Seewölfe Paket 6

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Wo der Kerl landete, war nicht zu überhören, weniger wegen des Aufpralls als wegen des Empörungsschreis, der aus der Vorpiek ertönte. Dan O’Flynn fand es ausgesprochen unfair, daß man ihm ständig Leute auf die Figur warf, statt ihn endlich zu befreien, damit er sich in den Kampf stürzen konnte. Was Dan O’Flynn von sich gab, war allerdings nicht zu verstehen. Denn mindestens zwei von den Piraten, die noch auf eigenen Beinen stehen konnten, ergriffen jetzt blindlings die Flucht und verursachten ein fürchterliches Gepolter.

Sie kannten den vorderen Laderaum der „Isabella“ nicht so gut. Im Gegensatz zu Ben Brighton und Big Old Shane, die keine Schwierigkeiten hatten, den Flüchtenden auch im Dunkeln nachzusetzen.

„Ihr seid vielleicht Kameraden!“ schrie Dan O’Flynn mit etwas gequetschter Stimme. „Verdammt, wollt ihr uns nicht endlich …“

„Losbinden!“ forderte der hünenhafte Neger mit Donnerstimme. „Batuti fressen Bretonen zum Frühstück. Gottverdammt, ihr nicht ganzes Vergnügen für euch allein!“

„Mist!“ schrie Stenmark im selben Moment.

Nicht wegen Batutis berechtigter Forderung, sondern wegen des bewußtlosen Piraten, über den er gestolpert war. Nach der Bauchlandung fühlte sich der blonde Schwede sekundenlang benommen, und bei dieser Gelegenheit wurde ihm bewußt, daß Batuti ständig etwas von „Frühstück“ und „Vergnügen“ schrie.

Stenmark verstand das nicht so recht, aber er verfiel von selbst auf den Gedanken, daß es von Vorteil war, die beiden Gefesselten in der Vorpiek zu befreien.

Der blonde Schwede hatte nicht geahnt, daß sich noch zwei Männer aus der Crew auf der „Isabella“ aufhielten. Mit Dan und Batuti, fand er, waren sie so gut wie unschlagbar. Fünf Seewölfe gegen einen Haufen lausiger Piraten, da würden die Fetzen fliegen. Aber nicht bei den Seewölfen, sondern bei ihren Gegnern.

Stenmark grinste und rappelte sich hoch – etwas taumelig, da er unglücklicherweise mit dem Kinn auf eine Querplanke geschlagen war.

Die völlige Finsternis wurde ihm zum Verhängnis. Er griff bereits zum Messer, während er auf das Schott zuschwankte, aber weder er noch Batuti, noch selbst Dan mit seinen scharfen Augen konnten sehen, daß der Kerl, den Big Old Shane in die Vorpiek geschleudert hatte, eben jetzt aus seinen Träumen erwachte.

Jacahiro, reinblütiger Maya vom Stamme der Chamula.

Der Bursche war nicht nur zäh, er hatte auch den Instinkt eines Raubtieres. Als er sich aufrichtete, geschah es mit der lautlosen Geschmeidigkeit, die seiner Rasse angeboren war und die man zum Überleben in der Wildnis brauchte. Jacahiro trug einen unterarmlagen Bronzestab am Gürtel, eine fünfkantige Waffe, die – mit einer Schlaufe am Handgelenk befestigt – in ihrer Funktion entfernt an Batutis Morgenstern erinnerte. Lautlos löste der Maya-Krieger die Waffe von seinem Gürtel, streifte sie über seine Rechte und schloß die Augen, um sich völlig auf die Geräusche im Dunkeln zu konzentrieren.

Stenmark ging von der irrigen Annahme aus, daß der unbekannte Pirat aufgrund eines Faustschlags von Big Old Shane in der Vorpiek gelandet sei.

Wo der ehemalige Schmied und Waffenmeister der Feste Arwenack hinhaute, wuchs nichts mehr. Stenmark ahnte nichts Böses, als er sich bückte und über die Gräting tastete. Er grinste im Dunkeln, als er ein Hosenbein zu fassen kriegte.

„Bist du das, Dan?“ fragte er.

„Nein, die Königin Von England!“ knirschte Dan O’Flynn. „Verdammt, beeil dich! Ich will diesen verdammten Bretonen zu fassen kriegen.“

„Na, na, na“, sagte Stenmark, während er nach Dans Fesseln tastete.

„Verdammtes Pirat hat kleines O’Flynn auspeitschen lassen“, grollte Batuti. „Bretone wird Fischfutter! Picadillo! Grrr!“

„Dieser Bastard!“ knurrte Stenmark. „Verdammt, Dan, halt still, ich kann nicht …“

Er stockte abrupt.

