Seewölfe Paket 6

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2.

Die „Isabella VIII.“ rauschte mit halbem Wind unter Vollzeug nach Norden.

Nuevo Espana war das Ziel. Jenes Gebiet im Südwesten der Landenge von Tehuantepec, das die Indianer Chiapas nannten, und in dessen dichtem tropischen Dschungel sich, genau wie auf der Halbinsel Yucatan, ein paar Maya-Stämme vor den spanischen Eroberern versteckten. Um das Gold dieser Mayas ging es den Piraten, um einen sagenhaften Schatz, der in einer Tempelstadt im Urwald verborgen sein sollte. Einer der Männer, der alte Valerio, hatte eine Karte, die das Versteck zeigte. Eine uralte Karte, nur noch mühsam zu entziffern. Jacahiro, der Indio, war reinblütiger Maya und gehörte zum Stamm der Chamula, die sich aus ihren heißen, trockenen Hochtälern in die grüne Hölle des Regenwaldes geflüchtet hatten.

Chiapas!

Das Gold der Maya!

Der Gedanke daran stachelte die Piraten an und trieb sie zu fiebriger Eile. Die Gier funkelte in ihren Augen. Es schien sie nicht zu stören, daß sie hart zu schuften hatten, weil die „Isabella“ hoffnungslos unterbemannt war.

Besonders legten die Piraten allerdings Wert darauf, ihre Gefangenen schuften zu lassen.

Seit Dan O’Flynn und Batuti von den Fesseln befreit worden waren, gelangten sie nicht mehr zur Ruhe. Normalerweise hätten sich weder der hitzköpfige Dan noch der hünenhafte Mann aus Gambia so ohne weiteres zum Borddienst pressen lassen. Aber hier und jetzt lag die Sache anders. Sie wußten, daß sich drei ihrer Kameraden an Bord versteckt hielten. Irgendwann würden Ben Brighton, Big Old Shane und Stenmark losschlagen, und dann wollten Dan und Batuti nicht hinter einem Schott schmoren oder an der Rahnock baumeln, sondern nach Möglichkeit die Hände frei haben, um ihre Gegner das Fürchten zu lehren.

Schon während der ersten Stunde tat Dan O’Flynn wenig anderes, als sich diese Tatsache wieder und wieder vor Augen zu führen.

Er und Batuti hatten einigen von den Piraten ziemlich zugesetzt. Vor allem Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo bereiteten sich ein Vergnügen daraus, es ihren Gefangenen heimzuzahlen. Der schwarze Herkules wurde von einer schweißtreibenden Arbeit zur anderen gescheucht. Und Dan schäumte innerlich vor Wut, weil man ihn dazu verdonnert hatte, einem dikken, schmierigen Kerl namens Tomaso in der Kombüse zu helfen.

Tomaso hatte einen Fraß zusammengebraut, für den sich der Kutscher für den Rest seines Lebens geschämt hätte. Dan wurde losgeschickt, um Abfälle über Bord zu kippen. Hinter ihm meckerte der sogenannte Koch, weil es ihm nicht schnell genug ging. Dan hätte ihn am liebsten in seinem undefinierbaren Brei ersäuft, aber er dachte an seine versteckten Kameraden und riß sich zusammen.

Er beschleunigte sogar seine Schritte. Nicht, daß er sich etwa vor dem Dicken gefürchtet hätte. Im Gegenteil! Aber Dan wußte eins: Wenn dieser schmierige Kerl noch weiter laberte oder ihn gar anfaßte, würde es ein Unglück geben.

Dan brauchte seine ganze Selbstbeherrschung. Vielleicht achtete er deshalb nicht genug auf seine unmittelbare Umgebung. Er sah zu Batuti hinüber, der beim Anbrassen zupackte, weil die „Isabella“ geringfügig den Kurs änderte. Dan mußte dicht an dem einäugigen Esmeraldo vorbei – und der streckte mit einem bösen Grinsen den Fuß vor.

Dan stolperte und schlug lang hin.

Die Pütz, die er geschleppt hatte, flog im Bogen auf die Kuhl, Küchenabfälle regneten auf die Planken. Donegal Daniel O’Flynn schnellte wie ein Kastenteufel vom Boden hoch, wirbelte herum und starrte seinem Gegner keuchend vor Haß in sein eines Auge.

Esmeraldo grinste.

„Kannst du nicht aufpassen, du Tölpel?“ fragte er höhnisch.

Dans Augen verschleierten sich. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Wie durch eine dicke Schicht Wachs hörte er die schneidende Stimme des Bretonen.

