Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

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Mikroskopie

Es war etwa zehn Uhr abends, als bei Dr. med. Neu­en­schwan­der (Sprech­stun­den 8-9) die Nacht­glo­cke schell­te. Der Arzt war ein großer, kno­chi­ger Mann, Ende der drei­ßi­ger Jah­re, mit ei­nem lan­gen Ge­sicht und ziem­lich weit im Um­kreis be­kannt und be­liebt. Er hat­te die merk­wür­di­ge An­ge­wohn­heit, den rei­chen Bau­ern sehr hohe Rech­nun­gen zu stel­len. Da­für ver­gaß er manch­mal bei an­de­ren Leu­ten eine Zwan­zi­ger­no­te oder einen Fünfli­ber auf dem Kü­chen­tisch. Wenn er da­bei er­wi­scht wur­de, konn­te er sehr böse wer­den.

Als er die Glo­cke schel­len hör­te, saß er in Hemds­är­meln an sei­nem Schreib­tisch. Er ging im Geis­te die Pa­ti­en­ten durch, die ihn viel­leicht brau­chen könn­ten, aber er konn­te sich auf kei­nen schwe­ren Fall be­sin­nen.

»Vi­el­leicht ein Un­fall«, mur­mel­te er. Dann ging er öff­nen.

Ein fes­ter Mann in ei­nem blau­en Re­gen­man­tel stand vor der Tür. Sein Ge­sicht war nicht recht zu se­hen un­ter dem breit­ran­di­gen, schwar­zen Filz­hut.

»Wa isch los?« frag­te der Dok­tor är­ger­lich. – Ob der Herr Dok­tor ein Mi­kro­skop habe? – Ein was? – Ein Mi­kro­skop. – Doch. Das habe er schon. Aber wozu? Jetzt in der Nacht? Ob das nicht Zeit habe bis mor­gen? – Nein.

Der Mann im blau­en Re­gen­man­tel schüt­tel­te ener­gisch den Kopf. Dann stell­te er sich vor– Wacht­meis­ter Stu­der von der Fahn­dungs­po­li­zei.

»Chöm­med iche«, sag­te der Dok­tor und führ­te den spä­ten Be­such kopf­schüt­telnd in sein Sprech­zim­mer.

»Fall Wit­schi?« frag­te Neu­en­schwan­der la­ko­nisch.

Stu­der nick­te.

Der Dok­tor nahm den hel­len Kas­ten vom Schrank, in dem er sein Mi­kro­skop ver­sorg­te, stell­te ihn auf den Tisch, ging an den Was­ser­hah­nen, wusch ein Glasp­lätt­chen, tauch­te es in Al­ko­hol, rieb es ab…

Stu­der hat­te ein Ku­vert aus der Ta­sche ge­zo­gen. Er schüt­te­te vor­sich­tig eine win­zi­ge Men­ge des In­halts auf das Glasp­lätt­chen, ließ einen Was­ser­trop­fen dar­auf­fal­len, leg­te ein zwei­tes, noch viel dün­ne­res Plätt­chen dar­auf.

»Fär­ben?« frag­te Dr. Neu­en­schwan­der.

Stu­der ver­nein­te. Sein Kopf war feu­er­rot, von Zeit zu Zeit drang ein sehr un­er­freu­li­ches Kräch­zen aus sei­nem Hals, sei­ne Au­gen wa­ren rich­tig blut­un­ter­lau­fen. Der Arzt be­sah sich den Wacht­meis­ter, kam nä­her, setz­te eine Horn­bril­le auf die Nase, be­sah sich Stu­der noch ein­ge­hen­der, griff dann schwei­gend nach des­sen Hand­ge­lenk und sag­te tro­cken:

»Wenn Ihr dann fer­tig seid, will ich Euch noch un­ter­su­chen, Ihr ge­fallt mir gar nicht, Wacht­meis­ter, aber wirk­lich kes bitz­li.«

Stu­der stieß ein hei­se­res Ge­krächz aus, hus­te­te – es war ein pein­li­cher Hus­ten.

»Ihr macht an ei­ner Pleu­ri­tis her­um. Ins Bett, Mann, ins Bett!«

»Mor­gen!« ächz­te Stu­der. »Mor­gen Nach­mit­tag, wenn Ihr wollt, Herr Dok­tor. Aber ich hab noch so­viel zu tun… Ei­gent­lich, das Wich­tigs­te ist ja ge­macht, und wenn das hier…«

Stu­der stell­te das Mi­kro­skop zu­recht, so, dass das Licht der sehr hel­len Schreib­tisch­lam­pe in den klei­nen Spie­gel fiel und beug­te sich dann über das Oku­lar.

Sei­ne zit­tern­den Fin­ger dreh­ten an der Schrau­be, aber es ge­lang ihm nicht, die rich­ti­ge Ein­stel­lung zu fin­den. Ein­mal schraub­te er so lan­ge, dass der Dok­tor da­zwi­schen­fuhr.

»Ihr zerbrecht noch das Plätt­li!« sag­te er är­ger­lich.

»Stellt Ihr ein, Dok­tor«, sag­te Stu­der er­ge­ben. »Das ver­fluch­te Zit­tern!«

»Was wollt Ihr denn so Wich­ti­ges fin­den?«

»Pul­ver­spu­ren«, ächz­te Stu­der.

»Aaah!« sag­te Dr. Neu­en­schwan­der und be­gann an der Schrau­be vor­sich­tig zu dre­hen.