In allerletzter Sekunde spürte er den Luftzug, aber er hatte keine Chance mehr, Jacahiros Bronzestab auszuweichen. Tief in Stenmarks Schädel schien etwas zu explodieren. Er fiel nach vorn, und Dan stöhnte auf, weil der Schwede auf seinem zerschundenen Rücken landete.

Jacahiro schwang herum und glitt lautlos in den Laderaum.

Dan und Batuti fluchten um die Wette, aber es nützte ihnen nichts. Sie waren gefesselt und vermochten sich nicht zu rühren. Sie konnten nur noch abwarten, wie der ungleiche Kampf ausgehen würde.

Ben Brighton und Big Old Shane hatten nichts mehr zu verlieren.

Die Kerle, die vor ihnen über den Niedergang flüchteten, prallten mit ihren eigenen Kumpanen zusammen und wurden zurückgespült von der Woge der Angreifer. Der einäugige Esmeraldo verlor das Gleichgewicht und stürzte. Ben Brighton empfing ihn mit einem Tritt, der ihn vor die Füße seiner Kumpane beförderte.

Auch Pepe le Moco und der Burgunder stolperten. Klirrend schlidderte ein Säbel über die Planken. Die anderen Kerle rückten nach, sprangen über die Gestürzten weg – und prallten zurück angesichts der furchterregenden Gestalt, die sie im einfallenden Licht sahen.

Big Old Shane schwang mit beiden Fäusten eine mächtige Eisenstange.

Schritt um Schritt trieb er die Piraten zurück, fegte den Niedergang leer und kämpfte sich weiter. Wo er traf, gingen Männer brüllend zu Boden. Schon hatte Shane das Vordeck erreicht, doch im nächsten Moment ließ er sich fallen, weil die lange Flammenzunge aus einer Muskete auf ihn zuzuckte.

Ben Brighton schoß zurück, aber er schaffte es nicht mehr, seine Waffe wieder zu laden.

Wie ein lautloser Schatten tauchte Jacahiro hinter ihm auf.

Blitzschnell holte der Maya aus. Der Bronzestab wirbelte durch die Luft, traf den Nacken des Opfers – und der Bootsmann der „Isabella“ sank mit einem dumpfen Stöhnen zusammen.

Big Old Shane stieß einen Wutschrei aus, als er vom Boden hochschnellte.

Undeutlich sah er den geschmeidigen braunhäutigen Mann sowie den wirbelnden Bronzestab – und hob blitzartig die Eisenstange. Ein helles Klirren ertönte. Loslassen konnte Jacahiro seine Waffe nicht, da sie an seinem Handgelenk festsaß. Der Maya schrie auf. Urgewalten schienen an seinem Arm zu zerren und schleuderten ihn zur Seite. Jacahiro stolperte und fiel, aber Big Old Shane hatte dem Niedergang eine Sekunde zu lange den Rücken wenden müssen.

Den schmetternden Hieb mit dem Musketenkolben, der seinen Schädel traf, konnte selbst er nicht verkraften.

Ohne einen Laut kippte er nach vorn.

Er wachte erst wieder auf, als er zwischen Stenmark und Ben Brighton auf den Planken der Kuhl lag.

Auch die beiden anderen waren bei Bewußtsein. Sie waren nicht einmal gefesselt, aber das nutzte ihnen nichts. Mindestens ein halbes Dutzend Musketen zielten auf sie. Beim geringsten Widerstand würden die Geschosse sie zerfetzten.

„… vielleicht besser mitnehmen“, hörten sie die Stimme des einäugigen Esmeraldo. „Wir sind ohnehin zu wenig, wir könnten die Kerle gebrauchen.“

„Unsinn“, knurrte Jean Morro. „Es ist schon schwer genug, auf die beiden anderen aufzupassen. Mit fünf von diesen Teufeln an Bord hätten wir keine Minute mehr Ruhe.“

Für einen Moment blieb es still.

„Na dann“, sagte Esmeraldo gleichmütig und stieß Stenmark mit dem Fuß an. „Aufstehen, ihr Hunde! Ihr dürft schwimmen!“

Der blonde Schwede preßte die Lippen zusammen und quälte sich hoch. Ben wollte ihm folgen, aber Pepe le Moco stieß ihn mit dem Lauf der Muskete zurück.

„Einer nach dem anderen“, sagte er grinsend. Und in Stenmarks Richtung: „Hopp-hopp! Ab in den Bach! Und grüß die Haie!“

Die Seewölfe hatten keine Wahl.

