Rhöner Nebel

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6.

Sich vorsehen.

Nichts dem Zufall überlassen. Lieber unter den Leuten bleiben. Sich nicht verkriechen.

All das habe ich gelernt. Nicht wahr?

Stell dich ans Fenster, damit sie von draußen sehen, dass du dazugehörst.

Die Geräusche im Haus sind heute Morgen verblasst. Alle sind draußen. Das herrliche Wetter!

Von hier oben habe ich immer gern die Zufahrt beobachtet. Wie viele Wagen heute den Weg heraufkommen. Die ganze Wiese ist zugeparkt. Was für ein schöner Tag! Wenn ich an den Winter denke. Wie die wenigen PKW sich hier heraufkämpfen!

Einer kam immer in der Nacht.

Heb den Kopf und zeig, was du willst. Sag klar, wohin es gehen soll.

Ich habe das alles hier aufrechterhalten. Selbst wenn es keiner mehr weiß, mehr wissen will, ich entsinne mich sehr gut. Ohne mich gäbe es heute kein Fest.

Andere werden sagen, dass es trotzdem nicht für die Ewigkeit war. Da kann ich nicht widersprechen. Nur Gott ist ewig.

Heiliger Geist,

Du Hauch des Lebens

Du Feuer vom Himmel

Du Beistand der Christen

Du Helfer im Gebet

Du Unterpfand der Erlösung

– erbarme dich unser1

*

1 Aus: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch der Erzdiözese Bamberg 2013. Heilig-Geist-Litanei, S. 609f.

18.5.2018

7.

Katinka hatte die Blumenschale für Schwester Romana aus dem Kofferraum geholt und stellte sie gerade an einer windgeschützten Stelle am Hauseingang ab.

»Da sind Sie ja!« Anja stürzte auf Katinka zu, als hätte sie tagelang allein in einer Wüste ausgehalten.

»Martin Süderbeck ist angekommen. Mit Frau und Kindern.«

»Habe ich gesehen!«

Anja Riedeisen wirkte nun genauso unter Strom wie während der Fahrt in die Rhön. Die Entspannung, die sich vorhin auf ihre Züge gelegt hatte, schien es nie gegeben zu haben.

»Gehen Sie es an! Begrüßen Sie ihn! Er wird Ihnen ja wohl nicht den Kopf runterreißen.«

»Wir haben uns 30 Jahre nicht gesehen«, jammerte Anja, während sie in einer Aufwallung von Entschlossenheit ihre Handtasche unter den Arm klemmte. »Und er ist verheiratet! Meine Güte, wie viel Zeit vergangen ist.«

»Haben Sie nie versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen?«

»Nein, irgendwie ergab sich nie der richtige Moment. Anscheinend funktionierte unsere Beziehung nur hier oben. Nach dem Abitur leistete er seinen Zivildienst, nicht weit von hier, ich studierte in München, also …«

»Anja?«

Der Schlaks mit den Locken kam auf sie zu.

»Jetzt hat er das Rennen gemacht«, murmelte Katinka. »Geschwindigkeit ist alles.«

»Martin?«

»Verdammt, ist das lang her!« Martin Süderbecks Gesicht rötete sich, als er Anja linkisch umarmte und schließlich an den Schultern packte, um sie ein Stück von sich wegzuhalten. »Du hast dich überhaupt nicht verändert!«

»Das habe ich überhört.« Sie lachte.

Er wandte sich an seine Frau, die ihm nachkam. »Carola, das ist Anja, ich habe dir von ihr erzählt. Anja hatte das Abitur schon in der Tasche, als sie hier ihren Freiwilligendienst antrat.«

»Während du gepaukt hast, was du all die Jahre verpasst hattest«, vollendete seine Frau. »Faulpelz! Ich kenne die Geschichte.« Mit einem freundlichen Lächeln drückte sie Anja die Hand. Sie war sehr groß, fast so eine lange Latte wie ihr Mann. Ihre perfekten Beine steckten in weißen Jeans. Das Haar trug sie in einem schicken, kinnlangen Schnitt, den der Wind hartnäckig sabotierte. »Hi. Ich bin Carola.«

»Freut mich, freut mich.« Anja zeigte auf Katinka. »Das ist meine Freundin Katinka Palfy. Ich hatte keine Lust, alleine zu kommen.«

»Bist du verheiratet?«, fragte Martin Süderbeck rundheraus.