»Deut­lich«, sag­te er schließ­lich und rich­te­te sich wie­der auf. »Ich bin zwar kein Ge­richt­sche­mi­ker, aber ich er­in­ne­re mich von frü­her. Da, seht, Wacht­meis­ter, die großen Krei­se sind Fet­t­rop­fen und in den Fet­t­rop­fen könnt ihr die gel­ben Kris­tal­le se­hen. Es stimmt wohl. Ob’s aber zu ei­nem ge­richt­li­chen Be­weis lan­gen wird?«

»Das wird’s wohl nicht brau­chen«, sag­te Stu­der müh­sam. »Und ver­zeiht, Herr Dok­tor, dass ich Euch so spät noch ge­stört hab…«

»Dumms Züg!« sag­te Dr. Neu­en­schwan­der. »Aber Ihr müsst noch sa­gen, wo Ihr den Staub da«, er deu­te­te mit dem Zei­ge­fin­ger auf das Ku­vert, »ge­fun­den habt. Halt, nicht re­den jetzt. Zu­erst Kit­tel aus­zie­hen, Hemd, dann legt Ihr Euch dort auf das Ru­he­bett, da­mit ich ein we­nig hö­ren kann, was in Eu­rer Brust los ist. Und dann geb’ ich Euch et­was für die­se Nacht.«

Dr. Neu­en­schwan­der horch­te, klopf­te, klopf­te, horch­te. Be­son­ders schi­en ihn die Stel­le zu in­ter­es­sie­ren, an der Stu­der den ste­chen­den Punkt spür­te. Er steck­te dem Wacht­meis­ter ein Fie­ber­ther­mo­me­ter in die Ach­sel­höh­le, be­trach­te­te nach ei­ni­ger Zeit kopf­schüt­telnd den Stand der dün­nen Queck­sil­ber­säu­le, sag­te be­denk­lich: »Achtund­drei­ßig neun!« Er prüf­te noch ein­mal den Puls, brumm­te et­was, das klang wie: »Na­tür­lich, Bris­sa­go!« und ging dann an einen Glas­schrank. Wäh­rend er die klei­ne Sprit­ze aus ei­ner Am­pul­le füll­te, sag­te er:

»Also, Wacht­meis­ter, so­fort ins Bett. Ich geb Euch da ein paar ganz star­ke Sa­chen. Wenn Ihr or­dent­lich schwitzt die Nacht, so könnt Ihr mor­gen noch zu Ende ma­chen. Aber auf Euer Ri­si­ko, ver­stan­den? Und wenn Ihr dann mit Eu­erm G’­stürm fer­tig seid, so seid Ihr reif fürs Spi­tal. Ich würd dann an Eu­rer Stel­le ein Auto neh­men und di­rekt hin­fah­ren. Könnt noch froh sein, dass es eine tro­ckene Brust­fell­ent­zün­dung ist. Aber es kann schon noch bö­ser kom­men. Und jetzt möcht ich wirk­lich gern wis­sen, warum Ihr mich so spät noch um ein Mi­kro­skop an­ge­gan­gen habt. War­tet noch!« Er schüt­te­te aus et­li­chen Gut­te­ren ver­schie­de­ne Flüs­sig­kei­ten in ein Glas, füll­te hei­ßes Was­ser nach und ließ Stu­der trin­ken. Es schmeck­te gru­u­sig. Stu­der schüt­tel­te sich. Dann be­kam er noch eine Ein­sprit­zung, durf­te sich wie­der an­zie­hen, woll­te auf­ste­hen.

»Lie­gen blei­ben!« schnauz­te ihn der Arzt an.

Und Stu­der blieb lie­gen. Die Lam­pe auf dem Schreib­tisch hat­te einen grü­nen Blech­schirm. Di­cke Bü­cher stan­den auf den Re­ga­len an der Wand. Im Raum roch es nach Apo­the­ke. Stu­der lag auf dem Rücken, die Hän­de hat­te er im Na­cken ver­schränkt.

»Also?« frag­te der Dok­tor.

Stu­der at­me­te tief. Es war das ers­te Mal an die­sem Tage, dass er wie­der so rich­tig tief at­men konn­te.

»Die Pul­ver­spu­ren«, sag­te er, »sie wa­ren das letz­te Glied, wie es so schön in den Ro­ma­nen heißt. Ich hät­t’ es ei­gent­lich nicht ge­braucht. Denn es war schon vor­her al­les klar…«

Und er er­zähl­te von der Fahrt nach Thun, von Son­jas Aus­sa­ge, vom Be­su­che bei Ar­min Wit­schi, von der Fahrt nach Bern.

