Seewölfe Paket 6

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Barbusse schnaufte unschlüssig: er hatte Jacahiros Reaktion gesehen und teilte offenbar dessen instinktives Unbehagen. Bei Pepe le Moco dagegen überwog die Gier nach Gold alles andere. Er bückte sich hastig, schob die rechte Faust durch den Metallring und zerrte mit aller Kraft daran, ohne erst auf Barbusse zu warten.

Ein leises Surren erklang.

Überraschend leicht schwang die Falltür hoch, irgendeinem geheimnisvollen Mechanismus folgend. Pepe le Moco, der sein ganzes Gewicht in den Zug gelegt hatte, kostete es Mühe, die Balance zu halten und nicht zu stürzen.

Eine schwarze Öffnung gähnte vor den Füßen der Männer.

Grabeskälte wehte herauf. Nichts war zu sehen außer den ersten drei, vier Stufen einer steinernen Wendeltreppe. Jean Morro starrte einen Moment hinunter, dann hob er den Kopf.

„Fackeln!“ befahl er rauh.

Pechfackeln wurden entzündet.

Der Bretone preßte die Lippen zusammen, als er sich eine davon schnappte, um voranzugehen. Seine Nackenmuskeln spannten sich, während er den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzte. Jacahiro, der Maya, folgte ihm schweigend. Dan O’Flynn erhielt einen Stoß in den Rücken, der ihm sagte, daß man ihm die Ehre zugedacht habe, der Vorhut anzugehören.

Batuti wurde die gleiche Ehre zuteil.

Esmeraldo, die Burgunder, selbst der gierige Pepe le Moco hielten es offenbar für gesundheitsfördernd, zunächst einmal bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Ziemlich zögernd stiegen sie hinter den Gefangenen die enge Wendeltreppe hinunter. Der Rest der Bande folgte ihnen, und Dan O’Flynn fluchte in sich hinein, weil es seiner Meinung nach wesentlich klüger gewesen wäre, zumindest eine Wache in dem Tempel zurückzulassen.

„Hirnrissige Hammelherde“, murmelte Batuti, der offenbar ähnliche Gedanken hegte.

Dan nickte grimmig. Eingedenk der Tatsache, daß sie mit den Piraten zwar nicht im selben Boot saßen, aber sehr leicht in dieselbe Falle geraten konnten, entschloß er sich, den Kerlen ausnahmsweise ein bißchen auf die Sprünge zu helfen.

„Jean Morro!“ zischte er. „He, du bretonischer Bastard! Hast du dir schon überlegt, was du tust, wenn uns ein freundlicher Maya-Priester die verdammte Falltür über den Köpfen zuschlägt?“

Der Bretone fuhr herum.

In seinen grauen, harten Augen glänzte das Licht der Fackel. Einen Moment starrte er den blonden O’Flynn an, dann lächelte er schmal.

„Du hast recht, Kleiner. Barbusse, anderer Burgunder – ihr geht zurück und paßt oben auf.“

„Aye, aye, Sir“, sagten Barbusse und der andere Burgunder einstimmig, aber wenig begeistert.

„Der Teufel ist dein Kleiner!“ fauchte Dan aufgebracht, doch da hatte sich der Bretone schon wieder abgewandt und stieg weiter die Stufen hinunter.

Die Treppe schien sich endlos um die steinerne Spindel zu winden, bevor sie schließlich abrupt aufhörte.

Ein Gang begann an ihrem Fußende, ein breiter, gewölbter Gang, in dem die modrige Kühle einer Gruft herrschte.

Langsam gingen die Männer weiter, folgten einer scharfen Biegung und blieben vor einer schweren eisenbeschlagenen Tür stehen.

Es war eine versiegelte Tür, wie Dan O’Flynn feststellte. Sieben Siegel, die aus irgendeinem formbaren Karmesinfarbenen Material bestanden, in das jeweils ein bestimmtes geheimnisvoll verschlungenes Symbol eingeprägt war. Jacahiro trat einen halben Schritt zurück, und wieder berührte er mit den Fingerspitzen seine Stirn in einer halb unbewußten Geste der Ehrfurcht.

„Itzamnás Zeichen“, murmelte er. „Das Zeichen des Himmelsgottes.“

„Und was bedeutet das?“ fragte Jean Morro nüchtern.

Jacahiros bronzenes Gesicht sah plötzlich fast grau aus. Aber vielleicht lag das auch nur an dem geisterhaft huschenden Licht der Pechfackeln.

