Seewölfe Paket 6

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Eins der Beiboote war verschwunden.

Und verschwunden waren auch Dan und Batuti, wie sich wenig später herausstellte. Genauso verschwunden wie der unbekannte Schiffbrüchige – und diese Tatsache brachte die Männer sofort auf die richtige Schlußfolgerung.

Längst hatte Ed Carberrys Gebrüll Hasard auf den Plan gerufen. Jetzt flüsterte der Profos seine Flüche nur noch – und für den Seewolf war das ein Alarmzeichen erster Ordnung.

„Sie sind weg“, sagte Carberry tonlos. „Dieser elende Jonas muß sie gezwungen haben, das Boot abzufieren und …“

„Diese Jammergestalt? Gegen Dan und Batuti?“

Carberry zuckte mit den Schultern.

Hasards Augen wurden sehr schmal und glitzerten wie blaues Eis. Einen Moment starrte er auf den leeren Platz des Beibootes, dann atmete er tief durch. Auch seine Stimme klang jetzt ungewöhnlich leise.

„Wir gehen auf Gegenkurs“, sagte er. Und mit einem raschen Blick zum Himmel: „Hoffentlich finden wir sie, bevor der Sturm losbricht. Wenn sie mit dem kleinen Boot in das Wetter geraten …“ Er sprach nicht weiter.

Aber die anderen wußten auch so, was er sagen wollte, und für einen Augenblick war die Stille zwischen ihnen wie ein erdrückendes körperliches Gewicht zu spüren.

4.

Der Kerl, der sich Kapitän Montsalve nannte, saß aufrecht im Heck des kleinen Bootes und starrte in die Richtung, in die Dan und Batuti pullten.

Schußbereit zielte die Muskete auf die beiden Seewölfe. Wenn die Wolkendecke aufriß, leuchtete der kahle Schädel des Dürren im Sternenlicht, und seine von der hochgezogenen Oberlippe ständig entblößten Zähne schimmerten.

Auch Batutis prächtiges Raubtiergebiß blitzte ab und zu auf. Aber bei ihm war es ohnmächtige Wut, die ihn die Zähne blecken und mit den Augen rollen ließ, als werde er jeden Augenblick wie ein Fäßchen Schwarzpulver explodieren.

Dan O’Flynn keuchte verbissen, um seinen Gegner glauben zu machen, daß er sich mit aller Kraft in die Riemen legte.

In Wahrheit pullte er höchst lässig, genau wie der riesige Gambia-Neger. Sie hätten das Tempo leicht verdoppeln können, wenn sie auch nur den geringsten Grund dafür gehabt hätten. So bemühten sie sich, so langsam wie möglich vorwärtszukommen, aber Dan bezweifelte, daß ihnen das etwas nutzen würde.

Der Wind hatte aufgefrischt und wehte jetzt mit einer bösartigen Schärfe, die der kurzen Dünung bereits erste Schaumkronen aufsetzte.

Immer seltener schimmerten Sterne durch die Wolken, die wie bizarre Luftgeister am Himmel dahinjagten. Über der nördlichen Kimm schob sich die Wand undurchdringlicher Schwärze allmählich höher, und die Seewölfe wußten, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis ein Sturm losbrach, der sich gewaschen hatte.

Ein paar Minuten später war es vorbei mit dem laschen Pullen.

Die Dünung wurde länger und türmte sich zu beunruhigender Höhe. Dan und Batuti mußten sich mit aller Kraft in die Riemen legen und höllisch aufpassen, daß das Boot nicht quer zwischen zwei Wellenberge geriet, wo es unweigerlich kentern würde. Gischt spritzte und wehte in langen Schleiern über die schwitzenden Männer hin. Der Wind sang und orgelte.

Immer wieder kletterte das Boot in schwindelerregende Höhen und schien dann ins Bodenlose zu stürzen. Irgendwann in diesem Auf und Ab übertönte plötzlich ein schriller Triumphschrei das Brausen und Heulen.

Das Gesicht des dürren Kapitäns hatte sich verzerrt.

Mit aufgerissenen Augen starrte er über das wildbewegte Wasser. Nur für die Dauer eines Herzschlags geriet die Muskete aus der Richtung – und Dan O’Flynn nutzte sofort die Chance, auf die er die ganze Zeit über gelauert hatte.

Blitzartig ließ er mit der Rechten den Riemen los und packte den Lauf der Muskete.