»Ich hab heut schon ein­mal mi­kro­sko­piert«, sag­te er und lä­chel­te ge­gen die De­cke, di­cke Schweiß­trop­fen lie­fen ihm übers Ge­sicht, hin und wie­der fuhr er sich mit dem Han­drücken über die Stirn. »Und wis­sen Sie, Dok­tor«, Stu­der sprach plötz­lich hoch­deutsch, aber dies­mal war es nicht ir­gend­ein Är­ger, der ihn den hei­mat­li­chen Dia­lekt ver­ges­sen ließ, es war eher das Fie­ber, »die Ku­gel, die im Kop­fe des Herrn Wen­de­lin Wit­schi ge­fun­den wor­den ist – und Herr Wen­de­lin Wit­schi war nach der Aus­sa­ge von Dr. Gi­u­sep­pe Mala­pel­le vom Ge­richts­me­di­zi­ni­schen In­sti­tut in Bern eine Al­ko­hol­lei­che mit über 2 pro Mil­le im Blut, – die Ku­gel also sie stamm­te aus dem Re­vol­ver, den ich bei dem Ein­bre­cher­di­let­tan­ten Augs­bur­ger heu­te Mor­gen ge­fun­den habe.« Stu­der ki­cher­te wie ein Schul­bub. »Wenn der Un­ter­su­chungs­rich­ter wüss­te, dass ich ihm den Re­vol­ver ge­staucht habe! Gu­ter Kerl, der Un­ter­su­chungs­rich­ter, aber jung! Und wir so alt! Nicht wahr, Dok­tor? Uralt. Wir ver­ste­hen al­les, wir müs­sen al­les ver­ste­hen. Wie hat die Frau Hof­mann ge­sagt? Rich­tet nicht, auf dass ihr nicht ge­rich­tet wer­det! Sehr rich­tig! Aus­ge­zeich­net! Wer hat das schon ge­sagt? Ich weiß es nicht mehr. Und dann war doch die Fra­ge leicht zu lö­sen, wo­her der Re­vol­ver stamm­te. Aber das ver­rät der Stu­der nicht. – Es ist so heiß bei Ih­nen, Herr Dok­tor, ha­ben Sie im Mai auch ge­heizt? Wie der Un­ter­su­chungs­rich­ter? Ich hab ein­mal einen groß­ar­ti­gen Traum ge­habt, von ei­nem Dau­men­ab­druck, von ei­nem rie­si­gen Dau­men­ab­druck. Sie sind doch kein Dau­men­deu­ter, eh… Traum­deu­ter, Herr Dok­tor? Ich habe ein­mal einen Fall be­ar­bei­ten müs­sen, der spiel­te in ei­nem Ir­ren­haus. Und da hab ich es mit ei­nem Herrn zu tun ge­habt, der war – war­ten Sie ein­mal, wie heißt das schon? – Ja, der war Psy­cho­ana­ly­ti­ker. Er deu­te­te die Träu­me und konn­te Ih­nen dann ganz ge­nau sa­gen, was mit Ih­nen los war. Ist ge­stor­ben, der Herr Ana­ly­ti­ker, sei­ne gan­ze Traum­deu­tung hat ihm nichts genützt. Aber was woll­te ich Ih­nen er­zäh­len? Es geht al­les durch­ein­an­der… – Sie ha­ben wis­sen wol­len, wo ich den Pul­ver­staub ge­fun­den hab? War­ten Sie noch… – Ken­nen Sie den Cot­te­reau? Den Ober­gärt­ner? Ja? Was hal­ten Sie von dem Mann? Ein we­nig grei­sen­haft ver­trot­telt, hab ich nicht recht? Er wuss­te et­was, aber ein paar Bur­schen ha­ben ihn ver­prü­gelt. Er hat ihn ge­se­hen, den­je­ni­gen, wel­chen… Ich will sei­nen Na­men nicht nen­nen. Er hat ihn ge­se­hen an je­nem Abend, oder wenn Sie lie­ber wol­len, in je­ner Nacht. Wann en­det ei­gent­lich der Abend und wann be­ginnt die Nacht? Kön­nen Sie mir das de­fi­nie­ren, Herr Dok­tor?… – Sie ken­nen doch die Ta­schen an den Sei­ten­tü­ren der Au­tos, dort, wo man ge­wöhn­lich die Land­kar­te ver­sorgt? Den Staub dort, den hab ich aus so ei­ner Ta­sche her­aus­ge­kratzt. Das letz­te Glied, Herr Dok­tor, der Wacht­meis­ter Stu­der hat sich nicht bla­miert. Aber der Wacht­meis­ter Stu­der hat kei­ne Ah­nung, wie die gan­ze Ge­schich­te aus­ge­hen wird. Kei­ne Ah­nung! Den­ken Sie!… Ich will schla­fen«, sag­te plötz­lich Stu­der. Er schloss den Mund, die runz­li­gen Li­der fie­len ihm über die Au­gen, er tat einen tie­fen Seuf­zer.

 

»Ar­mer Kerl!« sag­te Dr. Neu­en­schwan­der. Er ging einen Nach­barn ho­len. Zu zweit tru­gen sie Stu­der ins Gast­zim­mer, zo­gen ihn aus und deck­ten ihn or­dent­lich zu. Neu­en­schwan­der füll­te noch eine Bett­fla­sche mit heißem Was­ser, leg­te sie an Stu­ders Füße, die eis­kalt wa­ren. Er ließ die Zim­mer­tü­re of­fen und ging zu­rück an sei­nen Schreib­tisch. Dort las er bis ge­gen ein Uhr. Alle Stun­den sah er nach dem Wacht­meis­ter. Der muss­te schwe­re Träu­me ha­ben. Er mur­mel­te oft, fast im­mer die glei­chen Wor­te:

›Mi­kro­skop‹, war zu ver­ste­hen, ›Dau­men­ab­druck‹. Und noch ein Mäd­chen­na­me. ›Son­ja‹.

Um vier Uhr stand Dr. Neu­en­schwan­der noch ein­mal auf. Stu­ders Tem­pe­ra­tur war auf sie­ben­und­drei­ßig ge­fal­len.

Der Fall Wendelin Witschi zum letzten Mal

Ein trü­bes Be­gräb­nis.

Na­tür­lich reg­ne­te es wie­der. Im Lätt­bo­den des Fried­hofs füll­ten sich die Fuß­stap­fen, kaum dass man den Schuh aus der zä­hen Erde ge­zo­gen hat­te, mit gel­bem Was­ser. Wen­de­lin Wit­schis Grab war nur von zehn Re­gen­schir­men um­stan­den, und die Trop­fen, die auf die zehn ge­spann­ten schwar­zen Tü­cher fie­len, trom­mel­ten einen lei­sen, trau­ri­gen Wir­bel.