„Was soll die Schweinerei, in drei Teufels Namen? Aufwischen, du Bastard, aber ein bißchen plötzlich! He, Nigger! Hilf ihm, bevor jemand auf dem Mist ausrutscht und sich die Knochen bricht! Esmeraldo, mach ihnen gefälligst Feuer unter dem Hintern!“

Batuti murmelte etwas Unverständliches, während er seinen Platz verließ, um Dan zu helfen. Der blonde Dan O’Flynn schluckte mit einer fast übermenschlichen Anstrengung seine Wut herunter. Schweigend wandte er sich ab und ging in die Kombüse, um einen Lappen zu holen, während der hünenhafte Neger bereits die gröberen Abfälle zusammensuchte.

Der fette Tomaso grinste hämisch.

„Saudämliche Engländer“, sagte er.

Aber dann verstummte er ganz schnell, weil ihm der mörderische Blick des Gefangenen denn doch unter die Haut ging.

„Nimm dich in acht!“ zischte Dan. „Wenn du mir noch einmal krumm kommst, setze ich dich mit dem Hintern in die Bratpfanne. Und wenn ihr mich hinterher zehnmal aufhängt oder kielholt – deinem Arsch wird es davon nicht bessergehen, kapiert?“

Der dicke Koch war kein Kämpfer. Er überschlug in Gedanken, was sein Gegner ihm alles antun konnte, bevor die anderen zur Stelle waren, und schluckte erschrocken. Dan wandte sich ab. Mit Lappen und Segeltuchpütz trat er ins Kombüsenschott und biß die Zähne zusammen.

Batuti hatte den Großteil der Abfälle aufgesammelt.

Er ging über die Kuhl, um die Ladung außenbords zu kippen. Da er gewarnt war, dachte er nicht daran, über einen vorgestreckten Fuß zu stolpern. Er wollte über Esmeraldos Bein hinwegsteigen, aber der Einäugige trat blitzschnell zu.

Eine Sekunde später brüllte er auf, weil ihm Batuti die Pütz mit den Abfällen über den Kopf gestülpt hatte.

Ein paar Männer lachten. Die meisten dagegen stürzten sich sofort auf den hünenhaften Neger. Und einer von ihnen, der „Burgunder“ genannt wurde, holte tückisch grinsend mit einem Belegnagel aus.

„Du hinterhältiger Mistkerl!“ schrie Dan gellend.

Lappen und Segeltuchpütz hatte er bereits fallenlassen. Er sah, wie Batuti noch herumzuwirbeln versuchte und der Belegnagel ihn knapp über der Stirn traf. Der schwarze Herkules wankte. Wieder zuckte der Belegnagel auf ihn zu. Im nächsten Moment war Dan O’Flynn mitten unter den Kerlen wie ein leibhaftiger Wirbelsturm.

Ein Wirbelsturm war es auch, der in den nächsten Minuten auf der Kuhl der „Isabella“ tobte.

Bevor die Piraten überhaupt begriffen, daß sie eine Art Naturkatastrophe entfesselt hatten, lagen vier von ihnen schon bewußtlos am Boden. Batuti hätte ihrer Meinung nach eigentlich ein Loch im Schädel haben müssen, doch statt dessen stemmte er den nicht gerade leichtgewichtigen Pepe le Moco hoch in die Luft und feuerte ihn außenbords wie ein Bündel Lumpen.

Der schlanke, drahtige Dan O’Flynn wirkte äußerlich nicht eben wie ein Kraftpaket – und entpuppte sich als leibhaftiger Tiger. Er kratzte und biß, schlug Nasen platt, knackste Rippen an und bewegte sich schneller, als seine Gegner denken, geschweige denn zuschlagen konnten. Selbst als zwei Mann an seinen Armen hingen, ein dritter in sein Genick sprang und ein vierter von vorn auf ihn eindrosch, trat er noch mit den Füßen um sich.

Batuti beförderte gerade den zweiten Gegner ins Wasser. Die Muskete, die auf ihn selbst zielte, störte ihn nicht. Aber als er mit furchterregend rollenden Augen herumwirbelte und nach dem nächsten Opfer Ausschau hielt, sah er die Steinschloß-Pistole, die sich gegen Dans Magengrube preßte – und damit war auch für den schwarzen Herkules der Kampf zu Ende.

„Aufhören, oder dein Freund ist eine Leiche!“ brüllte Jean Morro.