Mit einem Ruck riß er seinem Gegner die Waffe aus der Hand und schleuderte sie so heftig hinter sich, daß sie auf die vordere Ducht knallte. Der Dürre stieß einen krächzenden Schrei aus. Eine Sekunde schien er wie erstarrt, mit schrecklich verzerrtem Gesicht und glühenden Augen, dann schnellte er blindlings vor, um sich auf Dan O’Flynn zu werfen.

Was danach geschah, hatte die tödliche Unausweichlichkeit einer Katastrophe.

Das kleine Boot schoß mit schwindelerregender Schnelligkeit ins nächste Wellental hinunter. Dan riß instinktiv einen Arm hoch, um den Irren abzuwehren. Heißer Atem schlug ihm ins Gesicht, zwei Hände schnappten um seine Kehle. Die Luft wurde ihm knapp. Er spürte den Druck der langen, sehnigen Finger, hörte Batutis wilden Fluch und riß in einem Reflex beide Hände hoch, um den Würgegriff zu sprengen.

Gleichzeitig knallte der riesige Gambia-Neger dem Verrückten von hinten die Faust in den Nacken.

Das Boot schlug quer.

Der Dürre stieß einen gurgelnden Laut aus und sackte über Dans Riemen zusammen. Wie eine Nußschale tanzte das leichte Fahrzeug zwischen den Wellenbergen. Batuti legte sich keuchend in die Riemen, um das Boot herumzusteuern, Dan stieß verzweifelt den Bewußtlosen beiseite. Drohend wie ein brüllendes Ungetüm richtete sich der nächste Wellenberg vor ihm auf, und das Blut schien ihm in den Adern zu gefrieren, als er sah, wie sich der Wellenkamm gischtend neigte.

„Wahrschau!“ schrie Dan. „Brecher achteraus!“

Mit einem wilden Ruck riß er an dem Riemen. Das Boot kam halb herum und kletterte schräg an dem steilen Wellenberg hoch. Für einen Moment sah es fast so aus, als könne noch einmal alles gut gehen, dann packte der Sog der sich brechenden Woge das Fahrzeug und schleuderte es wie mit einer Gigantenfaust hoch.

Die volle Gewalt des Brechers prallte gegen Kiel und Planken und wirbelte das Boot wie ein Spielzeug um die eigene Achse.

Dan stürzte, hörte den kreischenden Schrei des Dürren, der aus der Bewußtlosigkeit gerissen wurde, und warf beide Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Die Kante des Dollbords knallte gegen seine Ellenbogen, brühheißer Schmerz schoß bis in die Schultergelenke. Dan schrie unwillkürlich auf und schluckte Salzwasser. Der Brecher spülte über ihn weg.

Verzweifelt vollführte er Schwimmbewegungen, bis sein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß. Dicht neben sich sah er einen dunklen Schatten dahinschießen. Mit verzweifelter Kraft schnellte er vorwärts und warf sich mit ausgebreiteten Armen über das kieloben treibende Boot.

„Batuti!“ Seine Stimme gellte und übertönte sogar das Orgeln des Sturms. „Batuti! Batuti …“

Wie ein Geschoß flog der riesige Gambia-Neger aus den aufgepeitschten Fluten. Das Kraushaar klebte ihm am Kopf, in seinem schwarzen Gesicht rollten die Augen. Gurgelnd und prustend wühlte er sich vorwärts. Ein neuer Brecher drohte ihn wegzureißen, und in letzter Sekunde schaffte er es, sich mit beiden Fäusten am Kiel des Bootes festzuklammern.

„Kleines O’Flynn okay?“ keuchte er, sobald er wieder halbwegs Luft hatte.

„Nichts ist okay! Wir werden wie die Ratten absaufen!“

„Kleines O’Flynn nix Angst! Da drüben …“

„Angst?“ schrie Donegal Daniel O’Flynn empört. „Du hast wohl Seetang im Hirn, du schwarzer Affe! Ich bin ein O’Flynn, verdammt und zuge …“

Dan gurgelte, spuckte und schnappte verzweifelt nach Luft, als der nächste Brecher das Boot überspülte. Er brauchte alle Kraft, um sich an der tanzenden, schlingernden Nußschale festzukrallen. Erst als der Sturm den Gischtschleier wieder auseinanderwehte, konnte er sehen, daß Batuti mit blitzenden Zähnen grinste.

