich an ganz bestimmte Studierende richten, welche dann auch gezielt angeworben und selektioniert werden sollen. Dazu kann die Adressierung einer – gesamtschweizerisch gesehen – Minderheit gehören – für einen technischen Studiengang z. B. von Absolvierenden einer gymnasialen Matur (und allenfalls eines abgebrochenen ETH-Studiums) oder im Gegenteil z. B. von Personen mit einer ausgeprägten praktischen Ausbildung und Laufbahn. Schon jetzt differiert die Zusammensetzung der Studierenden im gleichen Fachbereich, aber in unterschiedlichen Fachhochschulen erheblich – auch was den Zulassungsausweis betrifft. So ist es durchaus denkbar und sogar wahrscheinlich, dass diese Zusammensetzungen sich weiter auseinanderentwickeln. Am Durchschnitt braucht sich deshalb nicht viel zu ändern.

 

Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei Folgerungen ziehen: Die relevanten Veränderungen bei der Diversität der Studierenden in den nächsten Jahren werden wahrscheinlich auf einer Ebene stattfinden, welche durch aggregierte Bildungsindikatoren (nationale Durchschnittswerte) nur schwer erfassbar ist. Zudem entsteht zunehmend ein neues Verhältnis zwischen Diversität der Studierenden und Selektion. Als Folge des Profilierungsdrucks benutzt und fördert die Selektionspolitik immer mehr die Diversität der Studierenden – was durchaus nicht ausschliesst, dass diese Diversität in der politischen Diskussion als unerwünschte Aufweichung von vorgesehenen Ordnungsmustern qualifiziert wird.

Literatur

Bundesamt für Statistik (2010a). Studieren unter Bologna. Hauptbericht der Erhebung zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden an den Schweizer Hochschulen 2009. Neuenburg: BFS.

Bundesamt für Statistik (2010b). Bildungsperspektiven. Szenarien 2010–2019 für die Hochschulen. Neuenburg: BFS.

Bundesamt für Statistik (2010c). Bildungsabschlüsse 2009. Sekundarstufe II und Tertiärstufe. Neuenburg: BFS.

Bundesamt für Statistik (2011a). Maturitäten und Übertritte an Hochschulen 2010. Neuenburg: BFS.

Bundesamt für Statistik (2011b). Studierende an den Fachhochschulen 2010/11. Neuenburg: BFS.

Kiener U., in Zusammenarbeit mit F. Wittmann und R. Bürgin (2010). Bachelor-Studierende an der ZHAW. Laufbahnen, Selbsteinschätzungen und Pläne von Neu-Studierenden 2008. Winterthur: ZHAW. Online: www.zhaw.ch/fileadmin/php_includes/popup/hop-detail.php?hop_id=1110669191 [1.7.2012].

Urs Kiener, lic.oec.publ., arbeitet an der ZHAW (Fachstelle Hochschulforschung, Dozent) und als freiberuflicher Sozialwissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: Hochschulen, Bildungslaufbahnen, Bildungspolitik, Forschung.

Anhang

Tabelle (zu Abbildung 1) Studierende im Diplom-, Bachelor- und Masterstudium an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen nach Fachbereich (Anzahl absolut), Frauen- und Ausländer/innen-Anteil, 2010/11


Quelle: BFS 2011b, S.16

Porträt: Patrizia Rohner



Alter 19
Vorbildung Sekundarschule, Matura, Schwerpunkt Musik
Hochschule ZHdK
Studiengang Musik: Klarinette
Semester 2. Semester Bachelor

Verfasst von Isabelle Rüedi

Wir alle kennen die ständig wechselnden und sich selten erfüllenden Berufswünsche von Kindern. So wie viele andere wollte Patrizia Rohner schon als kleines Mädchen Musikerin werden. Nur hat sich bei ihr dieser Berufswunsch nie verändert, und sie befindet sich dank ihrem Musikstudium nun auf dem besten Weg, sich ihren Traum zu verwirklichen und professionelle Klarinettistin zu werden. «Ich wollte echt nie etwas anderes machen», sagt sie.