Mit dieser Methode hatte er schon zweimal Erfolg gehabt, wenn es so aussah, als würden die Seewölfe eine dreifache Übermacht mit Leichtigkeit auseinandernehmen. Auch diesmal funktionierte es. Batuti knirschte mit den Zähnen, stöhnte vor Wut, aber er konnte nichts mehr tun, wenn er nicht Dans Leben aufs Spiel setzen wollte.

Jean Morro atmete langsam aus. Seine Stimme klang schneidend.

„Bindet sie an die Gräting!“ befahl er. „Zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen für jeden! Esmeraldo!“

Der Einäugige rappelte sich mühsam von den Planken hoch. Noch stöhnte er, aber er hatte den Sinn des Befehls begriffen, da begann sein eines Auge in bösem Triumph zu glitzern. Er sah zu, wie Dan und Batuti an die schräggestellte Kuhlgräting gefesselt wurden.

Sie konnten sich nicht wehren. Denn Jean Morro, der Bretone, hatte längst ihren einzigen schwachen Punkt herausgefunden. Jeder dieser beiden ungleichen Männer war notfalls bereit, sich für seinen Kameraden in Stücke hauen zu lassen, und man brauchte nur dem einen eine Waffe an die Schläfe zu setzen, um den anderen ohne großen Aufwand zum Gehorsam zu zwingen.

Dan O’Flynn befand sich in einem Delirium der Wut, als hinter ihm die Peitsche zu pfeifen begann.

Batuti wurde als erster ausgepeitscht. Zwanzig Hiebe waren viel, selbst für einen Bullen von Kerl, aber der schwarze Herkules nahm sie hin, ohne einen Laut von sich zu geben oder das Bewußtsein zu verlieren.

Dan spannte die Muskeln und schloß die Augen. Die Stimme, die laut die Schläge mitzählte, schien wie eine gigantische Glocke in seinem Schädel zu dröhnen. Er glaubte, jeden einzelnen Hieb, der Batuti traf, auf seinem eigenen Rücken zu spüren, und er wußte, daß es Batuti genauso gehen würde.

„Zwanzig!“ rief Pepe le Moco.

Esmeraldo keuchte. Er war wütend, weil es ihm nicht gelungen war, den Neger zum Schreien zu bringen. Aber bei dieser halben Portion, diesem schlanken, jungen Mann würde er es schaffen, das glaubte er jedenfalls.

Er irrte sich.

Dans Kiefer preßten sich wie ein Schraubstock zusammen. Nach dem zehnten Hieb war sein Rücken eine brennende Hölle, aber er versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. Er dachte daran, wie er Jean Morro an der Kehle packte, ihn langsam erwürgen, ihm die Haut abziehen, ihn den Haien zum Fraß vorwerfen würde.

 

Die letzten drei, vier Hiebe spürte Dan nicht mehr.

Er kam erst wieder zu sich, als ihm jemand eine Ladung Seewasser über den zerfetzten Rücken kippte. Das Salz brannte in den offenen Wunden. Dan biß sich die Lippen blutig. Verzweifelt klammerte er sich an den Gedanken, wie er es Jean Morro heimzahlen würde, und aus weiter Ferne hörte er die Stimme des Bretonen.

„Schneidet sie los! In die Vorpiek mit ihnen! Wir werden die Kerle schon kleinkriegen!“

Der Schiffsjunge Bill wand sich durch das Gewirr der Schlinggewächse wie eine Schlange.

Immer wieder mußten sie sich für Minuten durch das Dickicht kämpfen, das jede Lücke zwischen den roten Felsen ausfüllte. Hasard lächelte still vor sich hin, während er den Jungen beobachtete. Bills Gesicht glühte nicht nur von der Hitze. Seine ganze Haltung spiegelte hellwache Spannung, die braunen Augen leuchteten erregt. Fünfzehn Jahre war er alt, der Moses. Und mit seiner unbekümmerten Jugend brachte er es immer wieder fertig, Sorgen und Ängste abzuschütteln wie Wassertropfen und das Abenteuer des Augenblicks zu genießen.

Soll er, dachte Hasard.

Aber gleichzeitig wurde ihm wieder einmal klar, daß Bill noch lange kein Mann war, der für sich selbst einstehen konnte, daß er jemanden brauchte, der auf ihn aufpaßte. Dan O’Flynn war vor ein paar Jahren genauso gewesen, nur noch entschieden frecher, vorwitziger und hitzköpfiger. Ein Heißsporn war er immer noch. Ungerechtigkeit und Gemeinheit vermochte er nicht mitanzusehen, da war es mit seiner Beherrschung vorbei, Vernunft hin oder her – und deshalb bereitete sich Hasard Sorgen.