„Daß der Schatz den Göttern geweiht ist“, sagte der Maya leise. „Das Gold ist tabu! Wer seine Hände danach ausstreckt, den wird Itzamnás Fluch treffen.“

Für einen Moment blieb es still.

Der einäugige Esmeraldo atmete so tief, daß es fast wie ein Stöhnen klang. Ein paar Männer bekreuzigten sich. Batuti murmelte etwas in seiner Heimatsprache. Dan O’Flynn starrte mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier den Bretonen an, der sich mit einer zumindest äußerlich gelassenen Geste das graue Haar aus der Stirn strich.

„Und was heißt das genau?“ fragte er.

„Ich weiß nicht“, murmelte Jacahiro.

„Gut! Ich bin ein Hugenotte, genau wie die meisten von uns. Das heißt, daß wir nicht an diesen komischen Itz-Dingsda glauben und uns folglich auch den Teufel um seinen Fluch kümmern.“ Er hob rasch die Hand, als er das Aufblitzen in den Augen des Maya erkannte. „Niemand will deine Götter beleidigen, Jacahiro. Aber wir haben für diesen verdammten Schatz zu viel Blut und Schweiß vergossen, um jetzt aufzugeben.“

Jacahiro antwortete nicht. Der Bretone wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung der Tür zu, hob die Hand und brach eins nach dem anderen der sieben Siegel. Danach zerrte er den mächtigen eisernen Riegel zurück und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Knarrend begann einer der schweren Flügel zurückzuschwingen.

Der Widerschein der Fackel fiel in den Raum dahinter, fahler, tanzender Widerschein, der sich in leuchtendem Goldglanz brach, im kalten Schimmer von Silber, im funkelnden, sprühenden Feuer unzähliger, vielfarbiger Edelsteine.

Für ein paar endlose Sekunden war es so still, daß man eine Stecknadel fallen gehört hätte.

Die Männer standen und starrten. Ein Gewölbe lag vor ihnen – ein ganzes Gewölbe voll von den erlesensten Kostbarkeiten. Statuen standen an den Wänden gleich stummen Wächtern, Göttergestalten, überlebensgroße Figuren aus purem Gold, deren Edelsteinaugen die Eindringlinge kalt und ausdruckslos zu beobachten schienen.

Das Abbild Itzamnás, des obersten Himmelsgottes, thronte an der Stirnwand des Gewölbes. Pures Gold war die Gestalt, massives Silber der Sokkel, auf dem sie sich erhob. Zu ihren Füßen glitzerte und schimmerte es, als seien Perlen über die Steinquader verstreut worden – und erst beim zweiten Blick begriffen die Männer, daß es nicht nur so aussah, sondern daß es tatsächlich Perlen waren.

Jean Morros Rechte krampfte sich so hart um den Griff der Fackel, daß die Knöchel weiß und spitz hervortraten.

Irgendein Impuls ließ den Bretonen einen halben Schritt zurückweichen. Der gleiche Impuls, der seine Kumpane in Schweigen bannte, der die Stille andauern ließ, der Dan O’Flynn einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Für einen kurzen Augenblick fühlten selbst die hartgesottenen Piraten, daß sie in eine verbotene Sphäre eingedrungen waren und hier an etwas rührten, an das Uneingeweihte nicht rühren durften.

Es war Pepe le Moco, der das Schweigen brach. Seine Augen flakkerten fiebrig und fast irre.

„Der Schatz!“ sagte er heiser. Und dann schrie er, schrie mit überkippender Stimme, während sich die Worte in dem Gewölbe zu hundertfältigem Echo brachen: „Der Schatz! Der Schatz! Das Maya-Gold! Wir haben es gefunden!“

5.

Es war Diego Valeras, der im Großmars des schwarzen Seglers die „Isabella“ sichtete.

Die Galeone lag in einer der Buchten mit den schmalen, fast unsichtbaren Einfahrten, die typisch für diesen Küstenabschnitt waren. Ein kleines Schiff wäre dort völlig unsichtbar gewesen, aber die überlangen Masten der „Isabella“ ragten über den grünen Dickichtgürtel der Landzunge hinaus.

Diego Valeras meldete seine Entdeckung zum Achterkastell, und wenig später signalisierte der Stör aufgeregt zu der im Kielwasser des „Eiligen Drachen“ segelnden Karavelle hinüber.

Beide Schiffe fielen zunächst einmal ab und hielten etwas nach Westen, um von den Piraten nach Möglichkeit nicht sofort entdeckt zu werden.