Der Pfar­rer mach­te es kurz. Son­ja schluchz­te. Frau Wit­schi stand auf­recht ne­ben ih­rer Toch­ter. Sie wein­te nicht. Ar­min war nicht ge­kom­men. Nach dem Pfar­rer sprach der Ge­mein­de­prä­si­dent Äsch­ba­cher ein paar Wor­te. Sie mach­ten ihm sicht­lich Mühe.

Stu­der stand ne­ben Dr. Neu­en­schwan­der und war froh, dass er sich auf den Arm des Arz­tes stüt­zen konn­te. Aber als nun alle lang­sam auf das Fried­hof­stor zu­schrit­ten, mach­te sich Stu­der von sei­nem Beglei­ter los, hol­te den Ge­mein­de­prä­si­den­ten ein und sag­te:

»Herr Ge­mein­de­prä­si­dent, ich soll­t’ mit Euch re­den.«

»Mit mir, Wacht­meis­ter?«

»Ja«, sag­te Stu­der.

»So kommt!«

Äsch­ba­chers Auto stand auf der Stra­ße. Der Ge­mein­de­prä­si­dent öff­ne­te den Schlag, zwäng­te sich auf den Sitz vor das Steu­er­rad, wink­te Stu­der. Der Wacht­meis­ter stieg ein. Er schüt­tel­te dem Arz­te zum Ab­schied die Hand, dann schlug er selbst den Schlag zu.

Es war we­nig Platz vor­han­den, denn bei­de wa­ren sie nicht ge­ra­de ma­ger. Äsch­ba­cher drück­te auf den An­las­ser. Stu­der starr­te auf die Ta­sche, die am Wa­gen­schlag an­ge­bracht war.

Äsch­ba­cher schwieg. Das Auto kehr­te, fuhr ins Dorf zu­rück, fuhr vor­bei an den vie­len, vie­len La­den­schil­dern. Ger­zen­stein, das Dorf der Lä­den und Laut­spre­cher! – Wann hat­te Stu­der das Dorf so ge­nannt? War das lan­ge her? Am Sams­tag. Und heu­te war Diens­tag. Zwei Tage nur la­gen da­zwi­schen!

Die Laut­spre­cher wa­ren nicht zu hö­ren. Ent­we­der war es noch zu früh, oder der Lärm des Au­tos über­tön­te ihre Mu­sik, ihre Re­den.

Das Dorf Ger­zen­stein! Ein Dorf? Wo wa­ren die Bau­ern in die­sem Dor­fe? Man sah nichts von ih­nen. Sie wohn­ten wohl hin­ter der Fassa­de der Lä­den, ir­gend­wo, in den Hin­ter­grün­den.

Äsch­ba­cher schnauf­te. Den Mann muss­te viel be­drücken.

Und wäh­rend der Wa­gen in die Bahn­hof­stra­ße ein­bog, auf dem klei­nen Stück We­ges, der von der Haupt­stra­ße bis zur Dru­cke­rei des ›Ger­zen­stei­ner An­zei­ger­s‹ führ­te, er­leb­te Stu­der noch ein­mal den gest­ri­gen Abend.

Der Cot­te­reau, der sich end­lich ent­schlos­sen hat­te zu spre­chen. Der Cot­te­reau, der ge­se­hen hat­te, wie Äsch­ba­cher den Brow­ning in eine je­ner Ta­schen ver­sorgt hat­te, die an den Tü­ren der Au­tos an­ge­bracht sind. Cot­te­reau er­in­ner­te sich gut. Er war an je­nem Abend spa­zie­ren­ge­gan­gen, an je­nem Diens­tag­abend. Üb­ri­gens hat­te er alle Per­so­nen des Dra­mas ge­se­hen, den Leh­rer Schwomm, der mit ei­ner Schü­le­rin aus der drit­ten Se­kun­dar­schul­klas­se spa­zie­ren­ge­gan­gen war (dar­um das ver­däch­ti­ge Schwei­gen des Leh­rers!), den Wen­de­lin Wit­schi, der von sei­nem ›Zehn­der­li‹ ab­ge­stie­gen und im Wald ver­schwun­den war, er hat­te Äsch­ba­chers Auto wie­der­er­kannt, er hat­te den Ge­mein­de­prä­si­den­ten ge­se­hen, wie er Wit­schi ge­folgt war…

»Ich glau­be, wir ge­hen zu mir in die Woh­nung«, sag­te Äsch­ba­cher. Das Auto stand still vor ei­nem ei­ser­nen Tor, des­sen Spit­zen ver­gol­det wa­ren. Da war die Bo­gen­lam­pe mit den stei­fen, ro­ten Blu­men um ih­ren So­ckel, dort war der Bahn­hof mit dem Kiosk, in dem sonst Ana­sta­sia Wit­schi Ro­ma­ne las, wäh­rend sie auf Kun­den war­te­te. Frau Ana­sta­sia Wit­schi, die mit dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten ver­wandt war…

Und als sie da­mals er­fah­ren hat­te, dass ihr Mann tot war, was hat­te sie da ge­sagt?

»Zwei­und­zwan­zig Jah­re!«

Und war im Zim­mer hin und her­ge­lau­fen.

»Wie Ihr wollt«, sag­te Stu­der auf die Fra­ge Äsch­ba­chers, die ei­gent­lich gar kei­ne Fra­ge, son­dern eine Auf­for­de­rung ge­we­sen war. Der Wacht­meis­ter be­trach­te­te den di­cken Mann un­auf­fäl­lig von der Sei­te.