„Insel da drüben!“ brüllte der schwarze Herkules durch das Toben der Elemente. „Wasser treibt uns zu Strand. Aber verdammtes Riff dazwischen, verdammich!“

Was Batuti „verdammtes Riff“ nannte, passierten sie fünf Minuten später.

Fünf Minuten, die sich zu höllischen Ewigkeiten dehnten und in denen die beiden keuchenden, verzweifelt an das Boot geklammerten Männer jeden Augenblick darauf gefaßt waren, daß die Brandung ihre Körper gegen die scharfkantigen Felsen schmettern würde.

Dan schrie unwillkürlich auf, als eine besonders mächtige Woge sie packte. Urgewalten schienen das Boot emporzutragen. Dans Griff rutschte ab, wie eine Geistererscheinung sah er Batutis Hünengestalt durch die Luft fliegen. Im nächsten Moment wurde er selber unwiderstehlich hochgewirbelt. Er drehte sich, verlor fast das Bewußtsein und sah nur noch ein höllisches Chaos aus Wrackteilen, scharfkantigen Felsen, brüllender Brandung und Gischt. Hart klatschte sein Körper wieder ins Wasser – und es dauerte eine volle Minute, bis er überhaupt begriff, daß die mächtige Woge ihn über die Felsen des Riffs hinweggeschleudert hatte.

„Kleines Dan! Himmel, Arsch und Ungewitter …“

Batutis gurgelnde Stimme.

Dan warf sich herum, ließ sich von einem Wellenberg hochtragen und sah ein schwarzes, verzerrtes Gesicht in einer weißgrauen Gischtwolke. Erleichtert atmete er auf – und erhielt prompt eine neue Ladung Salzwasser in die Kehle.

Der Sturm peitschte auch das Wasser der Lagune auf, aber immerhin war es den beiden Männern jetzt möglich, zu schwimmen und sich vor allem zu orientieren.

Fast eine halbe Stunde brauchten sie, bis sie Boden unter den Füßen spürten. Schwer atmend taumelte Dan auf den fahl schimmernden Strandstreifen und ließ sich einfach in den Sand fallen. Batuti plumpste neben ihn, spuckte Wasser aus, keuchte und grinste abwechselnd.

„Boot kaputt, aber Knochen von Batuti heil“, verkündete er. „Kleines O’Flynn auch heil?“

„Ich bin nicht kleines O’Flynn, du schwarzer Affe.“

„Gut, großes O’Flynn! Knochen alle heil?“

„Klar. Aber wo sind wir hier, zum Teufel?“

„Insel mit Schiff kaputtes“, verkündete Batuti. Er stemmte den Oberkörper hoch und schüttelte sich. „Wind, verdammtes! Himmel, Arsch und Bruchwolke!“

 

„Wolkenbruch heißt das“, knurrte Dan, während er sich mühsam aufrichtete. Der Sturm zerrte an ihm, Gischt und Regen peitschten ihm ins Gesicht. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er über den Strand, und im nächsten Moment packte er Batuti an der Schulter.

„He! Schau dir das an! Ist das nicht unser Irrer?“

Tatsächlich bewegte sich ein dunkles Bündel im gischtweißen Saum des Wassers, überschlug sich und begann schwerfällig wie ein verwundetes Tier über den Sand zu kriechen. Nach drei, vier Yards richtete die Gestalt sich auf, wurde von der Gewalt des Sturms sofort wieder umgeworfen und kämpfte sich von neuem auf die Knie. Einen Moment blieb der dürre Mann so kauern. Sein Kopf pendelte hin und her, und dabei erfaßte sein Blick den blonden Dan O’Flynn und den hünenhaften Neger.

Der Schrei, der über die Lippen des Verrückten brach, war noch schriller als das Heulen und Pfeifen des Sturmes.

Taumelnd sprang der Bursche auf.

Zwei Sekunden stand er schwankend da, torkelte, ruderte im Kampf um sein Gleichgewicht mit den Armen. Dann warf er sich mit einem neuerlichen kreischenden Schrei herum, hetzte taumelnd durch den Sturm – und war einen Atemzug später in der Finsternis verschwunden.

„Dummy im Kopf“, sagte Batuti lakonisch.

Dan O’Flynn nickte nur. Aber er fand, daß sie im Augenblick allen Grund hatten, sich um sich selbst zu sorgen, statt um den kahlköpfigen Irren.