Wenig später drehten sie bei, und Hasard, Ben Brighton, Ed Carberry und Big Old Shane pullten von der „Santa Monica“ zu dem schwarzen Segler hinüber.

Im Achterkastell des „Eiligen Drachen“ fanden sie sich mit Siri-Tong, dem Wikinger und dem Boston-Mann zu einer kurzen Lagebesprechung zusammen.

Viel zu besprechen gab es allerdings nicht. Denn was sie unternehmen mußten, ergab sich ohnehin aus der besonderen Lage.

Dan O’Flynn und Batuti befanden sich als Gefangene an Bord der „Isabella“.

Davon jedenfalls mußten die Seewölfe und die Crew des schwarzen Seglers ausgehen, und deshalb lief ihre Taktik vor allem darauf hinaus, zu verhindern, daß Jean Morros Halsabschneider ihre Gefangenen als Geiseln benutzten, um die Gegner zu erpressen.

Ganz davon abgesehen, daß Philip Hasard Killigrew seine „Isabella“ nicht als Trümmerhaufen wiederhaben wollte.

Es war sinnlos, die Bucht offen anzulaufen. Das konnte allenfalls als Ablenkungsmanöver dienen – und genau darauf basierte der Plan des Seewolfs.

In knappen Worten erläuterte er, was er vorhatte.

Siri-Tong hörte mit funkelnden Augen zu. Der Wikinger atmete tief und ließ krachend seine mächtige Faust auf den Tisch der Kapitänskammer fallen.

„Bei Odins Raben!“ grollte er tief in der Kehle. „Ich bin dabei! Ich freue mich schon darauf, es diesen Mistkerlen zu besorgen! Das wird endlich mal wieder ein Spaß, verdammt noch mal!“

„Hoffentlich!“ sagte Ed Carberry düster.

Der eiserne Profos brauchte Arbeit für seine Fäuste, wenn er sich wohlfühlen wollte. Und in letzter Zeit war es für seinen Geschmack zu oft passiert, daß sich der erhoffte Spaß als Kinderspiel herausgestellt hatte, das eher für Sonntagsschüler taugte denn für eine Bande von Teufelskerlen wie die Seewölfe. Edwin Carberry hatte richtige Sehnsucht nach einem handfesten Kampf, bei dem die Fetzen flogen. Es mußte wohl eine Art sechster Sinn sein, der ihm sagte, daß dies vorerst noch nicht geschehen würde.

 

Jedenfalls schnitt er ein ziemlich zweifelndes Gesicht.

Hätte er ahnen können, was in Wahrheit auf ihn zukam, wäre seine Miene wohl noch viel grimmiger gewesen.

Die Männer, die Edwin Carberry so liebend gern in ihre Einzelteile zerlegt hätte, befanden sich um diese Zeit in einem wahren Freudentaumel.

Das Gefühl des Fremden, Gefährlichen, der ungreifbaren Drohung – das alles war beim Anblick des unermeßlichen Schatzes dahingeschmolzen wie Eis an der Sonne. Was blieb, war purer Triumph, gierige Euphorie, ein Rausch, der in seiner lautlosen, gespenstischen Intensität an Wahnsinn grenzte. Die Männer schrien nicht, jubelten nicht, redeten überhaupt sehr wenig, und wenn, dann im Flüsterton. Aber sie stolperten mit fiebrig glühenden Augen von einer Ecke des Raums zur anderen, sie taumelten fast, berührten das Gold, das Silber, die funkelnden Edelsteine und gebärdeten sich wie Kranke im Fieberwahn, die Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderzuhalten vermochten.

Außer Dan und Batuti gab es nur zwei, die der Taumel nicht angesteckt hatte.

Jacahiro, der Maya, stand reglos und wie versunken am Fuß der Wendeltreppe. Sein bronzenes Gesicht war unbewegt, über seine Augen schien sich der Ausdruck dunklen Wissens wie ein Vorhang gesenkt zu haben. Für den Maya gab es keine Zweifel: dies war der Tempelschatz Itzamnás, und der Fluch der Gottheit würde die Frevler treffen. Jacahiro hatte keinen Anteil mehr an dem triumphierenden Rausch, der seine Leute mitriß. Der Maya stand stumm daneben, gleichsam in sich selbst und sein eigenes mythisches Drama versponnen, und etwas von der dunklen Melancholie in seinen Augen schien sich auch Jean Morro mitzuteilen.

Der Bretone stand ebenfalls stumm da, gespannt, konzentriert, als lausche er mit jeder Faser seiner Nerven.