Einer nach dem anderen wurde über Bord befördert, und dann konnten sie nur noch der „Isabella“ nachsehen, die wie ein stolzer Schwan nach Norden rauschte.

Wenig später sichtete der Ausguck auf der Galeone Mastspitzen über der Kimm, aber das konnten die drei Männer im Wasser nicht mehr hören.

Sie ahnten nicht, daß der schwarze Segler in der Nähe war. Sie mußten versuchen, die Insel zu erreichen, und alle drei wußten nur zu genau, was ihnen damit bevorstand.

4.

„Mannomann!“ sagte Smoky andächtig.

Ferris Tucker grinste und fuhr sich leicht verlegen durch das rote Haar. Hasard schlug ihm krachend auf die Schulter. Sie hatten alle wie die Wilden gearbeitet, aber daß das Ergebnis tatsächlich wie ein Boot aussah, war in erster Linie das Verdienst des Schiffszimmermanns.

Das Kernstück des abenteuerlichen Fahrzeugs stammte von dem Wrack auf dem Riff: ein Stück des Kielschweins, an dem noch der halbe Fockmast hing. Drumherum hatten sie unter Ferris Tuckers Anleitung ein Mittelding zwischen Auslegerboot und Floß gebaut. Ein ausgesprochen stabiles Fahrzeug, nicht kentersicher natürlich, aber unsinkbar, da es keine Hohlräume gab, die volllaufen konnten. Sechs bis acht Mann hatten Platz darauf.

Wenn der Teufel es wollte, daß sie tatsächlich keine andere Möglichkeit fanden, die Insel zu verlassen, würden sie drei von diesen Konstruktionen brauchen, und deshalb waren sie vor allem mit der Segelfläche sparsam gewesen.

Sie bestand aus einem kleinen dreieckigen Lateinersegel, das sie aus der einigermaßen heilgebliebenen Fock des Wracks herausgeschnitten hatten. Beim nächsten Mal würden sie sich mit der Persenning begnügen müssen, die im Lager der Piraten zurückgeblieben war. Übermäßig seetüchtig sah die ganze Konstruktion nicht aus, aber es grenzte ohnehin an ein Wunder, daß die Seewölfe binnen kürzester Zeit geschafft hatten, was der Piratenbande während ihres ganzen Aufenthalts auf der Insel nicht gelungen war.

„Probieren wir es aus“, sagte Hasard trocken. „Zuerst nach Nordosten, damit wir sehen, ob man mit dem Ding überhaupt an den Wind gehen kann. Dann nach Nordwesten …“ Er lächelte matt. „Könnte ja sein, daß wir dem schwarzen Segler begegnen.“

 

„Du willst ihn suchen?“ fragte Carberry skeptisch.

Hasard schüttelte den Kopf. „Das dürfte ziemlich sinnlos sein. Vielleicht hilft uns der Zufall. Aber vor allem möchte ich sehen, ob das Ding hier funktioniert. Falls nicht, müssen wir uns beim nächsten Versuch etwas anderes einfallen lassen.“

„Es wird funktionieren“, erklärte Ferris Tucker überzeugt.

„Klar“, sagte Carberry ebenso überzeugt. „Wenn du Ferris einen Bugspriet in die Hand drücken und ihm befehlen würdest, er soll eine Kutsche daraus bauen, würde das Ding garantiert auch rollen. Also was ist? Hieven wir den Waschzuber ins Wasser?“

Hasard nickte nur. Der „Waschzuber“ war ziemlich schwer, aber schließlich schwamm er auf der Lagune. Der Seewolf suchte drei Mann aus, die mit an Bord gingen: Ferris Tucker, Carberry und Matt Davies. Etwas mißtrauisch kletterten sie auf die Gräting, die das Deck bildete, und der Seewolf bediente das reichlich provisorische Fall, mit dem die Gaffelrute hochgezogen wurde.

Das Boot setzte sich tatsächlich in Bewegung.

Mit dem Ruder, das eigentlich seinen Namen nicht verdiente, ließ es sich sogar einigermaßen sicher aus der Lagune steuern. Hasard peilte das Strömungsluv an, korrigierte gefühlvoll den Stand des Segels, und Minuten später schaukelte das seltsame Fahrzeug in der sanften Dünung.

„Na also“, sagte der Profos, über das ganze zernarbte Gesicht grinsend. „Läuft doch wie Samt und Seide, was, wie?“

Das war zwar übertrieben, aber Hasard fand, daß in diesem Fall etwas Optimismus nicht schaden konnte.