Das Einzige, was nicht nach diesem lang gehegten Plan lief, ist, dass die junge Frau jetzt schon im Bachelor studiert. «Eigentlich wollte ich nach der Kanti zuerst das Vorstudium machen.» Trotzdem ging sie an die Aufnahmeprüfung zum Studium, um sich schon ein Bild zu machen, was sie im kommenden Jahr erwarten würde. Dementsprechend war Patrizia auch nicht optimal vorbereitet. «Das Klarinettenvorspiel war kein Problem, aber in der Theorie war ich grauenhaft.» Und doch: Das Prüfungsresultat reichte, um fürs Studium zugelassen zu werden. Die Studentin erinnert sich: «Ich war überrascht. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.» Natürlich freute sie sich trotzdem, vor allem, weil sie es an ihre präferierte Hochschule geschafft hatte. Obwohl der 19-Jährigen Luzern eigentlich besser gefällt, wollte sie unbedingt nach Zürich – wegen eines Dozenten. «Nachdem ich von ihm Musikaufnahmen gehört hatte, wollte ich unbedingt bei ihm studieren.»

Täglich übt die junge Musikerin vier bis fünf Stunden auf ihrer Klarinette. Während dies für andere oftmals eine Schwierigkeit darstellt, gibt es ihr einen enormen Antrieb für ihr Studium. «Es ist toll, die Fortschritte zu sehen, welche ich regelmässig mache.» Plötzlich klingt ein Stück, das Patrizia vor zwei Wochen von ihrem Lehrer erhalten hatte und das ihr nur schon durch den Anblick der Noten den Schweiss auf die Stirn trieb, ganz leicht und schön. Das Üben bietet ihr auch einen guten Ausgleich zu den Theoriestunden. «Ich könnte niemals so viel lernen wie die Studierenden an der ETH, viel lieber übe ich.»

Auch Patrizia wird oft vom typischen Studienstress geplagt. «Wir haben etwa alle vier Wochen ein Vorspiel, das ist echt hart.» Kurz gesagt, heisse das für sie, dass sie häufig innerhalb von drei Wochen ein Stück konzerttauglich beherrschen müsse. Da ist es nicht immer einfach, alles unter einen Hut zu bringen – vor allem, wenn auch noch Theorieprüfungen anstehen. «Seit dem Studium habe ich schon weniger Zeit für mein Privatleben», gibt die 19-Jährige zu.

Trotzdem hält sie weiterhin an ihrem Ziel fest, Musikerin zu werden. Dabei ist sich die junge Frau allerdings bewusst, dass sie sicher auch als Instrumentallehrerin wird arbeiten müssen, obwohl ihre Zukunftsvision eigentlich eine andere ist. «Mein absoluter Traum ist es, später einmal berufsmässig in einem Sinfonieorchester zu spielen.» Patrizia weiss, dass dies ein schwieriges Unterfangen ist, an welchem viele scheitern. Aber sie lässt sich davon nicht verunsichern. «Ich werde einfach mein Bestes geben», lächelt die Klarinettistin.

Isabelle Rüedi studiert an der Universität Zürich Germanistik und Anglistik im Bachelor. Seit 2011 ist sie zudem als studentische Mitarbeiterin am ZHE – Zentrum für Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung der PH Zürich tätig.

1 Quellen für diesen Beitrag sind die Daten des Schweizerischen Hochschulinformationssystems SHIS des Bundesamtes für Statistik BFS, die in verschiedenen Publikationen aufbereitet werden, die Sozialerhebung des BFS bei den Studierenden der Schweiz, die periodisch durchgeführt wird, sowie eine Befragung der Neustudierenden der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, einer Mehrsparten-Fachhochschule, die zusammen mit der Zürcher Hochschule der Künste und der Pädagogischen Hochschule Zürich die Zürcher Fachhochschule bildet.

2 Die folgenden Angaben stammen alle aus der Sozialerhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS 2010a). Sie beziehen sich auf das Jahr 2009 und auf Studierende in Bachelor-, Master- und Diplomstudiengängen.

3 Zu erinnern ist hier an die erhebliche Quote von «anderen schweizerischen Ausweisen» unter den Zulassungsausweisen (vgl. Abbildung 2) und an die geplante Reform des Bundesgesetzes über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im schweizerischen Hochschulbereich (HFKG), die für den Zugang an die FH nicht mehr zwingend eine Maturität verlangt.

Franziska Zellweger

«Das Studium war schon immer anspruchsvoll»

Ein Interview mit Frau Dr. Johanna Margrethe Ammitzböll, Leiterin Beratungsstellen ZHAW

Im vorhergehenden Artikel weist Urs Kiener auf der Basis statistischer Daten auf eine starke Zunahme der Heterogenität der Studierenden an den Fachhochschulen hin. Im folgenden Gespräch mit Frau Ammitzböll wird der Versuch unternommen, den Auswirkungen dieser Entwicklung aus der Sicht der psychologischen Studienberatung auf den Grund zu gehen. Ihre präzisen Schilderungen geben spannende Hinweise − einerseits auf das Erleben einzelner Studierender, andererseits auf die gesellschaftlichen und organisatorischen Veränderungen im Bildungssystem. Eines sei vorweggenommen: In der Einschätzung von Frau Ammitzböll war das Studium schon immer anspruchsvoll. Allerdings liefert sie viele Hinweise auf den veränderten Leistungsdruck als eine zentrale Herausforderung für die Studierenden.