Vor ihm hatte Bill eine Art Hochfläche erreicht und lief leichtfüßig durch das Gewirr von Felsen und lichtem Buschwerk. Vor einer tief eingeschnittenen Mulde hielt er. Seine Stimme klang triumphierend.

„Da ist es! Ich kann die Feuerstelle sehen!“

Hasard und Al Conroy traten neben ihn.

Sie hatten das Lager der Piraten noch nicht gesehen, da der Bretone sie offenbar von Dan und Batuti hatte fernhalten wollen. Der Seewolf schloß daraus, daß die beiden über das Ziel der „Isabella“ Bescheid wußten. Er hoffte, daß es ihnen vielleicht gelungen war, irgendeine Art von Nachricht zurückzulassen.

Daß die Mulde mit der Quelle, dem dichten Gras und den schattenspendenden Felsen tatsächlich der Schlupfwinkel der Piraten gewesen war, ließ sich an vielen Kleinigkeiten ablesen. Die Männer des Bretonen hatten eine zerfetzte Persenning zurückgelassen, leere Flaschen, Tabaksbeutel, gestapeltes Feuerholz und einen zerbeulten Kessel, der an einem provisorischen Dreibein baumelte.

Noch war das Gras niedergedrückt von den Tritten vieler Füße. Bill wollte rasch in die Mulde hinuntersteigen, aber Hasard hielt ihn an der Schulter zurück.

„Warte! Schau dich erst einmal genau um!“

Bill warf dem Seewolf einen Blick zu, dann kniff er die Augen zusammen. Nach einer Weile hob er wieder den Kopf.

„Man kann aus den Spuren etwas herauslesen, nicht wahr, Sir?“

„Richtig. Und was liest du daraus?“

„Rund um die Feuerstelle ist das Gras am meisten zertrampelt“, sagte Bill. „Da hinten ist es glatt niedergedrückt, wahrscheinlich haben die Kerle da geschlafen. Aber ich verstehe nicht, was die Löcher und Narben da drüben im Gras bedeuten.“

„Stiefelspuren“, sagte Hasard. „So rammt man die Absätze ins Gras, wenn man gefesselt ist und sich mit den Füßen abstößt.“

„Also haben Dan und Batuti dort gelegen und sich nach einer Weile aufgerichtet, um sich mit dem Rükken an die Felsen zu lehnen?“

„Wahrscheinlich.“ Der Seewolf lächelte. „Schauen wir uns die Stelle mal näher an.“

Über die glatten roten Felsen glitten sie nach unten. Die Mulde war windgeschützt, und die Luft schien zu kochen. Hasard, Al Conroy und Bill durchquerten die Senke und traten zu der Stelle, wo das Gras von Stiefelabsätzen aufgerissen war.

Der Seewolf wußte, wonach er suchte.

Zwei Minuten später fiel sein Blick auf die Buchstaben, die Dan O’Flynn in den Stein gekratzt hatte. Auch Al und Bill standen schweigend vor der krakeligen, nur schwer entzifferbaren Inschrift.

„C-A-I-A-P-A-S“, buchstabierte Bill mühsam.

Hasard schüttelte den Kopf. „Der zweite Buchstabe ist ein H. Es heißt Chiapas.“

„Kommt mir bekannt vor“, murmelte Al Conroy.

„Sollte es auch“, sagte der Seewolf trocken. „Erinnerst du dich nicht an die Karten, die wir auf Sabreras Schiff gefunden haben? Chiapas ist ein Zipfel von Nueva Espana, südlich der Landenge von Tehuantepec. Im Landesinneren muß es ziemlich hohe Berge geben. Und an der Küste den schönsten Urwald.“

„Ach du liebe Zeit“, sagte Al Conroy ergriffen.

Hasard grinste freudlos. Ihm hatten die Abenteuer im Dschungel von Guayana und der grünen Hölle des Amazonas ebenfalls gereicht. Und er fragte sich, was, zum Teufel, die Piraten in einer Wildnis suchten, wie er sie hinter dem Namen Chiapas vermutete.

Al Conroy hatte offenbar ganz ähnliche Gedanken.

„Vielleicht suchen sie auch so etwas wie El Dorado“, sagte er. „Oder gibt es da oben keine Inkas?“

„Inkas nicht. Aber Maya. Möglich, daß du recht, hast, Al. Die Maya haben sicher nicht weniger unter den spanischen Eroberern gelitten als alle anderen Indios. Warum sollen sie sich nicht ebenfalls dorthin zurückgezogen haben, wo sie am sichersten vor Verfolgung und Terror sind: in die Regenwälder.“

„Also segeln wir nach Chiapas?“ fragte Bill eifrig.