»Nicht mehr. Und die Kinder gehen längst eigene Wege.«

»Das können wir von unseren Wirbelwinden leider nicht sagen, was?« Martin Süderbeck legte seiner Frau den Arm um die Schultern. »Wir waren einfach spät dran.«

»Du warst spät dran«, betonte seine Frau. »Ich nicht.«

Katinka schüttelte den beiden die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Haben Sie zufällig auch Internatserfahrung?«, wollte Martin wissen.

»Nicht die Bohne«, antwortete Katinka.

»Sie Glückliche!«

»Tu nicht so!« Carola gab ihrem Mann einen Klaps auf den Po. »Dir hat es hier gefallen, das hast du mir selbst erzählt.«

Er zwinkerte. »Wer wird so kaltschnäuzig sein, seiner Frau zu widersprechen! Meine Mutter war jedenfalls erleichtert, als ich endlich das Abitur in der Tasche hatte. Da es keinen Vater gab, hing alles an ihr. Der kiffende Jungspund, der in der Gosse landet, wenn er die Schule schmeißt, das war ihr Schreckensszenario, wenn es um meine Zukunft ging. Inzwischen kann ich ihre Ängste verstehen.«

»Rundum geläutert«, lästerte Carola. »Ich besorge uns einen Sekt.« Sie machte sich von ihrem Mann los und ging davon.

»Bist du jemals wieder hier gewesen seit 1988?«, wandte Martin sich an Anja.

»Nein. Nie.«

»Was sich in der Zwischenzeit geändert hat! Man mag es kaum glauben. Ich habe noch auf dem Schirm, wie ich am ersten Tag als Schüler instruiert wurde, die Grenze zu meiden. Stimmt es, dass die Nonnen im Sommer ihre Zelte abbrechen?«

Anja nickte. »Soweit ich weiß.«

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich herab.

»Ich glaube, ich helfe Ihrer Frau mal beim Servieren«, entschuldigte sich Katinka, Anjas panischen Blick ignorierend. Wofür fürchtete sich die Frau? Süderbeck würde ihr bestimmt nicht vor all den Leuten an die Wäsche gehen. Im Davonschlendern hörte sie, wie Martin sagte:

»Bist du wirklich Lehrerin geworden?«

»Bin ich. Deutsch und Geografie. Und du?«

»Architekt.«

»Wahnsinn.«

»Findest du?«

»Ich wusste nicht, dass du dafür ein Faible hattest.«

Katinka grinste. Die beiden würden sich zweifellos zusammenraufen. Carola kam ihr entgegen, zwischen ihren Fingern steckten vier Sektgläser.

»Befreien Sie mich?«, lachte sie.

»Das ist mein drittes heute. Allmählich steigt mir der Schampus zu Kopf.« Katinka nahm ihr zwei Gläser ab.

»Halb so wild. Manche gesellschaftlichen Anlässe kann man sowieso nur betrunken ertragen.« Sie schien es als Witz gemeint zu haben. Wie zur Bestätigung trank sie ein Glas in einem Zug zur Hälfte leer. »Schön hier.«

»Im Frühling …«, begann Katinka.

»… ist es überall schön. Trinken wir auf den Frühling!«

»Zum Wohl!« Katinka stieß mit ihr an. Carola war stark geschminkt, eine dicke Schicht Make-up verbarg erste Fältchen um die Augen.