Seine grauen Augen hatten sich verhärtet. Er sah sich um, prüfte, überlegte und versuchte offenbar, die Situation in den Griff zu kriegen. Schließlich straffte er sich, atmete tief durch, und als er sprach, war seine Stimme von schneidender Schärfe.

„Hört endlich auf, verrückt zu spielen! Wühlen könnt ihr in dem Gold, wenn wir es an Bord haben. Also reißt euch zusammen! Ich habe keine Lust, länger als unbedingt nötig in diesem verdammten Loch zu bleiben. Wir werden jetzt zunächst einmal alles nach draußen schaffen, was wir tragen können. Was wir wirklich tragen können, wohlgemerkt! Wir müssen mit dem Zeug nämlich eine ziemlich lange Strecke zurücklegen. „Esmeraldo?“

Der Einäugige wandte sich um.

Er hatte an einer riesigen goldenen Statue gezerrt, die auch ein Dutzend Männer nicht hätten bewegen können – jetzt zog er die Finger zurück und duckte sich unter Morros Worten wie unter Peitschenhieben. Auch Pepe le Moco, Jacko und der Burgunder wandten sich um. Jean Morro stand breitbeinig mitten in dem Gewölbe, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und seine schneidende, befehlsgewohnte Stimme brachte es fertig, seine Leute aus einer Rotte von Halbirren wieder in eine Crew einigermaßen vernünftiger, zurechnungsfähiger Männer zu verwandeln.

Binnen Minuten hatte er es geschafft, so etwas wie eine vernünftige, zweckmäßige Organisation auf die Beine zu stellen.

Der Bretone hatte Format, stellte Dan O’Flynn fest. Er war ein nüchterner Mann, der sich nicht das Gehirn vernebeln ließ, auch nicht vom Anblick dieser unermeßlichen Reichtümer. Wenn das Gold ihn blendete, dann wußte Jean Morro das jedenfalls mit eiskaltem Verstand und einer gehörigen Portion Augenmaß auszugleichen.

Er hielt sich nicht erst mit dem Versuch auf, eine der überlebensgroßen goldenen Statuen von ihrem Platz zu rücken. Wie Peitschenhiebe fielen seine Befehle. Knappe, eiskalte Kommandos, die keinen Widerspruch duldeten. Mit eingezogenen Köpfen gingen die Piraten daran, die verstreuten Perlen einzusammeln. Edelsteine auszubrechen, kleinere Statuen von ihren Sockeln zu heben, und schließlich begannen die ersten Männer, keuchend unter der Last wieder die endlose Wendeltreppe emporzuklimmen.

Dan und Batuti schleppten gemeinsam ein goldenes Abbild der gefiederten Schlange, dessen Gewicht sie gerade noch tragen konnten.

Vor ihnen keuchte Jacahiro unter der Last einer vogelähnlichen Statue, deren Gefieder aus farbigen Edelsteinen geschnitten war.

Der Maya hatte sich schweigend Jean Morros Befehlen gefügt. Ein Schweigen, in dem nach Dan O’Flynns Gefühl pure Resignation lag. Jacahiro hatte sich in sein Schicksal ergeben, wie auch immer dieses Schicksal seiner Meinung nach aussehen mochte. Dan konnte nicht verhindern, daß das dunkle, wie zu Stein erstarrte Gesicht des Maya ihm einen gelinden Schauer über den Rücken jagte.

Batuti schien es ähnlich zu gehen. Jedenfalls preßte der schwarze Herkules die Lippen zusammen und sagte kein Wort. Beide waren sie froh, als sie aus dem düsteren Tempel wieder ins Freie traten, und auch Jean Morros Piraten wirkten sichtlich erleichtert.

Der Bretone hatte angeordnet, alles, was transportiert wurde, zunächst einmal über die endlose Treppe bis an den Fuß des Tempels zu schaffen.

Ein vernünftiger Befehl. Es war sinnlos, blindlings Schätze ans Tageslicht zu schaffen, ohne an die unumgängliche Realität des Rückmarsches zu denken. Um all die Kostbarkeiten aus dem Gewölbe des Tempels an Bord der „Isabella“ zu bringen, hätten die Männer eine Woche gebraucht. Und so viel Zeit hatten sie nicht. Jacahiro wußte es, Dan und Batuti ahnten es nur – und Jean Morro mußte es entweder ebenfalls ahnen oder einfach aufgrund kühler, nüchterner Überlegung annehmen.

Breitbeinig blieb er auf einem der mächtigen Steinquader am Fuß des Tempels stehen und ließ den Blick über seine erschöpften, von fiebriger Gier erfüllten Kumpane gleiten.