Siri-Tongs Mandelaugen funkelten.

Sie war in die Wanten geentert und spähte durch das Spektiv nach Südwesten – dorthin, wo die überlangen Masten der „Isabella VIII.“ jetzt deutlich zu erkennen waren. Die ranke Galeone lag über Backbordbug auf Nordkurs. Flüchtig überlegte Siri-Tong, was den Seewolf dazu bewogen haben mochte. Dann ließ sie das Spektiv sinken, enterte ab und trat neben den Wikinger ans Schanzkleid des Vordecks.

Thorfin Njal kratzte hingegeben an seinem Kupferhelm – eine Angewohnheit, die speziell Ed Carberry immer wieder in Rage bringen konnte.

„Wieso sind die auf Nordkurs?“ fragte er gedehnt. „Ich hätte eher damit gerechnet, daß sie nach Westen voraussegeln würden.“

„Das dachte ich auch.“ Siri-Tong furchte flüchtig die Stirn. „Vielleicht suchen sie uns.“

„Auf Nordkurs? Der Pazifik ist doch keine Waschschüssel.“

Die Rote Korsarin zuckte mit den Schultern. „Wir werden es erfahren, Thorfin. Spätestens in einer Stunde. Laß etwas anluven! Wir gehen auf Parallelkurs.“

Thorfin Njals Stimme dröhnte über die Decks. Siri-Tong kehrte zurück aufs Achterkastell und warf dem Rudergänger einen prüfenden Blick zu, während „Eiliger Drache“ um eine Kleinigkeit nach Backbord herumschwang. Der schwarze Segler lief jetzt ebenfalls mit halbem Wind, und stetig wurden die beiden Schiffe aufeinander zugetrieben.

Die Stimmung an Bord des „Eiligen Drachen“ war ausgezeichnet.

Kein Mensch ahnte etwas Böses. Man würde mit der „Isabella“ zusammentreffen, es würde eine Wiedersehensfeier geben, Rum für alle, und dann konnte es endlich weitergehen, dem fernen Ziel entgegen. Gespannt starrten Siri-Tongs Männer zu der ranken Galeone hinüber. Schon ließen sich Einzelheiten erkennen, hastige Bewegungen an Bord. Selbst der Wikinger strahlte jetzt über sein ganzes bärtiges, wettergegerbtes Gesicht. Er hatte aufgehört, sich über den Kurs der Seewölfe den Kopf zu zerbrechen.

Siri-Tong stand am Steuerbord-Schanzkleid des Achterkastells.

Ihr Blick suchte Hasard. Noch hatte sie ihn nicht entdecken können. Mit einem weichen, ungemein weiblichen Lächeln hob sie von neuem das Spektiv, aber sie kam nicht mehr dazu, einen Blick hindurchzuwerfen.

Denn genau das war der Moment, in dem drüben auf der „Isabella“ die Stückpforten hochgingen und die schwarzen Mündungen der Siebzehnpfünder-Culverinen wie drohende Augen über das Wasser starrten.

Ben Brighton, Stenmark und Big Old Shane wußten genau, daß sie um ihr Leben schwammen.

Die erste häßliche Dreiecksflosse hatten sie vor einer halben Stunde gesehen. Der Anblick ließ sie versteinern, atemlos und fast ohne Bewegung trieben sie in der See, bis der Hai vorbeizog. Stenmark hielt das Messer zwischen den Zähnen, das in seinen längst auf dem Meeresgrund verschwundenen Stiefeln verborgen gewesen war und das die Piraten nicht entdeckt hatten. Es war die einzige Waffe, über die die drei Männer verfügten, und sie wußten, daß sie ihnen im Notfall nicht viel nutzen würde.

„Da!“ stieß Ben Brighton hervor. „Links voraus!“

„Hölle!“ murmelte Big Old Shane, der sorgfältig darauf achten mußte, nicht unterzuschneiden, damit kein Blut aus der Platzwunde an seinem Schädel ins Wasser geriet.

Schwarz und unheilvoll schnitt die dreieckige Flosse vor ihnen durch die See.

Für einen Augenblick verschwand sie und tauchte dann in bedrohlicher Nähe wieder auf. Die drei Männer bewegten sich so wenig wie möglich und hielten sich lediglich mit behutsamen Armbewegungen an der Oberfläche. Sie wußten, daß Geschrei und Gezappel Haie nicht abschreckten, sondern anlockten – und daß es außer einem Schuß in den Rachen nur eine Art gab, sie mit Sicherheit zu töten: indem man ihnen die Kehle durchschnitt.

