Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

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Die Wol­ken drau­ßen san­ken im­mer tiefer, es wur­de düs­ter im Zim­mer. Äsch­ba­cher saß ver­gra­ben in sei­nem Stuhl, Stu­der konn­te nur sei­ne Knie se­hen. Ein hei­se­res Kräch­zen war hör­bar, man wuss­te nicht, war es ein Räus­pern oder ein un­ter­drück­tes La­chen.

»Was er sonst noch von Euch ge­wusst hat, der Wen­de­lin Wit­schi, hab’ ich nicht er­fah­ren…« Das Re­den ging jetzt leich­ter. Aber im­mer noch sprach Stu­der lang­sam, und was das Merk­wür­digs­te war, es war wie eine Spal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit: er sah das Zim­mer von oben, sah sich selbst, nach vor­ne ge­beugt, mit ge­fal­te­ten Hän­den, im Stuh­le sit­zen und dach­te da­bei: »Stu­der, du siehst si­cher aus, wie ein Pfar­rer, wenn er eine Kon­do­lenz­vi­si­te macht.« Aber auch das ver­ging wie­der, und er sah plötz­lich das Zim­mer des Un­ter­su­chungs­rich­ters und den Schlumpf, der sei­nen Kopf auf den Schoß des Mäd­chens ge­legt hat­te.

»Wenn’s dar­auf an­kommt«, sag­te Stu­der, »wird auch das noch zu er­mit­teln sein. Ich habe mir sa­gen las­sen, dass Ihr mit Mün­del­gel­dern spe­ku­liert habt, Äsch­ba­cher; Ihr seid doch hier in der Vor­mund­schafts­be­hör­de… und dass Ihr das Geld wie­der zu­rück­ge­zahlt habt, aber, dass der Wit­schi da­von ge­wusst hat. Er ist doch mit Euch in der Für­sor­ge­kom­mis­si­on ge­ses­sen? Oder? Ihr braucht nicht zu ant­wor­ten. Ich er­zähl’ Euch das nur, da­mit Ihr den Stu­der nicht für einen Löli hal­tet. Der Wacht­meis­ter Stu­der weiß auch ei­ni­ge­s…«

Schwei­gen. Stu­der stand auf, aber im­mer noch ohne auf Äsch­ba­cher zu schau­en, griff nach ei­ner Fla­sche, schenk­te sich ein, leer­te das schar­fe Zeug, setz­te sich wie­der und zog eine Bris­sa­go aus dem Etui. Merk­wür­dig, aber sie schmeck­te. Sein Herz mach­te zwar noch im­mer Sei­ten­sprün­ge; – aber, dach­te er, heut’ nach­mit­tag werd’ ich ins Spi­tal fah­ren. Dort hat man Ruhe.

»Soll ich Euch er­zäh­len, wie die gan­ze Ge­schich­te ge­gan­gen ist, Äsch­ba­cher? Ihr braucht gar nicht zu spre­chen.

Ihr braucht we­der ja noch nein zu sa­gen. Ich er­zähl’ sie so mehr für mich.«

Und Stu­der fal­te­te wie­der die Hän­de und starr­te auf das Mus­ter im Tep­pich, das ein schwar­zes Recht­eck dar­stell­te mit ro­ten Fä­den dar­in.