„Hört zu!“ sagte er ruhig. „Hört genau zu. Ich werde nämlich jeden erbarmungslos über den Haufen schießen, der später quertreibt. Wir haben den verdammten Schatz gefunden. Aber wir werden darüber nicht den Verstand verlieren. Ich bin genauso wild auf das Gold wie ihr, aber ich habe keine Lust, irgendwo im Urwald neben einem Haufen Gold zu krepieren. Wir werden das, was wir haben, jetzt zurückbringen und an Bord schaffen. Danach erkunden wir erst einmal die Gegend, damit wir nicht in eine Falle laufen. Und dann holen wir Stück um Stück den Rest. Ohne verrückt zu spielen oder uns zu übernehmen! Wir haben nämlich Zeit. Wir können auf Nummer Sicher gehen, und genau das ist es, was wir tun werden. Noch Fragen?“

Niemand sagte etwas.

Für ein paar Sekunden schien sich das Schweigen wie ein Mantel herabzusenken. Und dann, als die Stille jählings zerbrach, waren es nicht die Piraten, die dafür sorgten.

Von einer Sekunde zur anderen wurde es ringsum in der Wildnis lebendig.

Ein Schrei ertönte. Ein kehliger, tremolierender Schrei. Das Dickicht teilte sich. Braunhäutige, wilde Gestalten brachen aus den Büschen, Speere und Lanzen schwirrten, eine Wolke von Pfeilen ging mit hellem, vibrierenden Singen auf die Gruppe der Männer am Fuß des Tempels nieder – und für ein paar Sekunden waren die Piraten viel zu überrascht, um Schrecken zu empfinden, geschweige denn den unvermuteten Angriff mit irgendeiner vernünftigen Reaktion zu beantworten.

Maya-Krieger, durchzuckte es Dan O’Flynn.

Und dann schien ringsum mit einem Schlag die Hölle loszubrechen.

6.

Aus zusammengekniffenen Augen spähte der Seewolf durch die dichten grünen Zweige in die Bucht.

Die „Isabella VIII.“ lag vor Anker. Nichts rührte sich an Bord, die Stille wirkte fast gespenstisch. Hasard wandte den Kopf und warf Ed Carberry, der neben ihm kauerte, einen Blick zu.

„Wetten, daß die Kerle schon unterwegs sind?“ fragte der Profos flüsternd. „Wir werden sehen. Am besten starten wir von dort drüben. Die Strecke müßte zu schaffen sein.“

Der Seewolf zeigte auf eine Stelle, wo sich eine schmale Landzunge ein Stück in die Bucht schob. Vorsichtig zogen sich die beiden Männer zurück und stießen zu den anderen, die im Gebüsch warteten.

Das Enterkommando bestand aus zwölf Männern: eine Zahl, die Hasard für ausreichend hielt, da mit jedem Mann mehr die Gefahr wuchs, daß die Gruppe vorzeitig entdeckt wurde. Erwartungsvoll funkelnde Augen sahen ihnen entgegen. Ferris Tucker trug seine riesige Axt am Gürtel, Jeff Bowie hatte seinen Haken nachgeschliffen, Big Old Shane packte die lange Eisenstange fester, Blacky und Smoky waren ebenfalls da, mit schweren Handspaten bewaffnet, außerdem Stenmark und Sam Roskill und von der Besatzung des schwarzen Seglers der Wikinger, der Bootsmann Juan und der Boston-Mann. Schweigend setzten sie sich auf Hasards Wink hin in Bewegung, und wenig später erreichten sie die kleine Landzunge.

Die „Isabella“ erschien ihnen jetzt zum Greifen nahe.

Immer noch zeigte sich niemand an Deck, aber darauf wollten sich die Männer nicht verlassen. Die Strecke bis zur Steuerbordseite der Galeone würden sie unter Wasser hinter sich bringen. Eine Jakobsleiter hatten die Piraten freundlicherweise bereits außenbords gehängt, also stand dem Unternehmen nichts mehr im Wege.

„Fehlt bloß noch der rote Teppich“, brummte Carberry unzufrieden.

Hasard hob die Brauen. „Du willst es wohl unbedingt schwierig haben, was?“ fragte er. „Vorsicht jetzt! Immer schön einer nach dem anderen. Sam, du bildest den Schluß und paßt auf, ob sich jemand an Deck zeigt.“

„Aye, aye, Sir!“ Der schlanke schwarzhaarige Mann mit den dunklen Augen grinste.