„Schiff ho!“ brüllte Ed Carberry gegen das Heulen des Sturmes an. „Steuerbord voraus! Himmel, Arsch und Kabelgarn!“

Seine Stimme überschlug sich. Auf dem Achterkastell stemmte sich Hasard verbissen gegen die Schmuckbalustrade, klammerte sich mit der Linken an einem Strecktau fest und nahm die Zähne zur Hilfe, um das Spektiv auseinanderzuziehen. Die „Isabella“ kämpfte sich über Bakbordbug mit Besan und Sturmfock gegen den heranorgelnden Wind vorwärts. Ringsum war die Nacht ein tintenschwarzer Hexenkessel, und aus diesem Hexenkessel schien sich jetzt jäh und drohend ein noch schwärzerer Schatten zu lösen.

„Es ist der ‚Drache‘!“ brüllte Carberry. „Wir liegen auf Kollisionskurs!“

Vor Hasards Augen beschlug das Spektiv, aber der eine kurze Blick hatte genügt. Es war der „Eilige Drache über den Wassern“, der da wie das leibhaftige Verhängnis heranrauschte. Der Schwarze Segler lag platt vor dem Wind. Siri-Tong und der Wikinger hatten vermutlich die schwerste Trosse achteraus rauschen lassen: ein Trick, den die Rote Korsarin von Hasard gelernt hatte und der wiederum von seinem Alten, dem rauhbeinigen, salzgewässerten Sir John, der als Pirat die irische See verunsichert hatte.

Der Viermaster lag verhältnismäßig ruhig im Wasser – und lief mit seinen pechschwarzen Sturmsegeln eine Höllenfahrt, die ihn beängstigend rasch auf die „Isabella“ zuführte.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde spürte Philip Hasard Killigrew etwas wie eine unsichtbare Pranke, die sich von innen in seine Magenwände krallte.

„Anluven!“ brüllte er mit Donnerstimme. „An die Brassen! Ruder hart über! Hol dicht den verdammten Besan!“

Und wie ein fernes Echo glaubte er, im Sturmgeheul den dröhnenden Baß des Wikingers zu hören.

„Gei auf Fock! Fier weg Besan!“

Krachend schlugen die Rahen der „Isabella“ um.

In einem blitzartigen Manöver schwang die Galeone nach Steuerbord und schoß in den Wind, während auf dem schwarzen Viermaster ebenso rasch die Sturmsegel aufgegeit wurden. Der „Eilige Drache über den Wassern“ verlor an Fahrt und wurde von der nachschleppenden Trosse eisern auf seinem Kurs gehalten, einem Kurs, der ihn haarscharf an der Backbordseite der „Isabella“ vorbeischeren lassen würde. Und die nachschleppende Trosse bildete eine Schleife, die wesentlich breiter war als das Schiff, in der sich der Kiel der „Isabella“ jeden Augenblick verfangen konnte.

„Besan und Fockrah rund!“ brüllte Hasard. „Abfallen, in drei Teufels Namen!“

Das letzte knirschte er fast unhörbar durch die zusammengebissenen Zähne. Er wußte, daß er Mast- und Schot- und Ruderbruch riskierte bei diesem halsbrecherischen Manöver, aber das war immer noch besser, als von der verdammten Trosse aus dem Kurs gebracht und gegen den Schwarzen Segler geworfen zu werden.

Die „Isabella“ schien in allen Verbänden zu stöhnen, als die Rahen rundgebraßt wurden und der heulende Wind über den anderen Bug einfiel. Die Galeone holte weit nach Steuerbord über. Ganz knapp rauschte der „Eilige Drache“ an ihrem Heck vorbei, und für einen Moment konnte Hasard sogar die dunklen Gestalten erkennen, die sich an die ausgespannten Manntaue klammerten.

Da waren Siri-Tong, in deren schwarzer Mähne der Sturm wühlte, und Thorfin Njal, in Felle gehüllt, den Kupferhelm auf dem Kopf, mit flatterndem grauem Bart.

Wie ein Spuk waren sie Sekunden später vorbei. Die schwarzen Sturmsegel, die der Wikinger wieder hatte setzen lassen, verschwammen mit der Dunkelheit, und im nächsten Augenblick war die höllische Sturmnacht so undurchdringlich, als habe es die gefährliche Begegnung nie gegeben.

Diesmal ließ Hasard die „Isabella“ wesentlich vorsichtiger über Stag gehen, um wieder auf den alten Kurs zu gelangen.