Stenmark nahm das Messer in die Rechte.

Sein Gesicht hatte sich gespannt. Aus schmalen Augen beobachtete er den Hai, der sich jetzt als unheimlicher schwarzer Schatten unter dem Wasserspiegel abhob. Kein Zweifel, er hatte die Männer entdeckt und witterte Beute. Pfeilgerade schoß er heran, lautlos und geschmeidig – und dann war die Dreiecksflosse plötzlich verschwunden.

Stenmark holte Luft und tauchte. Zwei, drei Yards tief. Jetzt schwamm er tiefer als der Hai, der sich sofort nach der jähen Bewegung richtete. Stenmarks Muskeln verkrampften sich, als das Vieh auf ihn zuschoß wie eine schwarze Lanze, die ihn durchbohren wollte. Erst im letzten Moment vollführte der geschmeidige Leib eine Wendung, drehte ab und begann, die Beute zu umkreisen.

Stenmark spannte die Muskeln, dann tauchte er blitzartig tiefer.

Schräg von unten schoß er auf den Hai zu. Mit voller Wucht stieß er die Faust mit dem Messer nach oben und spürte, wie sich die Klinge tief in die empfindliche Kehle des Hais bohrte. Der schwarze Leib bäumte sich auf, wild peitschte die Schwanzflosse. Zwei-, dreimal riß Stenmark mit verzweifelter Kraft die Klinge hin und her, dann warf er sich herum und schwamm wie wahnsinnig, während hinter ihm eine Wolke von Blut die schimmernde grüne See färbte.

Als Stenmarks Kopf die Wasserfläche durchstieß, war der Todeskampf des Hais vorbei.

Ben und Big Old Shane atmeten erleichtert auf. Jedenfalls für den Augenblick, denn im Grunde wußten sie, daß sie zur Erleichterung keinen Anlaß hatten.

„Wir müssen hier weg“, sagte Ben gepreßt. „Das verdammte Blut wird ganze Rudel von Haien anlocken und …“

„Dem Himmel sei Dank!“ keuchte Stenmark im selben Augenblick mühsam.

„Dem Himmel … Bist du übergeschnappt? Hat dir der verdammte Hai eins mit der Flunke auf den Kopf gegeben?“

Stenmark grinste. Er war völlig außer Atem und beschränkte sich darauf, mit der Hand nach Süden zu zeigen. Ben Brighton und Big Old Shane warfen sich im Wasser herum, und ihre Augen weiteten sich ungläubig.

„Ein Boot!“ Bens Stimme klang heiser. „Verdammt, das ist doch …“

„Hasard!“ brüllte Shane mit voller Lungenkraft.

Und dann begannen die drei Männer aus Leibeskräften zu schwimmen.

Minuten später wurden sie von kräftigen Fäusten an Bord des abenteuerlichen Fahrzeugs gezogen.

Gerade noch rechtzeitig.

Denn ein paar Yards von ihnen entfernt schossen von allen Seiten pfeilschnelle schwarze Leiber auf die verschwimmende Blutwolke zu. Das Wasser verwandelte sich in eine brodelnde, aufgepeitschte Hölle.

5.

Das Gesicht der Roten Korsarin schien zu Stein zu erstarren.

Ungläubig blickte sie auf die geöffneten Stückpforten der „Isabella“, auf die drohenden Geschützrohre und auf die Männer an den Drehbassen. Siri-Tong begriff nicht. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und genauso fassungslos wie Thorfin Njal, wie Juan, der Boston-Mann und all die anderen. Die Rote Korsarin wußte nur eins: daß hier ihr Schiff innerhalb der nächsten Minuten in einen furchtbaren Feuerhagel hineinlaufen würde und sie sofort etwas tun mußte.

Mit einer wilden Bewegung warf sie den Kopf zurück. Ihre schwarzen Mandelaugen glänzten wie polierte Onyxe.

„Abfallen!“ peitschte ihre Stimme. „An die Brassen! Auf Ruder! Klar bei Musketen! Konzentriertes Feuer auf die Geschützführer der Bugdrehbassen!“

„Weg mit dem Besan!“ brüllte Thorfin Njal. „Vierkant brassen die Großrahen!“

Auf den Decks war es schlagartig lebendig geworden. Ohne achteres Segel fiel „Eiliger Drache“ rasch ab. Siri-Tong preßte die Lippen zusammen, als sie den Fremden auf dem Achterkastell der „Isabella“ sah und und die erschrokkene Geste, mit der er das Manöver des schwarzen Seglers quittierte. Für einen Moment lagen die beiden Schiffe genau auf Kollisionskurs, und selbst aus der Entfernung war das jähe Geschrei zu hören, mit dem der Unbekannte dort drüben anluven ließ.