Hasard warf ihm einen Blick zu. Der Junge hatte das kurze Gespräch stumm und gebannt verfolgt, und seine Augen leuchteten. Der Seewolf mußte lächeln, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war.

„Sicher geht es nach Chiapas“, sagte er. „Notfalls auf einem Floß, mit einem alten Hemd als Segel.“ Und als er den Schatten sah, der über Bills Gesicht flog: „Nur keine Angst, mein Junge! Irgendwie werden wir es schon schaffen.“

3.

Die Vorpiek der „Isabella“ wurde von den Seewölfen seit jeher als „Vorhof zur Hölle“ bezeichnet.

Ein finsteres Loch, stickig, mörderisch heiß, von Ratten bewohnt und mit Gerüchen erfüllt, die auch dem härtesten Burschen den Magen umdrehen konnten. Unter der Gräting, auf der Ben Brighton, Big Old Shane und Stenmark kauerten, schwappte stinkendes Bilgewasser. Mehr als zwei Stunden hielten es die Männer jetzt schon hier aus, und ihr einziger Trost war, daß sie es freiwillig taten.

Was sich an Deck der „Isabella“ abspielte, nahmen sie nur als dumpfes Schrittegetrampel wahr, das sich vor ein paar Minuten für kurze Zeit zu wilder Heftigkeit gesteigert hatte.

„Scheint so, als ob sie sich prügeln“, sagte Stenmark mit gerunzelter Stirn.

„Sollen sie“, brummte Big Old Shane. Genausowenig wie Stenmark und Ben Brighton konnte er wissen, daß die Piraten Dan O’Flynn und Batuti mit an Bord geschleppt hatten. „Ich hoffe, sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Um so leichter können wir sie dann später auseinandernehmen.“

„Später“, wiederholte Stenmark angewidert. „Müssen wir wirklich erst die Nacht abwarten?“

Ben Brighton nickte nachdrücklich. „Doch, Sten. Wir sind darauf angewiesen, Jean Morro in seiner Kammer zu überraschen. Wir können nicht zu dritt gegen eine ganze Schiffsmannschaft kämpfen.“

Stenmark zuckte mit den Schultern. Dem blonden Schweden war anzusehen, daß er sich in einer Stimmung befand, in der er notfalls auch ganz allein über die Piratenbande hergefallen wäre.

Big Old Shane preßte die Zähne zusammen. Das verwitterte, graubärtige Gesicht des früheren Waffenmeisters von Arwenack wirkte wie aus Stein gemeißelt. Seine Fäuste schlossen sich fester um die Eisenstange, die er als Waffe benutzte.

„Ich bin nicht mal so sicher, ob es wirklich gut ist, die Nacht abzuwarten“, sagte er in seiner langsamen, bedächtigen Art. „Es sei denn, wir verlassen uns blindlings darauf, daß es so läuft, wie wir es uns vorstellen.“

„Dafür steht zu viel auf dem Spiel.“ Ben Brighton hob fragend die Brauen. Er wußte, daß der graubärtige Alte einen ganz bestimmten Gedankengang verfolgte.

Shane bewegte die mächtigen Schultern. „Angenommen, wir schaffen es nicht! Wenn die Piraten auf Jean Morros Leben keine Rücksicht nehmen, müssen wir kämpfen, und wie das ausgeht, mag der Teufel wissen. Wenn alle Stricke reißen, bleibt uns immer noch die Möglichkeit, von Bord zu verschwinden. Jetzt! Heute nacht wird sich die ‚Isabella‘ schon zu weit von der Insel entfernt haben, um zurückzuschwimmen.“

„Zurückschwimmen?“ stieß Stenmark durch die Zähne. „Und uns von den Haien anknabbern lassen?“

„Shane redet vom äußersten Notfall, Sten. Besser vielleicht im Bauch eines Hais als mit Sicherheit an der Rahnock, oder?“

„Aber dafür stehen unsere Chancen besser, wenn wir die Dunkelheit abwarten“, führte Big Old Shane seine eigenen Überlegungen weiter. „Ich glaube …“

Er konnte den Satz nicht mehr beenden.

Jäher Lärm ließ ihn den Kopf heben. Schritte näherten sich, die Schritte von mindestens sechs, sieben Männern.

„Verdammt“, stieß Stenmark durch die Zähne.

„Ruhig“, sagte Ben Brighton mit schmalen Augen. „Vielleicht untersuchen sie nur das Schiff, die Laderäume …“

Er stockte abrupt.