»Eure Base hat Euch er­zählt, was der Wit­schi vor­hat­te. Von ihr habt Ihr auch er­fah­ren, wann der Wit­schi sei­nen Plan aus­füh­ren woll­te. Aber Ihr trau­tet dem Wit­schi nicht. Ihr wuss­tet, dass er feig war – mein Gott, ein Er­pres­ser ist im­mer feig – und Ihr dach­tet, dass er es nicht ein­mal wa­gen wür­de, sich selbst zu ver­wun­den. Da­rum seid Ihr mit Eu­rem Auto an je­nen Platz ge­fah­ren. Und den Platz habt Ihr ja ganz ge­nau ge­wusst. Der Augs­bur­ger hat da­mals schon bei Euch ge­wohnt. Wa­rum habt Ihr den Mann bei Euch auf­ge­nom­men? Wa­ret Ihr etwa ei­fer­süch­tig auf den El­len­ber­ger? Woll­tet Ihr auch Eu­ren ent­las­se­nen Sträf­ling ha­ben? Nun, das ist ja gleich. Ihr seid also mit Eu­rem Auto zu je­nem Platz ge­fah­ren und habt dar­auf ge­rech­net, dass der Ar­min sich ver­drücken wür­de, wenn er Euer Auto höre. Das hat er ge­macht. Dann habt Ihr schön Zeit ge­habt, die Brief­ta­sche des Wit­schi zu durch­su­chen. Das Do­ku­ment, mit dem er Euch er­presst hat, war wohl in der Brief­ta­sche? Und dann seid Ihr wei­ter in den Wald ge­gan­gen. Dem Wit­schi konn­te man leicht fol­gen, er hat wohl ge­nug Lärm ge­macht. Dann ist es still ge­wor­den, Ihr habt ge­war­tet. Ihr habt einen Schuss ge­hört, seid nä­her ge­kom­men. Der Wit­schi ist da­ge­stan­den, den Brow­ning noch in der Hand – un­ver­letzt. Was Ihr dann mit ihm ge­spro­chen habt, weiß ich nicht. Ich bin si­cher, Ihr habt Eure Rol­le gut ge­spielt. Arm um die Schul­tern ge­legt, wahr­schein­lich, ihn ge­trös­tet, ihn ein we­nig wei­ter­ge­führt.

Und Eure Pis­to­le habt Ihr wohl in der Ta­sche ge­habt. Dann habt Ihr Euch von ihm ver­ab­schie­det, seid ein paar Schrit­te von ihm weg, einen Me­ter viel­leicht, und habt ihn von hin­ten er­schos­sen.«

Pau­se. Stu­der nahm noch einen Schluck. Merk­wür­dig, dass er gar kei­ne Be­trun­ken­heit spür­te, im Ge­gen­teil, er wur­de nüch­ter­ner, es schi­en ihm, als wer­de sein Kopf im­mer kla­rer, der un­an­ge­neh­me Stich war ver­schwun­den. Er zün­de­te um­ständ­lich sei­ne Bris­sa­go wie­der an, die wäh­rend des Re­dens aus­ge­gan­gen war.

»Zwei Feh­ler, Äsch­ba­cher, zwei große Feh­ler!« sag­te Stu­der, wie ein Leh­rer, der einen be­gab­ten Schü­ler nicht ta­deln, son­dern im Ge­gen­teil för­dern will.

»Der ers­te: Wa­rum nicht Wit­schis Re­vol­ver neh­men? Ar­min hät­te ihn ge­fun­den; die gan­ze Ge­schich­te hät­te rei­bungs­los ge­klappt. Ich wäre höchs­tens bis zum Selbst­mord vor­ge­drun­gen, nie wei­ter. Und der zwei­te Feh­ler, aus dem alle üb­ri­gen sich dann er­ge­ben ha­ben: Wa­rum den Brow­ning in je­ner Au­to­mo­bil­ta­sche las­sen? Ir­gend­wer hat ihn doch fin­den müs­sen. Und dass ihn ge­ra­de der Augs­bur­ger, der klei­ne Ein­bre­cher­di­let­tant, hat fin­den müs­sen, das war Pech… Pech? Vi­el­leicht habt Ihr das ge­ra­de ge­wollt?«

Stu­ders Au­gen hat­ten sich end­lich von dem schwar­zen Mus­ter los­ge­ris­sen. Er starr­te nun auf ein an­de­res, das wie ein Haus aus­sah, dach­te an einen Spruch, der in blau­er Far­be an eine Wand ge­malt war, und die Far­be be­gann ab­zu­brö­ckeln: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück her­ein.‹