F. Zellweger (FZ): Frau Ammitzböll, welche Erfahrungen haben Sie in der Beratung von Studierenden?

J. Ammitzböll (JA): Ich bin seit dreissig Jahren am Technikum Winterthur (heute ZHAW) tätig. Zuerst war ich Dozentin für Psychologie und Lerntechnik. Im Laufe der Zeit entstand bei den Studierenden das Bedürfnis, auch persönliche Fragen zu besprechen. Daraus entwickelte sich die Beratungsstelle der Schule. Daran beteiligt war ein Team von Dozierenden − ich als externe Psychologin.

FZ: Sind Sie heute auch noch in der Lehre tätig?

JA: Ich bin bis heute im Rahmen eines Wahlfachs im Departement Technik (School of Engineering) in die Lehre involviert; ich hatte also während meiner ganzen Zeit an der heutigen ZHAW einen direkten Bezug zur Lehre und erlebte dadurch die Veränderungen der Schule über einen langen Zeitraum hinweg mit. In meinem Hauptberuf bin ich Psychotherapeutin. An der Fachhochschule bin ich denn auch hauptsächlich als unabhängige Psychologin tätig. Dabei habe ich mich im Laufe der 25 Jahre Beratungstätigkeit auf Lernstörungen und Studienprobleme spezialisiert.

FZ: Was sind aus Ihrer Sicht die konstanten Herausforderungen und Probleme der Studierenden, über 25 Jahre hinweg gesehen? Was ist gleich geblieben?

JA: Gleich geblieben sind all die Studienprobleme. Die Studierenden kommen mit dem Leistungsdruck nicht zurecht. Sie haben Schwierigkeiten, die gesetzten Lernziele zu erreichen. Prüfungsängste hindern sie, in Examenssituationen die erforderliche Leistung zu erbringen. In den Prüfungen erzielen sie dann ungenügende Noten. Gleich geblieben sind auch persönliche Problemstellungen und Kriseninterventionen.

FZ: Wann werden Kriseninterventionen nötig?

JA: Plötzlich auftretende schwierige Lebenssituationen können sie erforderlich machen. Das kann beispielsweise nach dem Ende einer Liebesbeziehung sein. Es kann sich auch um Depressionen oder Angstzustände handeln, die unmittelbar nach persönlichen Belastungssituationen auftreten. Es treten etwa akute Konflikte mit den Eltern auf, denn bei den Studierenden handelt es sich ja um Erwachsene, die vorwiegend aus finanziellen Gründen noch zu Hause wohnen. Dominant sind jedoch Leistungsprobleme – insbesondere während des Assessmentjahres, während dessen der grösste Teil der Selektion erfolgt. Die starke Konzentration der Prüfungen am Ende des Semesters kann bei Studierenden Versagensängste auslösen. Kriseninterventionen können auch bei akuten Problemen während der Ausarbeitung der Bachelorarbeit notwendig sein.

FZ: Das letzte Jahrzehnt hat viele Neuerungen gebracht. Was spüren Sie davon in Ihrem Alltag?

JA: Das Studium war schon zur Zeit des Technikums sehr anspruchsvoll. Die verschiedenen Reformen haben die Anforderungen an die Studierenden nicht einfach erhöht. Zu erwähnen sind aber einige wichtige Veränderungen. Zum einen wurden mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses die Prüfungen ans Semesterende verlegt. Diese Verlagerung hat aus der Sicht der psychologischen Beratung die Situation der Studierenden in doppelter Weise verschärft: Zum einen ist der Prüfungsdruck heute deutlich höher, und zum anderen sind die Studierenden erst am Semesterende wirklich mit ihrer eigenen Leistungsfähigkeit konfrontiert.

 

FZ: Was bedeutet diese Entwicklung für Ihre Beratungstätigkeit?

JA: Heute kommen viele Studierende erst nach den ersten Modulendprüfungen in die Beratung, weil sie sich erst zu diesem Zeitpunkt eingestehen, dass sie den Anforderungen fachlich nicht entsprechen können. Diese Tatsache verschlechtert die Beratungssituation: Sie wird viel häufiger zur Krisenintervention.