Männer mit Musketen stürzten zum Backbord-Schanzkleid des „Eiligen Drachen“.

Befehle gellten, Juan und der Boston-Mann sorgten in fliegender Hast dafür, daß wenigstens die Backbord-Geschütze bemannt wurden. Die Männer schufteten in wilder Hektik, und dennoch schien sich die Zeit endlos zu dehnen.

Der Wind drückte den schwarzen Segler jetzt schneller herum.

Die „Isabella“ luvte an, um die drohende Kollision zu vermeiden. Trotzdem stand die Situation auf des Messers Schneide, aber Siri-Tong wußte glasklar, daß sie keine Wahl gehabt hatte.

Nicht mit einem Schiff, das nicht gefechtsklar war, völlig überrascht von dem Angriff, dem Gegner fast hilflos ausgeliefert. An der Steuerbord-Breitseite der „Isabella“ vorbeizulaufen, hätte das Ende bedeutet. Hart an ihrem Bug vorbeizuschneiden, blieb riskant genug, und das konzentrierte Feuer auf die Bugdrehbassen war die einzige Chance, ohne Treffer davonzukommen.

Eine dünne Chance!

Siri-Tong wußte es. Sie hielt buchstäblich den Atem an – und dann begingen die Piraten auf der „Isabella“ den entscheidenden Fehler.

Der Rudergänger paßte nicht auf.

Wahrscheinlich saß ihm die Angst vor einem Zusammenstoß mit dem unheimlichen schwarzen Schiff im Nacken. Jedenfalls schwang die „Isabella“ plötzlich schneller herum, und ihr Bug drehte an „Eiliger Drache“ vorbei, ohne daß die Männer an den Drehbassen Gelegenheit zum Schuß hatten.

Die Backbordkanonen der Galeone waren zwar feuerbereit, aber die Geschützführer hatten nicht damit gerechnet, so schnell feuern zu müssen.

Die „Isabella“ war in den Wind geschossen, und der schwarze Segler lief mit vierkant gebraßten Rahen aus dem Schußbereich. Sekunden später krachte die Breitseite. Aber von den acht siebzehnpfündigen Eisenkugeln klatschten sieben ins Wasser, und nur eine einzige riß ein Loch in das aufgegeite dreieckige Lateinersegel am Besan.

Immerhin war der Bretone geistesgegenwärtig genug, um sofort den Feuerbefehl für die achteren Drehbassen zu geben.

Pfeifend und orgelnd schlugen die Geschosse ins Rigg des schwarzen Seglers. „Eiliger Drache“ lag platt vor dem Wind und rauschte davon. Schon die nächsten Drehbassen-Schüsse lagen zu kurz und konnten nur noch das Wasser aufwühlen, aber das änderte nichts daran, daß die beiden ersten schon genug Schaden angerichtet hatten.

Siri-Tong hatte durch ihr riskantes Manöver verhindert, daß sie gleich im ersten Ansturm in Fetzen geschossen wurden.

Jetzt galt es, das Schiff gefechtsklar zu machen, trotz zerraufter Takelage schnell auf Distanz zu gehen und Zeit zu gewinnen. Zeit brauchten sie am dringendsten. Und Zeit würde ihnen ihr Gegner nicht lassen, wenn es sich nicht gerade um einen blutigen Anfänger handelte. Siri-Tong hatte genug Erfahrung, um die Lage einschätzen zu können. Als der Wikinger neben ihr auftauchte, wirkte ihr schmales, rassiges Gesicht wie aus Marmor gemeißelt.

„Dreck!“ fluchte Thorfin Njal. „Wir sind im Nachteil. Wenn es wenigstens nicht die ‚Isabella‘ wäre!“

Die Rote Korsarin nickte mit zusammengepreßten Lippen.

 

Ihr Blick hing an dem Schiff – dem feindlichen Schiff, obwohl ihr das immer noch nicht recht in den Kopf wollte. Hätte es sich nicht um die „Isabella“ gehandelt, wäre die Sache einfach gewesen. Der schwarze Segler hatte Brandsätze an Bord, kleine Raketen, die weiter flogen und genauer trafen als Kanonenkugeln und die chinesisches Feuer regnen ließen, unlöschbares Feuer. Ein Schiff, das in dieses Feuer geriet, war rettungslos verloren. Deshalb würde Siri-Tong die Raketen nicht einsetzen. Denn weder sie noch der Wikinger wollten die „Isabella“ in Brand schießen.