Wobei von Kurs eigentlich nicht die Rede sein konnte, weil die Galeone vom heranheulenden Sturm praktisch dwars vertrieben wurde. Aber der Sturm würde auch das Beiboot in dieselbe Richtung vertreiben, falls es nicht schon längst gekentert war. Hasard biß die Zähne zusammen, und der Gedanke, daß Dan und Batuti vermutlich der Willkür dieses Irren ausgeliefert waren, verwandelte sein Gesicht in eine steinerne Maske.

Erst gegen Morgen flaute der Sturm ab.

Von dem Beiboot mit Dan O’Flynn, Batuti und dem kahlköpfigen Verrückten war weit und breit nichts zu sehen. Auch nicht von dem Schwarzen Segler, der vermutlich beigedreht hatte, nachdem ihm die „Isabella“ auf Gegenkurs begegnet war. Der „Eilige Drache über den Wassern“ konnte nicht weit sein, aber Hasard hatte keine Zeit, jetzt auf seine Verbündeten zu warten.

Er ahnte, was der Schiffbrüchige mit seinem Wahnsinnsunternehmen bezweckt hatte.

Deutlich sah der Seewolf wieder vor sich, mit welcher Erregung der ausgemergelte Mann zu der geheimnisvollen Insel mit dem Wrack hinübergestarrt hatte. Die Insel war das einzige Stück festes Land im weiten Umkreis, ein paar Felsen in der Endlosigkeit des Pazifik. Wenn überhaupt, dann waren Dan und Batuti auf diesem Eiland zu finden.

Hasard brauchte nur wenige Minuten, um den ungefähren Standort der „Isabella“ zu berechnen und den neuen Kurs festzulegen.

Er wußte, daß die Chancen für Dan und Batuti höchstens eins zu tausend standen. Aber solange er die Insel nicht gefunden und untersucht hatte, würde er nicht aufgeben.

5.

Die ersten Strahlen der Morgensonne wärmten die Felsen, trockneten den Sand und ließen Schwaden von weißem Dampf in die Luft steigen.

Dan und Batuti kauerten in einer geschützten Mulde zwischen den Palmen, deren Federwipfel sich hoch über ihnen im leichten Wind wiegten. Fünf endlose Stunden hatten der drahtige blonde O’Flynn und der schwarze Herkules in ihrem Schlupfwinkel verbracht, frierend, halb taub vom Heulen des Sturms, bis auf die Haut durchnäßt vom schräg herunterprasselnden Regen. Jetzt reckten sie ihre erstarrten Glieder in der beginnenden Wärme, rieben sich Salz und Sand aus den Gesichtern und blickten sich um.

In der Morgensonne sah die Insel aus wie der Inbegriff aller Südsee-Träume: ein kleines Atoll, palmengesäumt, mit perlfarbenen Stränden, roten Felsen und dichten, noch vom Nebel der verdunstenden Feuchtigkeit durchzogenen Wäldern, in denen es vermutlich Früchte im Übermaß gab. Die Lagune lag still in der Sonne, das dunkelblaue Wasser verriet ihre Tiefe – jene geheimnisvolle dämmernde Tiefe, in der sich manche Südsee-Insulaner ihr Jenseits vorstellten.

Weiße Schaumkronen und rote Felszacken zeichneten den sanften Bogen des Riffs nach, das der Insel vorgelagert war. Dan ließ den Blick über den friedlichen Spiegel der Lagune gleiten – und schauerte zusammen, als er die dreieckige Rückenflosse sah, die für ein paar Sekunden durch das Wasser schnitt.

„Haie!“ flüsterte er. „Verdammt …“

„Wo Haie?“ Batuti fuhr auf, denn vor den gefräßigen Räubern der Südsee hatte auch er einen Heidenrespekt. Wieder schnitt die schwarze Rückenflosse durch das ruhige Wasser, und der hünenhafte Neger schluckte erschrokken.

Mit dem nächsten Atemzug fing er sich und grinste. „Pech für Haie. Dummy im Kopf, wenn sie nicht gesehen haben fette Happen vor eigene Nase.“ Er schüttelte den Kopf. „Boot kaputt“, stellte er fest. „Aber ‚Isabella‘ wird uns suchen.“

Dan nickte nur.

Ja, die „Isabella“ würde sie suchen. Und da diese Insel die einzige weit und breit war, würde man sie vermutlich auch finden. Der blonde junge Mann atmete tief durch und sagte sich, daß man der Sache schließlich auch gute Seiten abgewinnen konnte.