FZ: Welche weiteren Veränderungen sind erfolgt?

JA: Zum Zweiten wurde im Zuge der Angleichung des Technikums an ein Hochschulstudium die Semesterwochenzahl deutlich verringert (von 19 auf 14 Wochen), ohne dass der Stoffumfang in den einzelnen Fächern wesentlich reduziert wurde. Weil im heutigen System die Module mit dem Ende des Semesters in der Regel abgeschlossen werden, fällt auch die unterrichtsfreie Zeit zwischen den Semestern als Lernzeit weg. Diese Konzentration des Lernprozesses auf eine deutlich geringere Zeitspanne führt für die Studierenden zu einem stärkeren Leistungsdruck. Nicht alle sind ihm gewachsen.

Und als Drittes führt die Verlegung der Prüfungen ans Semesterende sowie ein höheres Mass an Selbststudium dazu, dass für den Erfolg der Studierenden auch ein stärkeres Selbst- und Zeitmanagement massgeblich wird. Viele Studierende sind nur unzureichend oder überhaupt nicht auf diese Lernsituation vorbereitet. Deshalb kommen sie in Schwierigkeiten. In der Beratung können diese Probleme gut bearbeitet werden – vorausgesetzt, dass die Studierenden frühzeitig in die Beratung kommen.

FZ: Sie sprachen bisher in erster Linie vom Assessementjahr. Wie nehmen Sie die Situation im weiteren Studienverlauf wahr?

JA: Diese Verschärfung der Studiensituation gilt hauptsächlich für das erste Studienjahr. Im zweiten und dritten Studienjahr kann gegenüber der Vor-Bologna-Zeit von einer Erleichterung gesprochen werden, da hier nicht mehr jedes Semester bestanden werden muss, sondern eine bestimmte Anzahl Module. Module können bis zu einem gewissen Grade wiederholt bzw. durch andere ersetzt werden.

Eine Anmerkung sei hier noch angefügt: Es gibt ein Phänomen, das sich zu den dargelegten Punkten eher gegenläufig verhält. Ich stelle fest, dass im Vergleich zu früher mehr Studierende das Gefühl haben, dass sie neben dem Studium noch arbeiten können bzw. müssen. Das hängt zweifellos mit unzureichenden Fördermassnahmen für Studierende, aber auch mit einem neuen Selbstverständnis der jungen Erwachsenen zusammen. Jedenfalls führt diese Haltung zu Problemen, die die Studierenden dazu veranlassen, die Beratung in Anspruch zu nehmen. Die Studierenden unterschätzen den psychischen und zeitlichen Aufwand für das Studium. Sie merken dann erst nach der Hälfte des Semesters, dass sie unter Druck geraten und die Stoffmenge nicht bewältigen können.

FZ: Sie haben als Studienberaterin ursprünglich am Technikum Winterthur begonnen, also in einem traditionellen Fachhochschulbereich. Haben Sie inzwischen auch Berührungspunkte mit den neuen Fachhochschulbereichen?

JA: Beim Übergang zur Fachhochschule sind sowohl durch Fusionen als auch durch die Akademisierung von Berufsgattungen neue Bereiche zur ZHAW hinzugekommen. In der Beratungsstelle der ZHAW bin ich auch für diese zuständig. So habe ich neu u. a. Kontakte mit Studierenden aus den Studiengängen Wirtschaft, Übersetzen, Journalismus und Organisationskommunikation, Life Sciences und Facility Management sowie Gesundheit.

FZ: Stellen Sie grosse Unterschiede etwa zwischen Studierenden aus den Ingenieurwissenschaften und dem Gesundheitsbereich fest?

JA: Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Studierenden dieser beiden Departemente besteht in der Tatsache, dass der Anteil derjenigen Studierenden, die über eine gymnasiale Maturität verfügen, im Bereich Gesundheit deutlich höher ist. Das gilt etwa auch für den Studiengang Journalismus und Organisationskommunikation. In diesen beiden Studiengängen kommt noch dazu, dass der Zugang zum Studium über eine Eintrittsprüfung führt. In den Bereichen Ingenieurwissenschaften und Wirtschaft verstehen viele Studierende das Studium als eine zusätzliche Ausbildung bzw. eine Weiterbildung. Ein allfälliges Scheitern wird tendenziell nicht als Katastrophe betrachtet, weil man ja bereits über eine Ausbildung verfügt. Für Studierende mit einer gymnasialen Matur erscheint ein Scheitern verheerend zu sein, weil man dann ohne Berufsausbildung dasteht.