Bü­ros. Mäd­chen sa­ßen vor Schreib­ma­schi­nen und be­gan­nen wie wild auf die Tas­ten los­zu­häm­mern, als Äsch­ba­cher in der Tür auf­tauch­te.

»Gu­ten Tag, Herr Di­rek­tor, grüß-ech, Herr Ge­mein­de­prä­si­dent…«

Ein al­ter Mann, fast ein Zwerg, trat Äsch­ba­cher in den Weg. Er hielt Druck­bo­gen in der Hand. Der Zei­ge­fin­ger, mit dem er den Li­ni­en des Ge­druck­ten folg­te, wäh­rend er eif­rig auf Äsch­ba­cher ein­sprach, hat­te eine ver­krüp­pel­te Spit­ze. Stu­der sah dies al­les über­deut­lich. Da­bei fühl­te er sich recht elend. Es war ihm, als be­stün­den sei­ne Bei­ne aus zu­sam­men­ge­näh­ten Fla­nel­lap­pen, und als sei­en sie mit Sä­ge­spä­nen ge­füllt.

Auf die weit­schwei­fi­gen Be­mer­kun­gen des wei­ßen Zwer­ges ant­wor­te­te Äsch­ba­cher nur zer­streut. Er dräng­te vor­wärts, wei­ter, wei­ter. Den Hut hat­te er ab­ge­nom­men, die brau­ne Lo­cke kleb­te noch im­mer auf sei­ner Stirn.

Eine klei­ne Türe. Das Stie­gen­haus. Im ers­ten Stock die Woh­nungs­tür. Ne­ben der Tür ein Mes­sing­schild, dar­auf in schwar­zen Buch­sta­ben: Äsch­ba­cher. Kein Vor­na­me, kein Ti­tel, nichts. Es pass­te zu dem Man­ne.

»Tre­tet ein, Wacht­meis­ter«, sag­te der Ge­mein­de­prä­si­dent. War nicht ein ganz leich­ter Sprung in Äsch­ba­chers Stim­me? Sie klang zwar noch im­mer wie die Stim­me des An­sa­gers vom Ra­dio Bern, aber et­was hat­te sich an ihr ge­än­dert. Oder, dach­te Stu­der, bin ich auf ein­mal hell­hö­rig ge­wor­den? Das Fie­ber? –

Er stand im Gang der Woh­nung. Die Kü­chen­tü­re stand of­fen. Es roch nach Su­urcha­bis und Speck. Stu­der wur­de es übel. Er hat­te seit ges­tern Mit­tag kei­nen Bis­sen ge­ges­sen. Sein Ma­gen hat­te Ge­ne­ral­streik pro­kla­miert. Muss­te man noch lan­ge in die­sem Gang ste­hen?

Aus der Kü­che trat eine Frau. Sie war klein und ma­ger und ihre Haa­re wa­ren weiß wie Flie­der. Ja, wie Flie­der. Sie hat­te graue Au­gen, die sehr still blick­ten. Es war wohl nicht im­mer ein­fach die Frau des Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher zu sein.

»Mei­ne Frau«, sag­te Äsch­ba­cher. Und: »Wacht­meis­ter Stu­der.«

Ein leich­tes Er­stau­nen in den grau­en Au­gen. Dann wech­sel­te der Aus­druck, wur­de ängst­lich.

»Es ist doch nichts Bö­ses pas­siert?« frag­te sie lei­se.

»Nein, nein«, sag­te Äsch­ba­cher be­ru­hi­gend. Da­bei leg­te er sei­ne große di­cke Hand auf die schma­le Schul­ter sei­ner Frau, und die Be­we­gung war so zart, dass es Stu­der plötz­lich vor­kam, als ken­ne er jetzt den Ge­mein­de­prä­si­den­ten viel bes­ser als frü­her. Es war im Le­ben eben im­mer ganz an­ders, als man mein­te. Ein Mensch war nicht nur ein bru­ta­ler Kerl, er konn­te schein­bar auch an­der­s…

Ein großes Zim­mer, wahr­schein­lich als Rauch­sa­lon ge­dacht. Ein paar Bil­der an der Wand, Stu­der kann­te sich in der Ma­le­rei nicht aus, aber die Bil­der schie­nen ihm schön. Gro­ße Re­pro­duk­tio­nen, far­big, Son­nen­blu­men, eine süd­fran­zö­si­sche Land­schaft, ein paar Ra­die­run­gen. Die Ta­pe­te war grau, auf dem Bo­den lag ein wei­ßer Tep­pich, der mit ei­nem schwarz­ro­ten Mus­ter durch­setzt war.

»Mei­ne Frau hat das ein­ge­rich­tet«, sag­te Äsch­ba­cher. »Sit­zet ab, Wacht­meis­ter. Was trin­ket Ihr?«

»Was Ihr wollt«, ant­wor­te­te Stu­der, »nur nicht Him­beer­si­rup oder Bier.«

»Ko­gnak? Ja? Ihr seht nicht gut aus, Wacht­meis­ter. Wo fehl­t’s? Sollt Euch mei­ne Frau einen Grog ma­chen? Ich glaub Ihr trinkt Grog ger­ne?«

Eine un­an­ge­neh­me Si­tua­ti­on. Wa­rum war die­ser Äsch­ba­cher so höf­lich? Was steck­te da­hin­ter?