„Schauen wir uns an, wo wir hier gelandet sind“, schlug er vor. „Am besten marschieren wir erst mal um die Insel herum. Vielleicht finden wir irgendwo am Strand ein intaktes Boot.“

Die Hoffnung war zwar gering, aber ein Versuch konnte nichts schaden. Jetzt, am frühen Morgen, war es sogar recht angenehm, durch die Sonne zu wandern, dicht am Wasser entlang, wo der Sand noch feucht und fest war.

Die beiden Männer folgten der sanft geschwungenen Linie der Bucht, kletterten über die vorspringenden Felsen einer Landzunge und erreichten eine weitere Bucht, die genauso aussah wie die erste. Nach Norden hin wurde das Gelände felsiger und endete schließlich in einer mächtigen Klippenformation, die weit ins Meer vorsprang.

Dan und Batuti turnten geschickt über die rundgewaschenen roten Steine und blieben am höchsten Punkt einen Augenblick stehen.

Die ganze Nordseite der Insel, etwa eineinhalb Meilen lang, war schroffe Steilküste. Auf der geröllübersäten Brandungsplatte wurde das Gehen mühseliger, aber dafür gab es kühlen Schatten. Längst waren die Kleider der beiden Männer getrocknet, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die Hitze wieder als drückend empfinden würden. Sie beeilten sich nicht, sahen sich sorgfältig um, spähten immer wieder über den Strand und die Brandung, aber im Grunde rechneten sie nicht ernsthaft damit, ein Boot zu entdecken.

Der Westzipfel der Insel sah genauso aus wie ihr östliches Ende: rote, von unbekannten Naturgewalten aufgetürmte Felsen, zwischen denen sich die Hitze wie in einem Backofen staute. Dan und Batuti waren froh, als sie wieder den breiten südlichen Strandstreifen erreichten und in den Bereich der sanften Brise gerieten. Sie brauchten keine zwei Stunden, um die Insel zu umrunden. Das Wrack auf den Klippen und die Trümmer ihres eigenen Bootes, die sie schließlich wieder vor sich sahen, blieben die einzigen Zeichen menschlichen Lebens.

„Wo, zum Teufel, mag der Verrückte stecken?“ murmelte Dan, während er sich aufatmend in den grünlichen Schatten der Palmen sinken ließ.

Batuti zeigte mit dem Daumen hinter sich, dorthin, wo jenseits des Palmengürtels der eigentliche Wald wie eine dunkle Wand begann. Ein kleiner und ein höherer Felsenbukkel erhoben sich aus dem Gewirr der tropischen Vegetation. Dazwischen mußte eine geschützte Mulde liegen. Wen oder was der Irre auch immer auf dieser Insel suchte – vermutlich würde er dort oben suchen.

„Ich habe Hunger“, sagte Dan. „Und Durst! Wir sollten versuchen, eine Quelle und irgend etwas Eßbares zu finden.“

Kleines O’Flynn immer Hunger.“ Batuti grinste, während er sich bereits von dem umgestürzten Stamm erhob, auf dem er gesessen hatte.

Dan war zu müde, um aufzubrausen.

Schweigend marschierten sie los, durchquerten den lichten Palmengürtel und begannen, ins Dickicht einzudringen. Bäume bildeten ein undurchdringliches grünes Dach, in ihrem Schatten verfilzten sich Schlinggewächse zu dichten Matten. Schmale Pfade zogen sich hindurch, Wildwechsel vermutlich. Ab und zu durchbrachen rote Felsen den Boden, schließlich wurde der Wald etwas lichter. Das Gelände stieg nicht mehr so steil an, sondern bildete eine Art unregelmäßiger Hochfläche, aus der die beiden Felsenkegel hochragten.

Dan wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Am besten klettern wir da ’rauf“, schlug er vor. „Wir müssen uns einen Überblick verschaffen.“

„Und Essen finden“, vollendete Batuti grinsend. „Da drüben Früchte!“

Tatsächlich leuchteten faustgroße blaßrote Früchte aus den Bäumen am Fuß des niedrigen Gipfels. Die beiden Männer kannten den Namen der Dinger nicht, aber sie wußten, daß sie ausgezeichnet schmeckten und den Durst löschten. Sie beeilten sich auf dem letzten Stück des Weges, und dann legten sie erst einmal eine Pause ein, um von dem verlokkenden Angebot der Natur etwas zu essen.

 

Eine Viertelstunde später gingen sie weiter.