Die Schritte waren jetzt deutlicher zu hören. Es gab keinen Zweifel mehr daran, daß sie sich der Vorpiek näherten.

Ben Brighton und Stenmark griffen schweigend nach ihren Pistolen. Big Old Shane richtete sich auf und glitt in den toten Winkel neben dem Schott. Die Schritte verhielten, dann erklang eine heisere, verzerrte und dennoch unverkennbare Stimme.

„Nimm deine Pfoten weg, du Sohn einer verlausten Wanderhure! Laß mich erst wieder die Hände frei haben, dann verarbeite ich dich zu Haferbrei, du verdammter, widerlicher …“

Ein klatschendes Geräusch erstickte die Stimme. Aber es war eindeutig die Stimme von Dan O’Flynn gewesen.

Die drei Männer in der Vorpiek starrten entgeistert das Schott an, das im selben Augenblick aufflog.

Eine Gestalt taumelte herein, ein hünenhafter Schatten, der stolperte, mit den gefesselten Händen das Gleichgewicht nicht halten konnte und auf die Gräting prallte.

Batuti, durchzuckte es Ben Brighton, und im selben Moment wurde auch Dan O’Flynn mit einem brutalen Stoß in die Vorpiek befördert.

Tanzendes Lampenlicht fiel in das finstere Loch.

Der Widerschein streifte die Gesichter von drei, vier Männern.

Sie grinsten hämisch. Einer von ihnen kicherte im Tonfall satter Zufriedenheit. Keine Sekunde später wurden ihre Mienen zu verzerrten Grimassen.

Gellend schrie einer der Kerle auf.

„N-n-nein …“ stammelte jemand im Hintergrund.

Die Männer glaubten, Gespenster zu sehen. Der bullige Pepe le Moco war der erste, der sich blindlings herumwarf und flüchtete.

Unter Vollzeug segelte „Eiliger Drache über den Wassern“ nach Südwesten.

Der Wind wehte raumschots, der schwarze Segler lag über Steuerbord und lief gute Fahrt. Die Stürme der letzten Tage hatten ihn weit nach Norden verschlagen, der Ruderschaden, der aufgetreten war, hatte ein übriges getan, um die Fühlung zwischen der „Isabella“ und dem „Drachen“ abreißen zu lassen. Aber Siri-Tong, Thorfin Njal und die anderen glaubten nicht, daß es besonders schwer sein würde, die Seewölfe wiederzufinden.

„Eiliger Drache“ war mit seinen vier Masten ein außergewöhnlich schnelles Schiff. Und das gemeinsame Ziel stand fest: der geheimnisvolle Westen, jene unbekannten Inseln inmitten der endlosen Wasserwüste zwischen der Westküste der neuen Welt und Siri-Tongs Heimat.

Die Rote Korsarin stand aufrecht auf dem Achterkastell und ließ ihr langes schwarzes Haar im Wind flattern. Ab und zu wanderte ihr Blick zu der riesenhaften, in Felle gekleideten Gestalt des Wikingers am Kolderstock.

Thorfin Njal trennte sich – genau wie Eike, Arne, Olig und der Stör – auch in der schlimmsten tropischen Hitze nicht von seiner gewohnten Kleidung. Und seinen alten, zerbeulten Kupferhelm abzunehmen, wäre ihm erst recht nicht eingefallen.

Im Augenblick steuerte er einen Kurs, bei dem das Kielwasser wie mit dem Lineal gezogen wirkte. In seinen mächtigen, schwieligen Fäusten nahm sich der Kolderstock wie ein Kinderspielzeug aus. Der schwarze Segler lief wie Samt und Seide. An Deck war es ruhig. Nur ab und zu unterbrachen knappe Segelkommandos die Stille, die Schreie der Seevögel, das Plätschern der Wogen gegen den Schiffsrumpf.

 

Auf der Kuhl döste Mißjöh Buveur vor sich hin, eine Flasche in der Faust, aber da er Freiwache hatte, verzichtete Siri-Tong darauf, ihn wegen der Sauferei zusammenzustauchen.

Dafür begann plötzlich Cookie, der Koch, lautstark zu lamentieren.

Wie eine Wildkatze fuhr er auf Mißjöh Buveur zu und versuchte, ihm die Flasche zu entreißen. Der untersetzte Mann wehrte sich. Binnen Sekunden war ein wildes Gerangel im Gange, das erst Siri-Tongs scharfer Zuruf stoppte.