Der Ge­mein­de­prä­si­dent ging hin­aus, nach­dem er Stu­der einen Stum­pen an­ge­bo­ten hat­te. Es war ein gu­ter Zeh­ner-Stum­pen, aber er schmeck­te wie ver­brann­ter Kaut­schuk. Stu­der zog mit To­des­ver­ach­tung.

Äsch­ba­cher kam zu­rück. Er trug drei Fla­schen: Ko­gnak, Gin, Whis­ky. Hin­ter ihm kam sei­ne Frau. Sie stell­te ein Ta­blett auf den Tisch: Zu­cker, Zitro­nen­schei­ben, eine Kan­ne mit heißem Was­ser, zwei Glä­ser.

»Wir müs­sen un­sern Wacht­meis­ter ku­rie­ren«, sag­te Äsch­ba­cher und lä­chel­te mit ge­sträub­tem Ka­ter­schnurr­bart, »er hat sich er­käl­tet. Und ein er­käl­te­ter Fahn­der kann nur schwer eine Ver­haf­tung vor­neh­men; nicht wahr, Wacht­meis­ter?«

Und Äsch­ba­cher klopf­te Stu­der aufs Knie. Stu­der woll­te sich die Fa­mi­lia­ri­tä­ten ver­bit­ten, er sah auf – da traf ihn ein Blick des Ge­mein­de­prä­si­den­ten. Eine Bit­te lag dar­in.

Stu­der ver­stand. Äsch­ba­cher wuss­te. Er bat für sei­ne Frau. »Gut, mei­net­we­gen«, dach­te Stu­der. Und er lach­te.

»Also, auf Wie­der­se­hen, Herr Wacht­meis­ter!« sag­te Frau Äsch­ba­cher. Sie hielt die Klin­ke in der Hand und lä­chel­te. Es war ein müh­sa­mes Lä­cheln. Und Stu­der ver­stand plötz­lich, dass die bei­den da ver­such­ten, sich Thea­ter vor­zu­spie­len. Bei­de wuss­ten, was los war, aber sie woll­ten es ein­an­der nicht mer­ken las­sen.

Eine merk­wür­di­ge Ehe, die Ehe des Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher…

Die Türe wur­de lei­se ge­schlos­sen. Die bei­den Män­ner blie­ben al­lein.

Äsch­ba­cher tat Zu­cker auf den Bo­den des einen Gla­ses, füll­te es zur Hälf­te mit heißem Was­ser, rühr­te um, dann goss er aus je­der der drei Fla­schen ein or­dent­li­ches Quan­tum nach: Ko­gnak, Gin, Whis­ky. Stu­der sah ihm mit wei­tauf­ge­sperr­ten Au­gen zu.

Und als Äsch­ba­cher ihm das Glas prä­sen­tier­te, frag­te er, ein we­nig ängst­lich:

»Ist das für mich?«

»Aus­ge­zeich­net, Wacht­meis­ter«, pries der Prä­si­dent sei­ne Mi­schung, »wenn ich er­käl­tet bin, nehm’ ich nichts an­de­res. Und wenn Ihr es nicht ver­tra­gen mögt, so macht Euch mei­ne Frau spä­ter einen Kaf­fee.«

»Auf Eure Verant­wor­tung«, sag­te Stu­der und trank das Glas in ei­nem Zug leer. Dun­kel fühl­te er, die Sa­che hier konn­te man nüch­tern zu kei­nem gu­ten Ende brin­gen. »Aber Ihr müsst mir’s nach­ma­chen.«

»So­wie­so«, sag­te Äsch­ba­cher und stell­te das­sel­be Ge­misch noch ein­mal her.

Eine sanf­te Wär­me kroch über Stu­ders Kör­per. Lang­sam, ganz lang­sam hob sich der dunkle Vor­hang. Es war viel­leicht al­les gar nicht so schreck­lich, gar nicht so kom­pli­ziert, wie er es sich vor­ge­stellt hat­te. Äsch­ba­cher sank in einen tie­fen Lehn­stuhl, nahm einen Stum­pen, zün­de­te ihn an, leer­te sein Glas, sag­te »Ah«, schwieg einen Au­gen­blick und frag­te dann mit ganz un­be­tei­lig­ter Stim­me:

»Habt Ihr ges­tern Abend in mei­ner Ga­ra­ge ge­fun­den, was Ihr ge­sucht habt?«

Stu­der nahm einen Zug aus sei­nem Stum­pen (er schmeck­te plötz­lich viel bes­ser) und ant­wor­te­te ru­hig:

»Ja.«

»Was habt Ihr denn ge­fun­den?«

»Staub.«

»Sonst nichts?«

»Das hat ge­nügt.«

Pau­se. Äsch­ba­cher schi­en nach­zu­den­ken. Dann sag­te er:

»Staub? In der Land­kar­ten­ta­sche?«

»Ja.«

»Scha­de… Ihr hät­tet mein An­ge­bot am Sonn­tag an­neh­men sol­len. Und wenn Ihr wollt, leg ich noch et­was drauf, aus der ei­ge­nen Ta­sche. Sehr ge­scheit ge­we­sen, in der Ta­sche nach­zu­grü­beln. Es wär kei­ner auf den Ge­dan­ken ge­kom­men.«

 

»An­ge­bot?« frag­te Stu­der. »Was meint Ihr ei­gent­lich da­mit, Äsch­ba­cher?«

Dem an­de­ren gab es einen Ruck. Die An­re­de ›Äsch­ba­cher‹ wahr­schein­lich. Nicht mehr ›Herr Ge­mein­de­prä­si­dent‹, son­dern ›Äsch­ba­cher‹… Wie man ›Schlumpf‹ sagt.