Instinktive Vorsicht ließ sie behutsamer auftreten, als sie sich dem Gewirr ansteigender Felsen näherten. Zwischen den Bäumen und über dem Dickicht hatte die Luft nahezu gekocht, hier oben wehte wieder eine erfrischende Brise.

Dan O’Flynn musterte die schroffen roten Felsen, suchte nach einem bequemen Aufstieg – und zuckte im nächsten Moment erschrocken zusammen.

Hinter einem der Steinblöcke in unmittelbarer Nähe gab es jähe Bewegung.

Ein kurzer, halb erstickter Schrei ertönte. Und dann ein heiseres, langgezogenes, irres Lachen.

„Der Verrückte!“ stieß Dan durch die Zähne.

Batuti nickte nur und kniff die Augen zusammen. Unwillkürlich tastete seine Rechte zum Gürtel, aber genau wie Dan war er unbewaffnet. Er pflegte nicht mit seinem mörderischen Morgenstern zu schlafen, und auch bei der Bordarbeit waren Waffen nur hinderlich. Wie hätten sie auch ahnen können, daß sie in den dicksten Schlamassel geraten würden, nur weil sie mal ausgetreten waren!

Dan O’Flynn bückte sich nach einem stabilen Ast, der neben seinem Fuß lag. Batuti hielt bereits einen handlichen Steinbrocken in der Faust. Vorsichtig schlichen sie um den Felsen herum – und das Bild, das sich ihnen bot, ließ sie völlig überrascht innehalten.

In der Mulde zwischen den roten Felsen lag mit dem Gesicht nach unten ein breitschultriger, bulliger Mann.

Sein Hinterkopf war nur noch Brei, ein blutbefleckter Steinbrokken verriet, auf welche Weise er getötet worden war. Über ihn beugte sich, zitternd vor Erregung, der irre Kapitän und zerrte die Pistole aus dem Gürtel seines Opfers.

Triumph zuckte über sein Gesicht, als er sich aufrichtete.

Eine Sekunde starrte er Dan und Batuti an, ohne zu begreifen. Seine Lider zogen sich auseinander, der Ausdruck seiner Augen wurde eigentümlich leer. Mit einem Fauchen wie eine gereizte Katze zog er den Kopf zwischen die Schultern – dann warf er sich heftig herum und hetzte ins Gewirr der Felsen.

Dan und Batuti dachten nicht daran, ihn blindlings zu verfolgen.

Für sie hatte sich die Lage schlagartig geändert.

Immer noch starrten sie auf den unbekannten Toten, der vor ihnen lag. Es war ein Weißer in zerfetzter Seemanns-Kleidung, vermutlich ein Überlebender von dem Wrack, das zerschellt auf dem Riff lag. Dan und Batuti wechselten einen Blick. Sie hatten geglaubt, daß die Insel bis auf den irren Kapitän leer sei, jetzt war ihnen klar, daß sie ihre Vorsicht verdoppeln mußten.

Der riesige Gambia-Neger beugte sich rasch über den Toten und zog ihm das Entermesser aus dem Gürtel.

Eine zweite Waffe war nicht vorhanden, und Dan packte den stabilen Ast fester. Einen Augenblick lauschte er, aber er hörte nichts, was darauf hingewiesen hätte, daß der Schrei und das kurze Gerangel bemerkt worden waren.

Mit zusammengepreßten Lippen starrte er zu den Felsen hoch, dann begann er, durch einen tiefen Einschnitt aufwärts zu klettern.

Batuti folgte ihm.

Binnen Minuten hatten sie den Gipfel erreicht. Ein kahler, runder Buckel markierte den zweithöchsten Punkt der Insel. Die beiden Männer kletterten nicht ganz hinauf, da sie auf der Kuppe von allen Seiten hätten gesehen werden können. Über die flach abfallende Schräge arbeiteten sie sich bis dorthin vor, wo sich das Gelände nach Osten senkte. Geduckt hinter einer roten Felsenbarriere blieben sie stehen.

„Heiliger Bambim“, murmelte Batuti.

„Bimbam“, verbesserte Dan mechanisch, während er in die weitgeschwungene, geschützte Mulde hinunterspähte.

Eine Quelle entsprang im Schatten der Felsen und suchte sich gurgelnd und plätschernd ihren Weg durch sattgrünes Gras. Fruchtbäume spendeten Schatten, in den Gesteinsfalten wucherten Ranken, die über und über mit leuchtend blauen Blüten bedeckt waren. Sie sahen eine Feuerstelle, einen Kupferkessel, der an einem provisorischen Dreibein hing, einen Haufen Ausrüstungsgegenstände, die vermutlich von dem Wrack stammten – und mindestens ein Dutzend in der Sonne dösender Gestalten.