»Martin war total aufgekratzt, als er die Einladung zu diesem Geburtstagsfest bekam. Er war wirklich seit 30 Jahren nicht mehr hier. Seine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Sie lebte in Bad Königshofen, das ist nicht weit von hier. Wir haben sie oft besucht, aber Martin hatte nie Lust, bei der Gelegenheit ins Gebirge raufzufahren.«

»Anja konnte sich auch nie zu einem Besuch aufraffen.«

»Merkwürdig, nicht wahr?« Carola sah träumerisch in die Ferne. »Ich treffe mich jedes Jahr mit meinen alten Klassenkameraden.«

»Ihr Mann hat gar keinen Kontakt zu seinen früheren Mitschülern?«

»Er fühlte wohl keine starke Zugehörigkeit zu ihnen, weil er erst später in die Klasse kam.«

»Kann sein.« Katinka mochte keinen Small Talk, doch wenn sie schon sonst nichts zu tun hatte, schadete es nicht, in die Dynamiken hinter den Beziehungen einzusteigen.

»Wie halten Sie es mit Nonnen?« Carola kippte das zweite Glas.

»Was meinen Sie?«

»Hatten Sie jemals mit Nonnen zu tun?«

»Ich lebe in Bamberg, da gibt es ausreichend.«

»Wirklich?«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Im Taunus. Als die Kinder kamen, sind wir aufs Land gezogen. Vorher lebten wir in Frankfurt. Ich bin von Haus aus ein Großstadtmensch. Und Martin arbeitet immer noch in dem Architekturbüro, wo er nach dem Studium angefangen hat. Jedenfalls: In Frankfurt sind Nonnen Fehlanzeige.«

Katinka lachte. »Bayern tickt da wohl anders.«

»Kann sein. Ich werde mal nach den Mädchen sehen.« Carola nickte Katinka zu und ging davon.

Einige der Gäste machten sich mittlerweile zu ihren Autos auf, um ihr Gepäck zu holen. Manche schienen bereits ihre Zimmer bezogen zu haben und gaben Hinweise, wer wo untergebracht war.

Katinka ging zu Anja und Martin zurück.

»Nach der Sache mit Kirsten war nichts mehr so, wie es vorher war«, sagte Anja gerade mit gesenkter Stimme.

»Ihr habt euch super verstanden, oder?«

»Sie war die beste Freundin, die ich je hatte. Ich hätte es nicht geschafft, noch einmal herzukommen. Nach allem, was war …«

»Noch ein Gläschen?«, unterbrach Katinka, während sie Anja das zweite Sektglas hinhielt.

Anja unterbrach sich abrupt. »Gern.«

»Ich hole unser Gepäck und sehe mal, wo wir schlafen«, sagte Katinka leichthin.

»Gut, natürlich, das wäre … ja, gute Idee.«

»Dann bis gleich.«

Turteltauben! Katinka lief zu ihrem Italiener. Als sie mit den Reisetaschen zurück zum Haus ging, sah sie, wie Anja und Martin weiter angeregt miteinander sprachen. Die beiden hatten offenbar schnell wieder einen Draht zueinander gefunden.

»Suchen Sie Ihr Zimmer?« Ein beinahe zwei Meter großer, durchtrainierter Mann in schwarzer Motorradkluft stand hinter der Eingangstür und fuhr mit einem ölverschmierten Finger über eine Liste, die an der Wand hing.

 

»Zwei Zimmer, um genau zu sein«, erwiderte Katinka. »Katinka Palfy und Anja Riedeisen.«

»Ich habe meine Brille vergessen. Palfy, das könnte hier sein.« Er kniff die Augen zusammen.

Unheimlich blaue Augen. Und buschige Augenbrauen. Wie besonders haarige Raupen, dachte Katinka. Der Typ Mann, der sie ansprechen würde, hätte sie nicht Hardo. Wobei sie erleichtert war, heute einmal nicht seine düstere Laune aushalten zu müssen. Seit jemand in der Polizeidirektion Mist gebaut hatte und intern kein Stein auf dem anderen blieb, war er zu einem grantigen Verdrießling mutiert. Katinka konnte zwar verstehen, dass ihm der ganze Ärger an die Nieren ging. Das machte es für seine Mitmenschen jedoch nicht einfacher.

Sie stellte sich neben den Easy Rider. »Da haben wir es ja: Palfy 201 und Riedeisen 202«, sagte sie leichthin.