Die Rote Korsarin warf das lange Haar auf den Rücken.

„Klar zum Halsen!“ befahl sie. „An die Geschütze!“ Und mit einem tiefen

Atemzug: „Wir versuchen, die Kerle von Steuerbord zu packen, den Rudergänger wegzuputzen und zu entern.“

Für Dan und Batuti erfolgte das Rumpeln, mit dem die Geschütze der „Isabella“ ausgefahren wurden, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Sie hockten immer noch gefesselt in der Vorpiek. Seit das Schott wieder fest dichtgerammt worden war, hatten sie nur das Knarren der Rahen und Blöcke gehört und das Klatschen nackter Füße auf den Decksplanken. Dann wurden die Bewegungen an Deck plötzlich schneller, aufgeregter, und das Getrampel verriet, daß irgend etwas Ungewöhnliches passiert war. Die beiden Gefangenen richteten sich unwillkürlich auf – und kippten prompt auf die Gräting, als die Galeone urplötzlich anluvte.

Eine Breitseite donnerte.

Höchstens zwei Sekunden später hämmerten die achteren Drehbassen. Das taten sie bestimmt nicht, weil Jean Morro die Funktionstüchtigkeit der Geschütze prüfen wollte, denn zu diesem Zweck hätte er weder überhastet anluven noch das Schiff in den Wind schießen lassen müssen. Die Ereignisse ließen nur einen Schluß zu: Die „Isabella“ war in ein Seegefecht verwickelt.

„Mein lieber Mann“, flüsterte Dan ergriffen, während er sich aufrappelte.

Batuti lehnte mit der Schulter an einem der Süßwasser-Fässer. Im Dunkeln schimmerte das Weiß seiner Augäpfel.

„Verdammtes Don?“ fragte er heiser.

„Woher soll ich das wissen?“ Dan stockte, dann kniff er seine blauen Augen zusammen und sog scharf die Luft durch die Zähne. „Hölle! Das könnte der schwarze Segler sein. Ha! Die werden unser Schiff zu Kleinholz verarbeiten!“

„Kleinholz aus schönes ‚Isabella‘ von Seewolf?“ fragte Batuti empört.

Dan schluckte. Verdammt, daran hatte er nicht gedacht. Natürlich würde die Rote Korsarin Hasards Schiff nicht in Fetzen schießen. Und überhaupt: Woher sollten Siri-Tong und der Wikinger wissen, daß eine Bande von lausigen Piraten den Seewölfen das Schiff geklaut hatte? Thorfin und die Korsarin mußten völlig ahnungslos gewesen sein. Wahrscheinlich hatte die ganze Crew gejubelt, als die „Isabella“ gesichtet wurde. Und wenn sie irgend etwas veranlaßt hatten, dann waren allenfalls die Rumflaschen klar, aber ganz bestimmt nicht die Geschütze.

„Himmel, Mond und Haifischkotze!“ murmelte Dan. „Sie sind in die Falle gelaufen! O verdammt! Sie haben garantiert die volle Breitseite erwischt und …“

„Weil nix Ahnung, daß verdammtes Piraten auf ‚Isabella‘?“ fragte Batuti.

„Genau, Mann! Ich werde verrückt! Dieser Mistbock hat den schwarzen Segler in Trümmer gelegt!“

„Nix Trümmer“, sagte der schwarze Herkules mit schlagender Logik. „Wenn Trümmer, dann Krach, Bumm, Krrch, Rack! Und neue Breitseite, nix Drehbasse.“

Dan starrte seinen Freund an, schluckte zweimal und nickte.

„Ja, verdammt! Das stimmt!“ Und nach einer Pause: „Jetzt hab ich’s! Der ‚Drache‘ hat Lunte gerochen und ist im letzten Moment an unserem Bug vorbeigeschert. Vierkant platt vor dem Wind wahrscheinlich! Und weil der Bretone ein hirnrissiger Affe ist, hat er sich verschätzt und anluven lassen. Und dann ist dem Rudergänger der Kahn in den Wind geschossen! Ha!“

Dan grinste triumphierend. Batuti grinste auch, wie das Blitzen seines schneeweißen Raubtiergebisses bewies. Er lauschte und ließ die Augen rollen.

„Schwarzer Segler zurück“, prophezeite er. „Gleich Krach, Bumm, Krrch und …“

Weiter gelangte er nicht.

Das Donnern einer Breitseite riß ihm die Worte von den Lippen, und im nächsten Augenblick schien sich die „Isabella“ in den sprichwörtlichen Korken unter dem Wasserfall zu verwandeln.