„Er hat geklaut!“ zeterte der schmierige, dickliche Koch. „Er hat den Kokosnuß-Schnaps aus der Kombüse …“

„Kokosnuß-Schnaps?“ fragte die Rote Korsarin.

Cookie schluckte erschrocken. In seiner Aufregung fuhr er sich mit allen fünf Fingern durchs Haar – und dieses Haar war fast einen halben Yard lang und mit Öl von rechts nach links an den Schädel geklebt, um eine kahle Stelle zu verdecken. Rod Bennet, genannt Cookie, sah in Sekundenschnelle aus, als habe ihm jemand einen Eimer Algen über den Kopf gekippt.

„Das – das ist ein Rezept von den Eingeborenen“, stotterte er. „Man – man bohrt Löcher in die Kokosnüsse, damit Luft an die Milch dringt. Dann stopft man die Löcher wieder zu. Na ja, und dann wird mit der Zeit eben Schnaps daraus.“

„So“, sagte Siri-Tong.

Cookie sagte gar nichts, sondern fuhr fort, seine Haarpracht zu verwirren. Er wußte genau, was jetzt folgen würde.

„Kannst du dich vielleicht noch entsinnen, warum wir die Kokosnüsse in den Laderaum gepackt haben, Mister Bennet?“ fragte die Rote Korsarin gefährlich sanft.

„Als – als Verpflegung, Madam!“

„Nicht, damit du dir deinen Privatschnaps daraus herstellst?“

„N-nein, Madam!“

Siri-Tong atmete tief durch. Ihr Gesicht wirkte steinern. Sie überlegte noch, wozu sie den Sündenbock verdonnern sollte, da wurde sie unterbrochen.

„Deck!“ ertönte Hilos Stimme aus dem Großmars. „Mastspitzen Backbord voraus!“

„Ho!“ brüllte der Wikinger. „Das muß die alte ‚Isabella‘ sein! Kannst du sie erkennen?“

Hilo sah im Augenblick nur drei Mastspitzen, haarfeine Nadeln über der Kimm, und es würde auch noch eine Weile dauern, bis er mehr erkennen konnte. Siri-Tong wollte sich wieder dem Koch zuwenden, der sich an den Vorräten vergriffen hatte, aber der war inzwischen verschwunden.

Dafür drang gedämpftes Wehgeschrei durch das geschlossene Kombüsenschott.

Siri-Tong wandte sich ab. Sie gab vor, nichts zu hören, aber sie wußte, was jetzt passierte, genau wie die Wikinger, der Boston-Mann und der Rest der Crew, die sich eins grinsten.

Der Koch wurde gebraucht.

Man konnte keine der üblichen Disziplinarstrafen über ihn verhängen, ohne daß die gesamte Mannschaft darunter litt. Aber die rauhen Kerle hatten da im Laufe der Zeit ihre eigene Methode entwickelt.

Dazu brauchten sie nichts weiter als die heiße Herdplatte in der Kombüse.

Und danach wurde meist sogar das Essen, das der Koch zustande brachte, etwas besser. Allerdings nur für eine Weile. Ungefähr genauso lange, wie Cookie auf dem Bauch schlief und es sorgfältig vermied, sich hinzusetzen.

Das Geschrei verstummte allmählich.

Dabei polterte es – vermutlich flogen Töpfe und Pfannen durch die Kombüse. Ein paar Minuten später war auch das vorbei, und die Männer, die leicht zerrauft auf die Kuhl zurückkehrten, widmeten ihre Aufmerksamkeit nun ebenfalls dem Schiff, das der Ausguck gesichtet hatte.

Nur Cookie ließ sich nicht sehen.

Er heulte fast vor Wut. Am liebsten hätte er sich mit einer Kakerlaken-Suppe oder etwas ähnlichem revanchiert, aber dafür hatte ihm die Herdplatte als Sitzplatz denn doch zu wenig gefallen.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte in der Vorpiek der „Isabella VIII.“ eine Stille geherrscht, wie man sie im Zentrum, im „Auge“ eines Wirbelsturms findet.

Esmeraldos Aufschrei und die Art, wie sich Pepe le Moco jählings herumwarf, wirkten als Signal. Dann ging alles so schnell, daß die Männer des Bretonen es im einzelnen erst viel später begriffen.

„Arwenack!“ schrie Dan O’Flynn, obwohl er an Händen und Füßen gefesselt war und überhaupt nichts unternehmen konnte.

„Arwenack!“ brüllten Batuti, Stenmark und Big Old Shane im Chor, und die Piraten erhielten endgültig den Eindruck, als habe die Hölle selber ihre Dämonen ausgespuckt.