FZ: Stehen in der Beratung dadurch andere Fragestellungen im Zentrum?

JA: Bei Studierenden mit gymnasialer Matur stellt sich zuweilen nach einigen Wochen des Studiums die Frage, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei oder ob nicht ein Wechsel des Studienfachs bzw. -orts sinnvoll wäre. Hier wird die Beratung tendenziell zur Berufsberatung. Die Beratungstätigkeit in den neuen Studienrichtungen wird auch dadurch verändert, dass bei diesen – im Unterschied zu denjenigen, die eine Lehre voraussetzen – längere Praktika zum Ausbildungsgang gehören. Der Praxistransfer stellt die Studierenden vor ganz neue Herausforderungen, die ebenfalls Anlass sein können, die Beratung aufzusuchen.

FZ: Sie haben eingangs geschildert, dass die Herausforderungen für die Studierenden über die Zeit recht konstant geblieben sind, etwa der Umgang mit Stress, Leistungsdruck oder die Lebenssituation junger Erwachsener. Beobachten Sie auch gesellschaftliche Entwicklungen?

JA: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Es kann wohl schon behauptet werden, dass bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, so etwa der Trend zur Globalisierung, die geringere Sicherheit im Job, die hohe Mobilität oder die technische Spezialisierung, zur Folge haben, dass heute ein Lehrabschluss, z. B. im KV-Bereich, als Karrierestart nicht mehr ausreicht. Insbesondere dort, wo das Karrierebewusstsein oder der Wunsch, einmal international tätig zu werden, stärker ausgeprägt ist, scheint ein Bachelor- oder ein Masterabschluss notwendig. Falls bei den Studierenden tatsächlich ein Bewusstsein über diese Zusammenhänge vorhanden ist, steigt der Druck, im Studium erfolgreich zu sein. Zuweilen kommt dieser Druck vonseiten der Eltern. Das beobachte ich vor allem bei Studierenden mit einem Migrationshintergrund. Das grosse Ziel der Eltern ist es, dass ihre Kinder es dank einer höheren Ausbildung einmal besser haben werden, als sie es hatten. Diese Erwartungshaltung wirkt sich bewusst und unbewusst auf die Studierenden aus.

FZ: Gelegentlich hört man, Studierende verstünden sich zunehmend als Kundinnen und Kunden. Spüren Sie dies in Ihrer Beratungspraxis?

JA: Ich höre das von einzelnen Dozierenden. Im konkreten Kontakt mit den ratsuchenden Studierenden erlebe ich dies aber nicht so. Das hat wohl damit zu tun, dass diejenigen Studierenden, die die Beratung aufsuchen, zum einen wissen, dass bei ihnen eine Schwäche vorliegt, und zum anderen gerade selbst etwas dazu beitragen wollen, um die anstehenden Probleme zu bewältigen. Studierende mit einer ausgesprochenen Kundenhaltung fordern vor allem, dass die Dozierenden ihnen zu einem erfolgreichen Studium verhelfen. Von Erwartungen, dass die Dozierenden ihren Unterricht auch didaktisch angemessen gestalten sollen, höre ich in der Beratung auch. Doch schon vor dreissig Jahren waren Studierende mit der Unterrichtsweise gewisser Dozierender unzufrieden. Das war immer schon ein Thema.

FZ: Sie begleiten Studierende seit Jahren in schwierigen Situationen. Welche Empfehlungen möchten Sie vor diesem Hintergrund Dozierenden mit auf den Weg geben?

JA: Im Departement Technik habe ich immer eine humanistische Tradition erlebt – in dem Sinne, dass es sowohl der Leitung als auch den Dozierenden ein Anliegen war, dass möglichst viele Studierende, die das Studium begonnen hatten, dieses auch bestehen sollten. Nicht auf dem Weg, dass keine Leistung von ihnen verlangt wurde, sondern indem die anstehenden Probleme gelöst wurden und die individuelle Situation der Studierenden berücksichtigt wurde. Das führte zu einer sehr guten Zusammenarbeit der Departementsleitung und vieler Dozierender mit der Beratungsstelle. Ich wünsche mir, dass diese Haltung an vielen Hochschulen gepflegt wird.

Porträt: Benjamin Spenger



Alter 23
Vorbildung Lehre als Chemielaborant, Berufsmittelschule
Hochschule ZHAW
Studiengang Chemie
Semester 2. Semester Master

Verfasst von Isabelle Rüedi

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