»Finden Sie auch den Namen Gebsen auf der Liste?«

»Gebsen, Tobias.« Katinka tippte mit dem Finger auf den Eintrag. »Dritter Stock, 301.«

»Danke.« Er lachte. »Ich dachte immer, es wäre peinlich, die Lesebrille aus der Westentasche zu ziehen. Mittlerweile habe ich den Eindruck, es ist viel peinlicher, wenn man sich ständig einen Vorleser suchen muss.«

»Da ist was dran. Sie waren Zivi hier, oder?«

»Sie sind gut informiert. Vor 30 Jahren. Und Sie?«

»Ich bin Begleitperson. Meine Freundin leistete hier ihr freiwilliges soziales Jahr ab. Sie heißt Anja Riedeisen, früher Mähling.«

»Anja ist gekommen? Wahnsinn! Das waren Zeiten!«

Katinka musterte den Mann neugierig. Der sprichwörtliche Hüne. Mit riesigen Füßen. Mindestens Schuhgröße 47. Richtige Elbkähne.

»Echt?«

»Klar! Die Rhön schweißt zusammen, müssen Sie wissen!« Er grinste. »Na, dann ziehe ich mal ein. Zum Glück nur für eine Nacht.« Er hievte einen Rucksack hoch. Katinka wünschte sich, er bliebe noch ein paar Minuten hier stehen.

»War es so schlimm damals?«

»Nein!« Er winkte ab. »Überhaupt nicht. Meistens jedenfalls nicht.«

*

27.9.1987

8.

Als hätte er nicht genug Sorgen. Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder … Sei’s drum. Eduard Mähling rieb sich die Hände. Wenigstens aus den andauernden Geldproblemen hatte er einen Ausweg gefunden. Zufälle gab es, die hätte sich niemand ausdenken können. Nun allerdings wurde der Boden unter seinen Füßen heiß. Er selbst war der Einzige, dem es auffiel. Horweg sah die Sache naturgemäß anders. Und van Cuun erst! Dieser Spinner mit seinem Mercedes in Goldmetallic.

Nein, es lag nicht an dem Wagen. Van Cuun hatte ihm oft genug erläutert, dass es in seiner Branche ein Vorteil war aufzufallen. Man müsste eben nur richtig auffallen, hatte van Cuun gesagt und sich über diesen vermeintlichen Witz kaputtgelacht.

Mähling fand weder den Wagen noch van Cuun noch den Witz lustig. Aber er hatte sich saniert. Durch Typen wie Horweg und van Cuun.

Mähling zog die Arbeitszimmertür zu. Seine Tochter war nicht mehr im Haus. Das große Kind ging eigene Wege. Und seine Frau hatte sich im Laufe der Ehe daran gewöhnt, dass ihr Mann nicht zu sprechen war, wenn er sich im Arbeitszimmer verschanzte. Störungen waren nicht zu erwarten.

Er goss sich einen Whiskey ein. Das ledrige Aroma stieg ihm angenehm in die Nase. Doch seltsamerweise beruhigte der Duft ihn heute nicht im Geringsten. Er steckte in Schwierigkeiten.

Alles hatte mit einem offiziellen Geschäft mit der DDR begonnen. Er belieferte das Wirtschaftsministerium in Ostberlin mit seinen Papierprodukten. Auf der Leipziger Messe hatte er das eingefädelt. Er wollte eigentlich vorfühlen, ob er in der DDR produzieren lassen könnte. Zu einem Bruchteil der Kosten, die er im Westen decken musste. Letztlich war alles anders gekommen. Er hatte gut verkauft. Vor allem Fotopapier. Hochwertiges. Wofür die da drüben so viel Fotopapier benötigten – Mähling war es gleichgültig. Hauptsache, er ging nicht in Insolvenz. Kurz darauf interessierte sich der Osten außerdem für seine Schreibmaschinen. Die gute alte Brother. Mit Korrekturband und Speicherfunktion, ganze drei Seiten konnte die im Gedächtnis behalten! Nicht alle wollten auf Computer umsteigen, obwohl immer mehr Leute das Maul aufrissen und taten, als wäre so ein Rechner das Ende aller Geheimnisse des Planeten. Mähling glaubte nicht an das neue Zeitalter. Die Handhabung war viel zu kompliziert, es würde lange dauern, bis Otto Normalverbraucher die Technik anwenden konnte. Insofern investierte er lieber in die Schreibmaschine, da lief alles ganz intuitiv. Wie man es kannte. So wollte die Masse der Kunden es haben.