»Es ist merk­wür­dig mit uns Men­schen«, fuhr Stu­der fort, »wir tun manch­mal ge­ra­de das, was wir ver­mei­den möch­ten, das, wo­vor un­ser Ver­stand uns warnt. Ein Be­kann­ter von mir, der nun tot ist, sprach im­mer von Un­ter­be­wusst­sein. Als ob das Un­ter­be­wuss­te einen ei­ge­nen Wil­len hät­te. Und bei Euch, Äsch­ba­cher, muss ich im­mer an so et­was den­ken. Denn Ihr habt doch al­les ge­tan, da­mit man auf Euch auf­merk­sam wird. Und das kann man nicht nur mit Eu­rer Spi­el­lei­den­schaft er­klä­ren, es steckt wohl et­was an­de­res da­hin­ter. Im Grun­de habt Ihr doch ge­wollt, dass der Mord aus­kommt. Sonst hät­tet Ihr doch nicht den Ger­ber und den Ar­min mit Eu­rem Auto aus­ge­schickt, um den El­len­ber­ger und den al­ten Cot­te­reau zu über­fah­ren. Wer hat Euch er­zählt, dass der Cot­te­reau Euch ge­se­hen hat­te? Der Augs­bur­ger?«

»Ich hab den Augs­bur­ger da­mals mit­ge­nom­men, wie ich den Wit­schi hab tref­fen wol­len…« Ganz ru­hig kam die Stim­me von drü­ben. Kei­ne Auf­re­gung brach­te sie zum Zit­tern. Sie klang ge­nau wie die Stim­me des An­sa­gers, wenn er ver­kün­de­te: »Die Über­schwem­mun­gen im un­te­ren Rho­ne­ge­biet ha­ben große Aus­ma­ße an­ge­nom­men.«

»Und Ihr habt nicht Angst ge­habt, dass er Euch ver­ra­ten wür­de?«

»Er war ein treu­er Bursch. Spä­ter hätt ich ihn ins Aus­land ge­schick­t…«

»Aber er wur­de ge­sucht. Und der Au­to­dieb­stahl…«

»Mein Gott«, sag­te Äsch­ba­cher, »sol­che Leu­te ge­hen nicht so spar­sam mit den Jah­ren um, wie wir.«

Stu­der nick­te. Das stimm­te.

»Und«, fuhr Äsch­ba­cher fort, »den bei­den an­de­ren Bur­schen hab’ ich an­ge­ge­ben, ein Tschu­cker wol­le sich in un­se­re An­ge­le­gen­hei­ten mi­schen… Sie ha­ben viel Kri­mi­nal­ro­ma­ne ge­le­sen, die Bur­schen, sie ha­ben es ger­ne ge­macht. Sie woll­ten John Kling spie­len.«

Ei­nen Au­gen­blick über­mann­te den Wacht­meis­ter schier der Stolz. Er hat­te den Äsch­ba­cher dazu ge­bracht, zu spre­chen; er hat­te ihn ge­zwun­gen, zu­zu­ge­ben. Da blick­te er zum ers­ten Mal auf und der Stolz ver­ging ihm. Ihm ge­gen­über, im tie­fen Stuhl, saß ein zu­sam­men­ge­sun­ke­ner Mann, der schwer at­me­te. Das Ge­sicht war rot an­ge­lau­fen, die Hän­de zit­ter­ten, der Mund stand ein we­nig of­fen. Aber nur einen Au­gen­blick ver­blieb der Mann so. Dann schloss sich der Mund, die Au­gen blick­ten wie­der ge­ra­de vor sich hin, an Stu­der vor­bei, zum Fens­ter hin­aus.

»Die bei­den Bur­schen«, sag­te Stu­der, »ha­ben den ar­men Cot­te­reau or­dent­lich durch­ge­prü­gelt. Er hat mir nichts sa­gen wol­len. Und auch der alte El­len­ber­ger wuss­te von der Sa­che?«

»Vi­el­leicht nach­her. Der Cot­te­reau hat auch zu­erst gar nicht ge­wusst, dass ich den Wit­schi er­schos­sen habe. Ich habe nur vor­beu­gen wol­len, er soll­te es Euch nicht gleich er­zäh­len, dass er mich dort ge­se­hen hat­te.«

»Wann hat er Euch er­kannt?«

»Wie ich ins Auto ge­stie­gen bin. Da hat ihn auch der Augs­bur­ger ge­se­hen, den Cot­te­reau näm­lich…«

Jetzt eine Plat­te da ha­ben! dach­te Stu­der, und das Ge­spräch auf­neh­men!