»Die Stel­le bei mei­nem Be­kann­ten, mein ich, Stu­der.«

»Ah, ja, ich be­sinn mich… In­ter­es­siert mich nicht, Äsch­ba­cher, aber auch gar nicht. Und das Geld? Ihr habt mir Geld an­ge­bo­ten? Ich hab mir sa­gen las­sen, Ihr steht vor dem Kon­kurs.«

»Haha«, lach­te Äsch­ba­cher; es klang wie ein Thea­ter­la­chen. »Das hab ich nur so er­zählt, da­mit mich der Wit­schi in Ruhe lässt. Ich hab ihm doch nicht all mein Geld in den Ra­chen schmei­ßen wol­len, nur weil ich zu­fäl­lig mit sei­ner Frau ver­wandt bin…«

»So? Ihr habt dem Wit­schi Geld ge­ge­ben?«

»Wacht­meis­ter«, sag­te Äsch­ba­cher är­ger­lich. »Wir sind hier nicht am ›zu­ge­ren‹. Wir wol­len mit of­fe­nen Kar­ten spie­len. Wenn Ihr et­was wis­sen wollt, so fragt, ich will Euch Ant­wort ge­ben. Mir ist das Gan­ze schon lang ver­lei­det…«

»Gut«, sag­te Stu­der. Und: »Wie Ihr wollt.«

Er lehn­te sich zu­rück, kreuz­te die Bei­ne und war­te­te.

Und wäh­rend des lan­gen Schwei­gens, das nun über dem Raum lag, dach­te er an vie­le Din­ge. Aber sie woll­ten sich nicht ord­nen: Gut, der Schul­di­ge war ge­fun­den; aber was nütz­te das? Nie­mals wür­de der Un­ter­su­chungs­rich­ter sich dazu her­ge­ben, den Äsch­ba­cher zu ver­hö­ren. Kein Staats­an­walt wür­de ge­gen den Ge­mein­de­prä­si­den­ten eine An­kla­ge er­he­ben. Erst wenn die Be­wei­se so über­zeu­gend wa­ren, dass es wirk­lich nichts an­de­res gab. Äsch­ba­cher muss­te eine große Rol­le ge­spielt ha­ben, frü­her ein­mal. Das er­gab sich aus al­len Er­kun­di­gun­gen, die Stu­der ges­tern Nach­mit­tag in Bern ein­ge­zo­gen hat­te. Man konn­te Skan­da­le nicht brau­chen. Und was hat­te Stu­der für Be­wei­se? Die Aus­sa­ge des Cot­te­reau? Mein Gott! Cot­te­reau wür­de nie wa­gen, sie auf­recht­zu­er­hal­ten. Die mi­kro­sko­pi­sche Un­ter­su­chung des Stau­bes? Für ihn ge­nüg­te es als Be­weis. Für ein Schwur­ge­richt, ein Schwur­ge­richt, an dem die Ge­schwo­re­nen Bau­ern wa­ren? Aus­la­chen wür­de man ihn! Schon der Un­ter­su­chungs­rich­ter wür­de ihn aus­la­chen.

Blieb noch üb­rig, die Sa­che auf sich be­ru­hen zu las­sen. Wit­schi hat­te Selbst­mord be­gan­gen, das wür­de zu be­wei­sen sein, leicht zu be­wei­sen sein, der Un­ter­su­chungs­rich­ter war über­zeugt, Schlumpf kam frei – die Fa­mi­lie Wit­schi wür­de ihr Haus ver­kau­fen müs­sen, die alte Frau wür­de wei­ter im Kiosk sit­zen und Ro­ma­ne le­sen, der Ar­min wür­de die Saal­toch­ter hei­ra­ten und eine Wirt­schaft kau­fen, und Son­ja? Son­ja wür­de den Schlumpf hei­ra­ten, der Er­win wür­de mit der Zeit Ober­gärt­ner wer­den, und Äsch­ba­cher? Mein Gott, er wür­de si­cher nicht der ein­zi­ge Mör­der sein, der straf­los in der Welt um­her­lau­fen wür­de.

»Ihr habt ganz recht, Wacht­meis­ter«, tön­te Äsch­ba­chers Stim­me in die Stil­le. »Es hat gar kei­nen Wert, die Sa­che wei­ter zu ver­fol­gen. Ihr bla­miert Euch nur. Habt Ihr Euch nicht schon ein­mal bla­miert, da­mals, in je­ner Ban­kaf­fä­re? Glau­bet doch dem Po­li­zei­haupt­mann, fol­get sei­nem Rat. Es ist bes­ser, Stu­der, glau­bet mir. Noch einen Grog?«

»Gern«, sag­te Stu­der und ver­sank wie­der in Schwei­gen. War es nicht merk­wür­dig, dass Äsch­ba­cher Ge­dan­ken le­sen konn­te? Stu­der frös­tel­te. Der ste­chen­de Punkt in der Brust war wie­der da, kal­ter Schweiß brach aus. Drau­ßen vor den Fens­tern hock­te ein grau­er Ne­bel, es war, als ob die Wol­ken auf die Erde ge­fal­len wä­ren. Und dann war es kalt im Zim­mer. Stu­ders Stum­pen war aus­ge­gan­gen, er hat­te nicht den Mut, ihn wie­der an­zu­zün­den; er hat­te über­haupt kei­nen Mut mehr, er war krank, er woll­te ins Bett, er hat­te eine Brust­fell­ent­zün­dung, Herr­gott noch ein­mal! Und mit ei­ner Brust­fell­ent­zün­dung geht man ins Bett und spielt nicht den scharf­sin­ni­gen eng­li­schen De­tek­tiv mit de­duk­ti­ven Metho­den à la Sher­lock Hol­mes. Staub in ei­ner Ta­sche! Wenn schon! Wenn es so wei­ter­ging, wür­de er bald auf dem Bo­den her­um­krie­chen mit ei­ner Lupe in der Hand und den Tep­pich ab­su­chen!