„Männer von Schiff gebrochen“, stellte Batuti fest.

Dan nickte nur. Ja, es mußten Schiffbrüchige sein – Überlebende von dem Wrack, das der Sturm auf das Riff geworfen hatte. Abenteuerliche, verwegene Gestalten, wie Dan feststellte. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der alles andere als vertrauenerweckend aussah.

Spanier?

Dan O’Flynn bezweifelte es. Zwei, drei südländische Typen waren dabei, ein Indianer mit einer seltsamen zopfartigen Haartracht, aber auch eine Reihe hellhaariger, blauäugiger Männer und etliche Mischlinge. Südsee-Piraten, vermutete Dan.

Saßen die Männer hier fest? Oder verfügten sie vielleicht noch über Boote?

Dan kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken.

Denn im selben Augenblick wurde es unter ihm im Gebüsch lebendig. Ein dünner, heiserer Schrei ertönte, dieser irre Schrei, den die Seewölfe jetzt bereits kannten – und von einer Sekunde zur anderen war in dem Camp der Schiffbrüchigen die Hölle los.

Eine Pistole krachte.

Aufschreiend griff sich einer der dösenden Männer an den Hals und sank ins Gras zurück. Wie der Leibhaftige brach der verrückte Kapitän durch die Büsche. Seine Stimme überschlug sich, kreischte in schrillem Diskant – und immer wieder waren die Worte „Meuterei“ und „Verrat“ zu hören.

Nur flüchtig registrierte Dan O’Flynn, daß sich der Tobsüchtige auch jetzt noch des Englischen bediente.

Vier, fünf von den Männern in dem provisorischen Camp sprangen gleichzeitig auf.

Wieder krachte es, der Irre hatte auch den zweiten Lauf der Pistole abgefeuert. Der große grauhaarige Bursche, auf den er zielte, warf sich in letzter Sekunde zur Seite. Er brüllte einen Fluch, einen englischen Fluch – und wälzte sich blitzartig am Boden herum, als der Angreifer mit einem Hechtsprung auf ihn zuflog.

„Dummy im Kopf“, flüsterte Batuti überflüssigerweise.

„Und wie!“ sagte Dan durch die Zähne.

Sein Blick hing an dem Irren, der den eigenen Schwung nicht bremsen konnte, stolperte und stürzte. Das alles hatte nur wenige Sekunden gedauert, und jetzt endlich erholten sich die übrigen Männer von ihrem Schrecken.

Wie eine Woge schlugen sie über dem Irren zusammen.

Er hatte nicht den Schimmer einer Chance. Binnen einer halben Minute lag er bewußtlos und an Händen und Füßen gefesselt auf dem Boden, und die heimlichen Beobachter zogen sich ein Stück in den Schutz der Felsen zurück.

„Und jetzt?“ fragte Batuti tatendurstig. „Kerle auf Kopf hauen?“

Dan grinste.

Er war zwar kein Bürschchen mehr, sondern längst zum Mann geworden, doch von seiner Hitzköpfigkeit hatte er wenig verloren. Normalerweise sagte er nie Nein, wenn es galt, einem Gegner aufs Haupt zu schlagen. Daß sie alles in allem nur über ein einziges Messer verfügten, hätte ihn nicht einmal sonderlich gestört. Aber im Augenblick erschien ihm die Lage einfach noch zu undurchsichtig, um irgend etwas zu unternehmen.

Er kniff die Augen zusammen und kratzte sich am Kinn.

„Nicht auf den Kopf hauen“, entschied er. „Anschleichen und ein bißchen die Ohren aufsperren. Zu allererst müssen wir wissen, was wir von den Typen da unten überhaupt zu halten haben.“

Eine knappe Stunde später wußten sie es.

Geduckt kauerten sie zwischen Büschen und Felsen, in Hörweite des Piratenlagers. Denn daß es tatsächlich Piraten waren, die der Sturm auf diese gottverlassene Insel verschlagen hatte, war Dan und Batuti inzwischen klar.

Genauso klar wie die Tatsache, daß sie mit ihrer Vermutung genau richtig lagen: die Piraten hatten gemeutert und ihren Kapitän, den Kahlköpfigen, in dem winzigen Beiboot ausgesetzt, lange bevor das Schiff im Sturm scheiterte.