Inzwischen war die Galeone abgefallen und glitt mit halbem Wind nach Norden. Das nächste schmetternde Krachen rührte eindeutig von den Backbord-Culverinen der „Isabella“ her. Nur sehr fern waren dröhnende Befehle zu hören. Wieder orgelte eine todbringende Ladung heran, wieder wurde die Galeone von Treffern durchgerüttelt. Diesmal krängte sie schwer nach Steuerbord, und Dan und Batuti wurden quer durch die Vorpiek gewirbelt.

Sie fluchten um die Wette.

Noch in ihre Flüche hinein begannen die Bugdrehbassen der „Isabella“ zu hämmern, während das Schiff weiter abfiel. Dan O’Flynn zappelte wie ein Fisch auf der Gräting und versuchte dabei zu rekonstruieren, was passiert war.

Der schwarze Segler hatte sich vermutlich erst mal außer Reichweite gebracht, in sicherer Entfernung gehalst, und war dann von achtern aufgesegelt – um längsseits zu gehen und zu entern, klar. Aber die Siebzehnpfünder der „Isabella“ waren mit ihren überlangen Rohren, ihrer großen Reichweite und Treffsicherheit nicht zu verachten. Und Siri-Tong wollte die Galeone in einem Zustand haben, in dem sie noch zu mehr taugte als zum Feuerholz. Mit einem einzigen Brandsatz hätte die Rote Korsarin das Gefecht entscheiden können. Doch genau das durfte nicht passieren.

Dabei dachte Dan einzig und allein an die „Isabella“, dieses Prachtstück von Schiff. Denn daß er und Batuti ebenfalls in den Flammen umkommen würden, hatte er im Augenblick völlig vergessen.

„Hölle und Leibhaftiges!“ fluchte der riesige Gambia-Neger in seinem schauderhaften Englisch. „Mist, elendig verdammichtes! Gleich großes Loch in Bauch von altes ‚Isabella‘. Batuti schneidet Streifen aus Haut von Wikinger, wenn …“

„Quatsch“, unterbrach ihn Dan. „Wenn sie gewinnen, ist der Bretone im Eimer, aber sie können nicht gewinnen, wenn sie Salut schießen. Wir fallen ab, verdammt! Himmel, wenn der Scheiß-Bretone jetzt das Heck des ‚Drachen‘ schneidet …“

Er sprach nicht weiter.

Das war auch nicht nötig. Batuti wußte selbst, daß der schwarze Segler keine Drehbassen führte und bei einem Angriff über Heck oder Bug ziemlich hilflos war, solange er nicht die Bronzegestelle zum Abschießen der Brandsätze einsetzte. Aber Siri-Tong verstand ihr Handwerk. Wenn die „Isabella“ abfiel, würde der schwarze Segler anluven. Und eine volle Breitseite, solange sie nicht die Wasserlinie traf, war immer noch besser als das chinesische Feuer.

Die nächsten Minuten schienen sich für die beiden gefesselten Männer in der Vorpiek zur Ewigkeit zu dehnen.

Wieder und wieder krachten die Breitseiten. Dan zerbiß sich die Lippen. Er glaubte jedes einzelne Manöver vor sich zu sehen. Dem Bretonen war am Anfang ein Fehler unterlaufen, als er anluven ließ und auswich, weil er die Gefahr des Zusammenstoßes überschätzte. Einen zweiten Fehler beging er nicht. Er wußte, daß er sich auf keinen Enterkampf einlassen durfte, weil die Besatzung des schwarzen Viermasters seiner Crew zahlenmäßig weit überlegen war.

Immer wieder wich er geschickt aus und gab dem Gegner keine Gelegenheit, an ihn heranzukommen. Einmal dröhnte ein vielstimmiger Triumphschrei über die Decks der „Isabella“, den selbst die Gefangenen in der Vorpiek hörten. Noch einmal donnerte eine Breitseite, dann fiel die Galeone ganz plötzlich ab und legte sich vor den Wind.

Kein Zweifel, die „Isabella“ floh.

Hätte sie den schwarzen Segler versenkt, wäre sie wieder auf Nordkurs gegangen. Daß sie mit achterlichem Wind nach Westen segelte, konnte nur bedeuten, daß sich die Piraten so schnell wie möglich in Sicherheit bringen wollten. Und das hieß, daß der „Eilige Drache“ zwar nicht mehr die Verfolgung aufnehmen konnte, aber auch nicht in einem Zustand war, in dem er den Piraten als leichte Beute erschienen wäre.