Hasard warf noch einen prüfenden Blick zum Schanzkleid der „Isabella“, bevor er sich vorsichtig durch die letzten Zweige der Büsche zwängte und ins Wasser gleiten ließ. Er holte tief Luft, tauchte und bewegte sich mit kräftigen Schwimmstößen vorwärts. Das Wasser schimmerte in hellen Grün- und Goldtönen, nahm dann schlagartig die Farbe von dunklem Smaragd an, und Hasard wußte, daß er sich im Schatten der Bordwand befand.

Dicht neben der Jakobsleiter tauchte er auf und legte den Kopf in den Nakken.

Auf der „Isabella“ rührte sich nichts. Der Seewolf wandte den Kopf und verfolgte den dunklen Schatten, der durchs Wasser glitt und sich zwei Sekunden später als Ferris Tucker entpuppte. Ed Carberry folgte, der Boston-Mann, Juan, Blacky und Smoky – und dann der Wikinger, der mit seinem triefenden Bartgestrüpp und dem unvermeidlichen Kupferhelm ein eher groteskes Bild abgab.

Minuten später war die Gruppe komplett.

Hasard enerte als erster auf, langsam und vorsichtig. Ein Blick zeigte ihm, daß Ed Carberry unmittelbar hinter ihm war, Batutis Morgenstern am Gürtel und ein breitklingiges Messer zwischen den Zähnen. Knapp unterhalb des Schanzkleides verharrte der Seewolf noch einmal und lauschte, dann schwang er sich geschmeidig wie eine Katze an Deck.

Die Kuhl lag leer vor ihm.

Oder nein, nicht völlig leer: im Schatten des Großmasts hockte eine Gestalt auf einer Taurolle und döste. Es war der weißhaarige Alte, den die Piraten Valerio nannten. Jetzt hob der Bursche mit einem verhaltenen Gähnen den

Kopf – und vor Überraschung blieb ihm buchstäblich der Mund offenstehen.

Drei Männer standen auf der Kuhl: der Seewolf, Ed Carberry und Ferris Tucker.

Nummer vier, der Boston-Mann, schwang sich gerade über das Schanzkleid. Valerios Augen flakkerten auf. Er holte Luft und wollte schreien, doch da stand Philip Hasard Killigrew schon mit zwei, drei langen Sätzen vor ihm.

Der Seewolf schlug kurz und trokken zu.

Ehe Valerio auch nur einen Laut herausbrachte, hatte er das Gefühl, als fliege sein Kopf davon. Etwas schien tief in seinem Schädel zu explodieren, und dann wurde es so plötzlich dunkel um ihn, daß nicht einmal mehr der Schmerz sein Bewußtsein erreichte.

Hasard fing die stürzende Gestalt ab und ließ sie lautlos auf die Taurolle gleiten.

In den letzten Sekunden hatte er Geräusche registriert, die aus der Kombüse drangen. Geschirr klapperte. Offensichtlich nutzte da jemand die Gelegenheit, sich gründlich mit den Vorräten der „Isabella“ zu vergnügen.

Hasard verständigte sich durch einen Blick mit Carberry und Tucker. Die drei Männer glitten auf das Schott zu, und im selben Augenblick wurde es von innen geöffnet.

„Die Suppe ist …“ begann ein dürrer junger Mann mit engstehenden Augen.

„Fertig, ja?“ fragte Hasard freundlich.

Und bevor der Dürre wußte, wie ihm geschah, traf ihn ein Tritt unter das Kinn, der ihn rückwärts in die Kombüse beförderte.

 

Hasard glitt hinterher und packte den Kerl am Kragen, ehe er sich auf die Herdplatte setzen und ein großes Geschrei veranstalten konnte. Der zweite Mann im Raum, Tomaso, wühlte gerade in dem Säckchen mit den getrockneten Früchten. Er kaute noch. Jetzt verschluckte er sich, lief rot an, würgte, hustete – und spuckte Rosinen aus, als sich Ed Carberrys harte Faust in seinen schwabbelnden Bauch bohrte.

„Uuh!“ röchelte der dicke Tomaso. „Rcks!“ fügte er hinzu, als ein Haken unter sein Doppelkinn ihn wieder aufrichtete. Seine Augen verdrehten sich, er fiel wie ein nasser Sack zusammen und rührte sich nicht mehr.

Der Kerl in Hasards Griff war nur wenige Sekunden bewußtlos gewesen.