Als Unterhändler hatte Horweg gute Arbeit geleistet. Der Ostberliner hatte Mähling seinerzeit sogar in Fulda besucht. Bei einem Drink in Mählings Arbeitszimmer war ihm die Kohlezeichnung von Degas aufgefallen.

Ich hätte nichts sagen sollen, dachte Mähling. Hätte Horweg doch denken sollen, es wäre wirklich ein Degas.

Stattdessen hatte Mähling aufgekracht. Hatte sich sicher gefühlt, auch ein bisschen geschmeichelt. Horweg war jemand, der einem anderen Honig ums Maul schmieren konnte. Damals, 1985.

Die Zeichnung sehe aus wie ein Degas, hatte Mähling gesagt. In Wirklichkeit handelte es sich um eine außerordentlich gut gemachte Kopie.

Eine Fälschung? Wie Horweg ihn angesehen hatte. Seine spitze Nase, die schwarzen Augen! Richtig gelodert hatten die.

Wenn man so wolle, könnte man es eine Fälschung nennen, hatte Mähling geantwortet, und der folgende Schluck Whiskey hatte ein Brennen in seinem Magen ausgelöst.

Wie der Drink jetzt. Er stellte das Glas weg.

Horweg hatte ihm aus dem Stegreif eine Idee unterbreitet und um Stillschweigen gebeten, bis er sich nach oben abgesichert hätte. Für Mähling wäre mit Sicherheit ein guter Nebenverdienst drin. D-Mark, selbstverständlich. Dabei hatte Horweg Mähling freundlich zugenickt. Mit einem lauernden Ausdruck im Gesicht. Der ließ Mähling heute noch einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

Zwei Monate später hatte Horweg erneut in Fulda Station gemacht. Seinen Wartburg parkte er selbstbewusst auf Mählings Auffahrt. Dem war so viel Offenheit unangenehm, er wollte nicht, dass die Nachbarn mitbekamen, dass er Besuch von drüben hatte. Später fragte ihn tatsächlich jemand danach. Mähling redete sich mit einem angeblichen Verwandten seiner Frau heraus.

Er müsse verstehen, erläuterte Horweg. Da gäbe es Leute in der Nomenklatura, die seien weit aufgestiegen, aber eben nicht bis ganz an die Spitze. Trotz Ehrgeiz und Talent. Trotz guter Kontakte. Irgendwie reichte es nicht. Diese Leute suchten sich anderweitig Bestätigung. Ob Mähling das nachvollziehen könne?

Mähling nickte und merkte, dass er in die Falle gegangen war. Er kannte sich mit Verhandlungsstrategien aus. Wer einmal Ja sagte, kam aus der Schleife nur schwer heraus. Zudem saß ihm der Schreck des Beinahe-Bankrotts noch im Nacken, den er allein durch die Extrageschäfte mit Ostberlin abgewendet hatte. Wer weiß, wie lange diese Beziehungen bestehen würden!

Ob Mähling Kontakt zu dem Fälscher herstellen könne?

Mähling reagierte geschickt. Der Künstler sei eine zarte Seele. Nicht fürs raue Geschäftsleben geschaffen.

Horweg verstand. Natürlich, so waren sie halt, diese Künstler. Joviales Lachen. Noch ein Drink.

Worum es Herrn Horweg denn ginge?

Sie kamen ins Geschäft. Fälschungen von Kunstwerken – keine ganz bekannten, aber auch keine No-Names. Solche Kohlezeichnungen wie dieser Degas, die wären etwas für die frustrierten Zwischengrößen drüben im Osten. Geld spiele keine Rolle, versicherte Horweg. Unzufriedene ruhig zu halten, das sei im Interesse von ganz oben.