Vier Mann wollten sich gleichzeitig zur Flucht wenden.

In dem engen Durchlaß des Schotts war das etwas schwierig. Für einen Moment behinderten sich die Kerle gegenseitig, und der erste, der handelte, war Big Old Shane.

Wie ein angreifender Stier senkte er den Schädel und stürmte einfach in die schwankende Front seiner Gegner.

Die beiden mittleren Kerle torkelten zurück wie von einem Rammsporn getroffen. Einer von ihnen stieß einen gurgelnden Schrei aus und klappte zusammen. Der zweite ruderte verzweifelt mit den Armen, um nicht zu fallen. Dabei ließ er die Öllampe los, die er getragen hatte. Im Bogen flog sie durch den kleinen Laderaum unter dem Vordeck der „Isabella“, knallte auf den Boden und ging in Scherben.

„Feuer!“ kreischte einer der Piraten entsetzt. „Feuer! Feu …“

Er verstummte, weil Ben Brighton ihm die Faust in die Zähne geschlagen hatte.

Dem letzten Mann, der noch völlig verdattert im Schott stand und nicht wußte, wie ihm geschah, verpaßte Stenmark ein Ding in die Magengrube.

„Uuuiiie“, gurgelte der Kerl. Dabei quollen ihm fast die Augen aus den Höhlen. Den Weg gab er erst frei, als Stenmark ihn am Kragen packte und kurzerhand in die Vorpiek beförderte.

„Was soll das denn?“ schrie Dan O’Flynn aufgebracht, als der Bursche über ihm landete.

„Feuer!“ schrien jetzt auch andere Stimmen. Tatsächlich tanzten ein paar Flämmchen auf den Planken des Laderaums. Feuer stellte auf einem Schiff eine furchtbare Gefahr dar. Vor allem auf einem Schiff mit schwerer Armierung und entsprechenden Pulvervorräten, die verhältnismäßig trocken gehalten werden mußten, damit sie im Bedarfsfall funktionierten.

Ben Brighton wollte sich auf die Flammen stürzen, aber einer der kopflosen Piraten rannte ihm – vielleicht in gleicher Absicht – vor die Füße.

Der ruhige, besonnene Bootsmann brauchte immer einen kleinen Anlauf, um richtig in Fahrt zu geraten. Jetzt war es soweit. Nur mit halbem Ohr nahm Ben Brighton das Gebrüll an Deck wahr, wo Pepe le Moco vermutlich den Rest der Crew alarmierte. Er sah das Feuernest, und er sah den keuchenden Kerl dicht vor sich. Es war der, den sie den „anderen Burgunder“ nannten, aber das konnte Ben Brighton nicht wissen.

Er trat den Burschen mit Wucht vor das Schienbein, rammte ihm die Faust ins Gesicht, als er sich jaulend zusammenkrümmte, und schlug ihm zum Abschluß noch von oben aufs Haupt – was entschieden mehr war, als der „andere Burgunder“ vertragen konnte.

Er sackte sang- und klanglos in sich zusammen.

Ben Brighton wirbelte herum, suchte das Feuer und sah statt dessen einen um sich schlagenden Schatten durch die Luft fliegen. Der einäugige Esmeraldo überschlug sich zweimal und krachte auf die Planken. Die riesige Faust des Waffenmeisters von Arwenack hatte den Piraten genau dahin befördert, wo Shane ihn hinhaben wollte: auf die Flammen, die unter dem Anprall zum Glück erstickten.

Jäh breitete sich Dunkelheit aus.

Eine Dunkelheit, die erfüllt war von Stöhnen, Geschrei und keuchenden Atemzügen.

„Da!“ knurrte Stenmarks Stimme. „Und da – und da – und das auch noch …“

Jedes „da“ wurde von einem klatschenden Geräusch begleitet. Der Empfänger der Hiebe wimmerte zum Steinerweichen. Irgendwo erklangen tiefe, grollende Atemzüge, die nur aus dem mächtigen Brustkasten von Big Old Shane stammen konnten. Ben Brighton riß sich die Jacke vom Leib, um den Rest des brennenden Öls zu löschen.

Als er die letzten Funken austrat, sprang ihm jemand von hinten in den Nacken.

Ben spürte heißen Atem über sein Ohr streichen und feuerte einen Ellenbogen nach hinten. Der Pirat ließ los. Nicht nur das: Er segelte auch noch ein Stück durch die Luft. Unglücklicherweise prallte er im Dunkeln gegen Big Old Shane, und der graubärtige Alte lehrte den Burschen endgültig das Fliegen.