Jetzt begann er zu zappeln – und versteifte sich, als er wieder einigermaßen durchblickte. Der Seewolf starrte ihn an, und der Ausdruck in den eisblauen Augen ließ den Burschen wie Espenlaub zittern.

„Wo sind die Gefangenen?“ fragte Hasard durch die Zähne. „Heraus mit der Sprache, oder ich stopfe dich eigenhändig ins Feuerloch!“

„W-w-weg!“ stotterte der Dürre.

„Wieso weg? Wo stecken die anderen? Wer ist außer euch noch an Bord?“

Der Dürre starb fast.

„N-n-nur V-v-valerio“, brachte er heraus. „Sie s-sind alle weg! An L-l-land! Den Sch-sch-schatz suchen.“

Hasard atmete tief durch. Er wandte sich Carberry zu und mußte unwillkürlich grinsen.

„Pech für dich, Ed“, sagte er trokken. „Du mußt dein Vergnügen noch etwas aufschieben.“

Die Luft hallte wider von den kehligen, tremolierenden Schreien.

Von einer Sekunde zur anderen schienen die braunhäutigen Krieger überall zu sein: im Dickicht, auf der Treppe, auf den riesigen Steinquadern des Tempelbauwerks. Drei, vier von den Piraten brachen schreiend im Pfeilhagel zusammen, und Dan und Batuti ließen blitzartig die goldene Statue fallen.

Das Ding rollte über die Stufen und fegte ein halbes Dutzend Maya von den Füßen.

„Weg!“ zischte Dan.

Wie eine Katze sprang er die letzten Stufen hinunter, warf sich nach rechts in den Schatten zwischen Gestrüpp und Schlinggewächsen, und unmittelbar hinter ihm brach Batuti durch die Büsche.

Die beiden waren gezwungen worden, die Piraten zu begleiten.

Sie hatten nicht das leiseste Interesse daran, gegen die Maya zu kämpfen, die ja nur ihre Heiligtümer verteidigten. Der Bretone und seine Bande von goldgierigen Halunken mochten sehen, wie sie mit den Maya fertig wurden. Dan und Batuti dachten nicht daran, sich auf die Seite der Piraten zu stellen, und sie hatten nicht die geringsten Gewissensbisse, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen.

Nur daß es mit dem In-die-Büsche-schlagen nicht so klappte, wie sie sich das vorstellten.

Die Büsche wimmelten nämlich von Maya-Kriegern. Die halbnackten braunhäutigen Männer mit den kühnen Gesichtern und den seltsamen zopfartigen Haartrachten bewegten sich geschickt wie Wildkatzen im Dickicht. Rechts und links von Batuti erklangen die kurzen, tremolierenden Rufe, als verständigten sich die Jäger über den Standort des Wildes. Als die beiden Flüchtenden wenig später eine winzige Lichtung erreichten, sahen sie sich zwei Dutzend braunhäutigen Kriegern gleichzeitig gegenüber.

Dan und Batuti fanden nicht einmal Zeit zu überlegen, ob sie kämpfen oder besser versuchen sollten, sich irgendwie mit den Maya zu verständigen.

Die braunhäutigen Krieger debattierten nicht erst, sie griffen an. Und sie wollten ihre Opfer lebend, das war an der Art zu sehen, wie sie ihre Speere als Schlagwaffen benutzten.

Von allen Seiten stürzten sie sich auf die beiden Seewölfe.

Zwei Dutzend Angreifer. Sie erhielten Verstärkung, immer mehr Krieger stürzten aus dem Dickicht. Dan kämpfte wie ein leibhaftiger Tornado, Batuti mähte mit seinen wie Dreschflegel wirbelnden Fäusten sieben, acht Gegner nieder, aber gegen die Lanzenschäfte, die gleich dutzendfach auf seinen schwarzen Krauskopf prasselten, war auch er machtlos.

Ohnmächtig brach er zusammen.

Dan ging mit fliegenden Fahnen unter und verlor ebenfalls das Bewußtsein.

In den Augen der keuchenden, reichlich angeschlagenen Maya-Krieger dämmerte Bewunderung auf, als sie ihre Opfer endlich einsammeln konnten.

Der schwarze Segler und die kleine Karavelle waren in die Bucht gelaufen, und die Seewölfe hatten ihre alte „Isabella“ wieder in Besitz genommen.

Anstelle von Dan und Batuti hockten jetzt der alte Valerio, Tomaso und der Dürre gefesselt in der Vorpiek. Sie hatten bereitwillig alles erzählt, was die Seewölfe wissen wollten. An Widerstand dachten sie nicht. Denn die Tatsache, daß die Männer, die sie immer noch hilflos auf der Insel wähnten, so plötzlich über sie hergefallen waren, hatte die drei Piraten bis ins Mark getroffen.