Mähling trat ans Fenster. Es nieselte leicht. In der Kälte würde die Feuchtigkeit bald auf der Straße gefrieren. Ein früher Winter in diesem Jahr.

1985 – der Herbst mit Horweg lag nur zwei Jahre zurück, und doch schien ihm unendlich viel Zeit vergangen.

Anfangs, nachdem die Firma gerettet war, hatte er den Drang verspürt, seiner Frau eine Freude zu machen. Sie wäre gern weggezogen. Nach Frankfurt vielleicht, da fühlte sie sich wohl, Fulda war ihr zu klein, zu bischöflich, schlicht zu langweilig.

Aber ein Ortswechsel kam nicht in Frage. Die Nähe zur Grenze bedeutete einen Standortvorteil für ihn und Horweg. Er, Mähling, kümmerte sich um die Fälschungen. Maximal vier pro Jahr. So ein Gemälde oder eine Zeichnung war ja keine Massenware. Die Zwischengrößen drüben sollten sich gebauchpinselt fühlen. Es wäre kontraproduktiv, wenn zu viele von ihnen in kurzer Zeit mit Kunst abgespeist würden.

Mähling hatte die zusätzlichen Finanzen behutsam in die Papierfabrik umgeleitet und auch den Nonnen etwas davon abgegeben. Wenn er es recht bedachte, blieb ihm persönlich gar nicht so viel. Immerhin musste er noch van Cuun bezahlen. Er hoffte, in nicht allzu ferner Zukunft den Strom an neuen Bildern versickern lassen zu können. Eine Laune des Künstlers vorschützen – das ginge.

Die DDR 1987 war nicht mehr die von 1985. Die alten Tattergreise an der Regierung wurden immer seniler. Nur eine Frage der Zeit, wann Minister Rauchfuß ins Stolpern geriet. Die hatten drüben einen Minister für Materialwirtschaft nötig. Das musste man sich mal vorstellen! Mähling konnte darüber nur lächeln. Und nicht genug Papier im Land. Was für ein armseliger Staat!

Bei seinem letzten Besuch vor einigen Wochen hatte Horweg ihm zu verstehen gegeben, dass er es nicht für sinnvoll hielte, wenn Mähling ohne Not aus ihrem gemeinsamen Geschäft ausstiege. Mähling war klug genug zu erkennen, dass Horweg in der Klemme steckte. Horweg war jemand, der Probleme unkonventionell löste. Dabei mochte es Kollateralschäden geben.

Sei’s drum, Mähling würde weitermachen. Für eine Weile. Er würde die Intervalle unmerklich verlängern. Nicht mehr vier Bilder im Jahr, höchstens drei. Eines vor Weihnachten und eins im Frühling.

Dann würde man sehen.

*

18.5.2018

9.

Die Schlüssel steckten von außen. Katinka stieß die Tür zu 201 auf. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ein Waschbecken. Der alte Parkettboden knarrte bei jedem Schritt.

Sie warf ihre Sachen auf das Bett. Öffnete das Fenster, gegen altmodische Stores kämpfend. Von hier blickte sie direkt auf die Zufahrtsstraße, über die sie und Anja vor zwei Stunden gekommen waren. Rechts lag der Wald, ungewohnt nah. Bis auf die vielen Autos auf der Wiese wirkte die Gegend tatsächlich völlig verlassen. Sie schoss ein Foto und schickte es an Hardo. »Bin in der tiefsten Pampa gelandet«, schrieb sie dazu. Vielleicht vermochte ein wenig Flapsigkeit ihm wenigstens ein Lächeln zu entlocken.