»Trinkt Stu­der«, sag­te Äsch­ba­cher und schob das frisch­ge­füll­te Glas über den Tisch. Und der Wacht­meis­ter leer­te es ge­hor­sam.

Es war doch eine Schwei­ne­rei, träum­te er wei­ter. Da hat­te man ein Ge­halt von ein paar hun­dert Fran­ken im Mo­nat, es lang­te wohl, es lang­te ganz gut. Und für das lum­pi­ge Ge­halt war man ver­pflich­tet, den Kanal­räu­mer zu spie­len. Är­ger als das. Man muss­te schnüf­feln, an­de­rer Leu­te Mis­se­ta­ten auf­de­cken, man muss­te sich über­all hin­ein­mi­schen, kei­nen Au­gen­blick hat­te man Ruhe, nicht ein­mal pfle­gen konn­te man sich, wenn man krank war.

Äsch­ba­cher sog hoch­er­freut an sei­nem Stum­pen. Sei­ne klei­nen Äug­lein glänz­ten bos­haft, scha­den­froh.

Und da tauch­te in Stu­der plötz­lich wie­der der Traum je­ner Nacht auf. Der rie­si­ge Dau­men­ab­druck auf der Ta­fel, der Leh­rer Schwomm im wei­ßen Kit­tel und Äsch­ba­cher, der den Arm um Son­ja ge­schlun­gen hat­te und ihn, Stu­der, aus­lach­te.

Spä­ter hät­te Stu­der nie sa­gen kön­nen, ob es wirk­lich die Erin­ne­rung an die­sen Traum war, die ihm plötz­lich neu­en Mut gab. Oder ob ihm das höh­ni­sche Grin­sen Äsch­ba­chers auf die Ner­ven fiel. Ge­nug, er raff­te sich auf, leg­te die Un­ter­ar­me auf sei­ne ge­spreiz­ten Schen­kel, fal­te­te die Hän­de und blick­te zu Bo­den. Er sprach lang­sam, denn er fühl­te, dass sei­ne Zun­ge große Lust zeig­te, ei­ge­ne Wege zu ge­hen.

»Gut«, sag­te er, »Ihr habt recht. Ich wer­de mich bla­mie­ren. Aber das steht nicht in Fra­ge, Äsch­ba­cher. Ich tue mei­ne Ar­beit, die Ar­beit, für die ich be­zahlt bin. Ich bin da­für be­zahlt, Un­ter­su­chun­gen zu füh­ren. Man hat mich dar­auf ver­ei­digt, dass ich die Wahr­heit sage. Ich weiß, Ihr wer­det la­chen, Äsch­ba­cher. Wahr­heit! Ich bin auch nicht von heu­te. Ich weiß auch ganz ge­nau, dass die Wahr­heit, die ich fin­de, nicht die wirk­li­che Wahr­heit ist. Aber ich ken­ne sehr gut die Lüge. Wenn ich die Sa­che auf­ge­be und der Schlumpf wird frei, und das Ge­richt legt den Fall zu den Ak­ten, wie man sagt, dann ist al­les ganz gut und schön. Und schließ­lich bin ich kein Rich­ter und Ihr müsst mit Eu­rer Tat al­lein fer­tig­wer­den.« Im­mer lang­sa­mer sprach Stu­der. Er sah nicht auf, er woll­te den Bli­cken Äsch­ba­chers nicht be­geg­nen, ver­zwei­felt starr­te er auf ein klei­nes Mus­ter im Tep­pich: ein schwar­zes Recht­eck, das von ro­ten Fä­den durch­zo­gen war und das ihn, weiß der Him­mel warum, an Wit­schis Hin­ter­kopf er­in­ner­te. Ge­nau­er: an die spär­li­chen Haa­re, durch die sich Blut­fä­den zo­gen.

»Al­lein fer­tig­wer­den, das ist es. Und ich weiß nicht, ob Ihr das könnt. Ihr spielt ger­ne, Äsch­ba­cher, spielt mit Men­schen, spielt an der Bör­se, spielt mit Po­li­tik. Ich habe man­ches über Euch ge­hört. Ich würd’ Euch gern lau­fen las­sen… Aber da ist die Ge­schich­te mit der Son­ja. Lue­get, Äsch­ba­cher, die Son­ja! Das Meit­schi hat’s nicht schön ge­habt. Ihr habt es ein­mal auf die Knie ge­nom­men, der Va­ter ist dann dazu ge­kom­men… Hat der Wen­de­lin Wit­schi da­mals wirk­lich un­recht ge­habt mit sei­ner Be­haup­tung? Nein, schweigt jetzt. Ihr könnt nach­her re­den. Ihr müsst nicht mei­nen, ich sei ein Stün­de­ler. Ich ver­steh auch Spaß, Äsch­ba­cher; aber ir­gend­wo muss der Spaß auf­hö­ren. Ihr habt vie­les auf dem Ge­wis­sen, nicht nur den Wen­de­lin Wit­schi. Und ich möcht nicht, dass Ihr auch die Son­ja auf dem Ge­wis­sen habt. Ver­steht Ihr?«