Bei den Seewölfen wollte kein rechter Jubel aufkommen.

Noch nicht! Zuerst mußten sie Dan und Batuti finden. Und dazu brauchten sie die Hilfe des Maya, den sie vor den Spaniern gerettet und mit an Bord genommen hatten.

Yuka stand neben Hasard, Ben Brighton, Siri-Tong und dem Wikinger auf dem Achterkastell.

Das dunkle Gesicht des Maya wirkte ernst und verschlossen. Er hatte gehört, daß sich die Piratencrew mit ihren Gefangenen bereits auf dem Marsch durch den Urwald befand, unterwegs zum Tempel Itzamnás, um den Schatz der Götter zu plündern. Yuka wußte auch, daß Philip Hasard Killigrew seine Männer nicht im Stich lassen würde. Trotzdem versuchte der Maya alles, um die Seewölfe von ihrem Vorhaben abzubringen.

„Die Männer des Bretonen werden sterben“, sagte er. „Sie sind jetzt schon so gut wie tot. Itzemnás Fluch wird sie treffen. Sie werden auf dem heiligen Stein der Gefiederten Schlange geopfert werden, um die Götter zu versöhnen.“

„Genau das wollen wir ja verhindern“, sagte Hasard trocken. „Wenigstens bei Dan und Batuti. Mit dem Bretonen können eure Priester meinetwegen anstellen, was sie wollen.“

„Sie werden ihm bei lebendigem Leibe das Herz herausschneiden. Und auch euch werden sie überwältigen. Sie sind zu stark. Ihr könnt sie nicht besiegen.“

„Himmel!“ murmelte Ben Brighton. Die Sache mit dem Herzherausschneiden war ihm auf den Magen geschlagen. Auch die Rote Korsarin wurde bleich, und Hasard war nicht mehr ganz so sicher, ob es ihn wirklich einen Dreck kümmerte, was die Maya-Priester mit den Männern des Bretonen anstellten.

Der Seewolf atmete tief durch.

„Wir wollen keinen Krieg führen“, sagte er. „Wir wollen Dan und Batuti befreien, und zwar nach Möglichkeit, ohne dabei mit den Maya aneinanderzugeraten. Je eher wir aufbrechen, desto besser sind die Chancen dafür. Du wirst uns führen, Yuka, aber deine Landsleute brauchen dich nicht zu sehen.“

„Ich habe keine Angst, ich …“

„Das behauptet auch niemand. Aber ich nehme an, du willst nicht dahin zurück, wo dich die Spanier suchen. Dein Platz ist bei deinem Volk. Ben, sorg dafür, daß er andere Kleidung erhält, vor allem irgendeine Kopfbedeckung. Thorfins Helm wäre gut.“

„Mein Helm? Bist du des Teufels? Ha! Wer sich untersteht, meinen Helm anzufassen …“

„Schon gut, schon gut!“ Hasard mußte grinsen. „Siri-Tong, du bleibst mit denen Leuten hier in der Bucht für den Fall, daß die Piraten auf einem anderen Weg zurückkehren, einverstanden?“

„Einverstanden“, sagte die Rote Korsarin knapp.

„Ben, du übernimmst das Kommando über die ‚Isabella‘. Bill und Old O’Flynn bleiben bei dir und …“

„Wieso?“ ertönte es zweistimmig.

Hasard schoß einen Blick auf den alten O’Flynn ab, der sich auf seine Krükken stützte, die Schultern gereckt und das Kinn entschlossen vorgeschoben.

„Weil wir einen Marsch durch den Dschungel vorhaben“, sagte der Seewolf trocken. „Und weil ich drei Mann auf der ‚Isabella‘ zurücklassen möchte.“ Das letzte galt Bill, dem fünfzehnjährigen Schiffsjungen, der vor Tatendrang brannte. „Sonst noch irgendwelche Diskussionsbeiträge?“

Bill zog den Kopf ein, und Old O’Flynn rammte erbittert, aber stumm sein Holzbein auf die Planken. Die Männer schwiegen. Wenigstens solange, bis Siri-Tong und der Wikinger wieder zu dem schwarzen Segler hinüberpullten. Danach ließ Hasard die Beiboote abfieren – und Edwin Carberry nutzte die Gelegenheit, mal wieder ausgiebig sein Repertoire an Flüchen zu strapazieren.