WC und Duschen lagen anscheinend auf dem Gang. Nicht der neueste Standard, aber für eine Übernachtung durchaus auszuhalten. Katinka schleppte Anjas Reisetasche zu Nr. 202. Von hier blickte man in den Innenhof. Sie lehnte sich aus dem Fenster und hielt nach Anja Ausschau. Die stand etwas abseits, hielt Martin am Arm und redete wie ein Wasserfall auf ihn ein. Ab und zu ließ sich Martin zu einem Schulterzucken oder einer hilflosen Geste hinreißen. Tobias Gebsen in seiner Motorradkluft trat auf den Hof, blickte sich suchend um. Offensichtlich suchte er nach Anja, denn als er sie gesehen hatte, ging er demonstrativ ein paar Schritte in die andere Richtung, behielt Anja aber im Blick. Wie viele Liebeleien mochten sich in einem solchen Internat voller Jungen und Mädchen und zusätzlich recht jungem Personal abgespielt haben? Umso mehr in den 80ern, als Hits wie Madonnas »Like a Virgin« viral gingen. Nichts Besonderes aus heutiger Sicht, vordem eine Provokation.

Unten umkreiste Gebsen Anja und Martin wie ein hungriger Hai. Katinka musste schmunzeln.

Carola Süderbeck kam auf ihren Mann zu, an jeder Hand ein Mädchen. Linda und Delia, dachte Katinka, klingt wie in einem Liebesroman. Martin entdeckte seine Familie und hob grüßend die Hand. Die Mädchen stürmten auf ihren Vater zu. Anja schien erst einmal abgeschrieben. Sie trat lächelnd beiseite, doch ihre Mimik konnte nicht verbergen, dass das Gespräch gestört worden war und Anja dies nicht gefiel. Martin offenbar auch nicht. Oje, dachte Katinka. Alte Liebe rostet nicht. Wenn das stimmt …

Tobias Gebsen vermutete, dass seine Chance gekommen war. Er nahm zwei Gläser vom Tisch und ging schnurstracks auf Anja zu, die neben den Süderbecks stand und nicht wusste, wohin mit sich.

Vom Haus näherte sich Schwester Gertrudis. Sie trug ein Tablett mit Knabbereien vor sich her, sehr vorsichtig. Gerade als Gebsen an einem Grüppchen Frauen vorbeinavigierte, kreuzte sie seinen Weg. Um ein Haar hätte er das Tablett aus den Armen der Nonne gefegt.

 

Katinka schloss das Fenster, verließ das Zimmer und sperrte von außen ab. Beide Schlüssel in den Jeanstaschen, lief sie die Treppe hinunter ins Freie. Sie wollte die Begrüßung zwischen Anja und Tobias Gebsen mitbekommen. Der ehemalige Zivi jedoch war noch ins Gespräch mit Schwester Gertrudis vertieft.

»Nein, ich habe keine Stunde bereut, die ich hier oben verbracht habe«, hörte sie ihn sagen.

Die Stimme der Nonne war zu leise, als dass Katinka sie verstehen konnte.

Tobias fühlte sich anscheinend bemüßigt, die Schwester zu beruhigen. »Nein, das wäre viel zu kurz gedacht …«

Gertrudis unterbrach ihn. Er musste sich zu ihr hinunterbeugen, um sie zu verstehen. Katinka tänzelte um ein paar Grüppchen herum, kam näher heran.

»Dass du ausgerechnet in diesem traurigen Jahr bei uns sein musstest. Ich meine, wir wussten alle, was das Mädchen dir bedeutete«, unterbrach Gertrudis.

Schon wieder die Liebe, seufzte Katinka innerlich. Kein Wunder, diese Einöde verlangte geradezu nach Abwechslung. Und die Nonne schien wahrhaftig kein so schlechtes Gedächtnis zu haben, wenn sie die entscheidenden Daten im Kopf hatte.

»Schwester, das ist lange her. Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Sie entschuldigen?« Geschickt wich Tobias Gertrudis aus, die ihm erneut den Weg verstellen wollte, sah sich kurz um und eilte dann mit Riesenschritten auf Anja zu.

»Es gibt gleich einen Imbiss«, rief Gertrudis ihm nach.

Anja lachte erstaunt auf, als Gebsen vor ihr stand und sie umarmte. Ebenso linkisch wie Martin Süderbeck zuvor.

Katinka bediente sich an den Knabbereien und ging auf Horchposten hinter drei Frauen, die sich angeregt unterhielten. Ein paar Angestellte trugen Tabletts mit Speisen in den Innenhof und richteten die Platten auf den Biertischen an.

»Dass du hergekommen bist!«, rief Tobias. »Wahnsinn!«

»Du bist ja auch hier!«

»Bei mir ist das was anderes. Ich wohne nicht weit. Und nach allem, was war …«

»Ja! Nach allem, was war.« Anjas Stimme klang scharf und ablehnend.

»Unterstellungen halten sich anscheinend ein halbes Leben lang«, ging Tobias auf Abwehr.

»Ich unterstelle nichts. Ich weiß nur, dass Kirsten todtraurig war wegen dir.«

»Verdammt, wir waren 19, Anja! Hast du geglaubt, dass wir heiraten würden? Mit dir und Martin war es wenig später auch aus.«

»Nach dieser Sache – das war so ein Schock! Ich wollte einfach mit niemandem aus dem Internat mehr etwas zu tun haben.«

»Martin war garantiert nicht verwickelt. Der war zur fraglichen Zeit in der Schule. Nur du bist irgendwo rumgestromert.«

»Ich war mit dem Rad unterwegs, von Mellrichstadt hierher!«

»Nichts für ungut, ich sollte nicht den Zyniker geben.« Tobias Gebsen hob die Arme. »Vergiss es, Anja. Ich habe mich gefreut, dass wir uns hier treffen würden. Verdirb mir das nicht. Wir hatten an und für sich eine gute Zeit, du, Kirsten und ich.«

»So kann man es nennen.« Es klang bitter. »Aber kurz darauf ging die Welt unter. Du willst doch nicht behaupten, dass du danach einfach so weitermachen konntest?«

»Ich habe meinen Zivildienst beendet und eine Ausbildung begonnen. Später habe ich meinen Meister gemacht und leite jetzt einen eigenen kleinen Betrieb. Zurzeit bilde ich sogar zwei Lehrlinge aus. Und du?«

»Ich bin Lehrerin.«

»Das wolltest du damals schon.«

»Und ich habe mich durchgesetzt. Mein Vater war gegen meine Berufswahl.«

»Du hattest in den Nonnen starke Fürsprecherinnen.«

Die drei Frauen, hinter denen Katinka unauffällig Posten bezogen hatte, wanderten geschlossen zur Sektbar. Katinka stand mit einem Mal für Anja und Tobias sichtbar da. Sie zog die Schlüssel aus der Hosentasche und ging auf Anja zu.

»Ich habe unsere Zimmer identifiziert. Mit Hilfe von Herrn Gebsen.«

»Ach?« Anja guckte erstaunt.

»Hier, Ihr Schlüssel. Zimmer 202.«

»Danke.« Anja nahm ihn. »Mir knurrt allmählich der Magen.«

»Das Büffet wird gerade aufgebaut, danach soll eine Hausführung stattfinden. Schließen wir uns an?«, fragte Katinka.

»Warum nicht, ich würde mitgehen, immerhin ist es lange her.« Anja sah versonnen an der Fassade hoch.

»Also«, nickte Tobias, »ich besorge mir einen Snack. Man sieht sich.«

»Oh Mann«, stöhnte Anja, als er außer Hörweite war.

»Was war mit Kirsten?«, erkundigte Katinka sich.

Alle Farbe wich aus Anjas Gesicht. »Kirsten?« Anja starrte auf den Schlüssel in ihrer Hand. »Welche Zimmernummer, sagten Sie?«

»202. Im zweiten Stock mit Blick auf den Hof.«

»Im zweiten Stock?« Jetzt sah Anja wirklich krank aus.

»Gibt es damit ein Problem?«

»Sagen Sie, liegen noch immer dieses Gemeinschaftsbad und die WCs am Ende des Ganges?«

»Besichtigt habe ich sie nicht. Im Zimmer war jedenfalls keine Nasszelle.«

»Mein Gott.« Anja wandte sich. »Ich glaube …«

»Frau Riedeisen«, sagte Katinka. »Wovor haben Sie Angst?«

»Lassen Sie uns was essen«, lenkte Anja ab.

*