»Wa­rum habt Ihr den Augs­bur­ger im ge­stoh­le­nen Auto nach Thun ge­schickt, da­mit er sich ver­haf­ten las­sen soll? Denn das habt Ihr doch ge­wollt?«

»Fragt nicht so dumm, Wacht­meis­ter!« Es war der Ge­mein­de­prä­si­dent, der sprach. »Na­tür­lich hab ich ihn ge­schickt. Zwei Grün­de: Er hät­te von der Be­loh­nung hö­ren kön­nen, die Ihr habt aus­schrei­ben las­sen, und dann wollt ich Euch einen Strich durch die Rech­nung ma­chen. Wenn der Schlumpf ge­stand, so wa­ret Ihr schach­matt, nid? Und Augs­bur­ger kann­te den Schlumpf. Er soll­te ver­su­chen, mit ihm in Ver­bin­dung zu tre­ten und ihm von Son­ja aus­rich­ten, es stün­de schlecht und er müs­se ge­ste­hen, sonst wür­den alle we­gen Ver­si­che­rungs­be­tru­ges ver­haf­tet. Ich hab na­tür­lich nicht er­war­tet, dass mir die Leu­te in Thun so ent­ge­gen­kom­men und den Augs­bur­ger mit dem Schlumpf in eine Zel­le sper­ren. Wollt Ihr sonst noch et­was wis­sen? Der Augs­bur­ger hat schlecht ge­schwin­delt, ich weiß es. Aber er hat kei­ne große Er­fin­dungs­ga­be, dar­um hat er al­les auf den El­len­ber­ger ge­wälzt.«

»Ja, der El­len­ber­ger«, sag­te Stu­der, ganz freund­schaft­lich, so, wie man sich an einen Kol­le­gen um Aus­kunft wen­det. »Was hal­tet Ihr vom El­len­ber­ger?«

 

»Eh«, sag­te Äsch­ba­cher. »Ihr kennt doch die­se Sor­te Leu­te. Im­mer muss et­was ge­hen, im­mer müs­sen sie eine Rol­le spie­len, weil sie im In­nern hohl sind. Das schwätzt, das macht sich in­ter­essant, das bla­giert von ma­rok­ka­ni­schen Re­si­den­ten, von Ver­mö­gen, das grün­det den ›Con­vict Ban­d‹ – das ein­zi­ge, was ich am El­len­ber­ger schät­ze, ist, dass er den Schlumpf ger­ne ge­mocht hat.«

Schwei­gen. Es war fer­tig. jetzt kam das Schwers­te. Wie soll­te man nun die Ver­haf­tung vor­neh­men? Man war schwach auf den Bei­nen, man war krank. Der Äsch­ba­cher war ein großer schwe­rer Mann, das Te­le­fon, mit des­sen Hil­fe man viel­leicht den Mur­mann hät­te her­bei­ru­fen kön­nen, stand in der an­de­ren Ecke, man hat­te zwar einen Re­vol­ver in der Ta­sche, auch einen Ver­haft­be­fehl hat­te man. Aber…

»Ihr stu­diert, Wacht­meis­ter, wie ihr es am bes­ten ma­chen könnt, um mich zu ver­haf­ten? Oder nicht?« sag­te da Äsch­ba­cher mit ru­hi­ger Stim­me. »Macht Euch kei­ne Sor­gen. Ich komm mit nach Thun. Aber wir fah­ren mit mei­nem Auto, und ich fah­re. Habt Ihr so­viel Ku­rasch?«

Äsch­ba­cher hat­te nicht nur Stu­ders Ge­dan­ken er­ra­ten, er hat­te auch des Wacht­meis­ters emp­find­li­che Stel­le ge­trof­fen.

»Angst? Ich?« frag­te Stu­der be­lei­digt. »Fah­ren wir!«

»Ich… will… mei­ner… Frau noch Adieu sa­gen.« Die Wor­te ka­men sto­ckend. Stu­der nick­te.

An der Tür sag­te Äsch­ba­cher noch:

»Be­dient Euch, Wacht­meis­ter…« und wies auf die Fla­schen, die auf dem Tisch stan­den.

Stu­der be­dien­te sich. Dann sank er in sei­nen Stuhl zu­rück und schloss die Au­gen. Er war müde, hunds­mü­de. Er war gar nicht mehr stolz. Er kam nicht recht nach. Wa­rum hat­te der Äsch­ba­cher al­les zu­ge­ge­ben? Hat­te er ge­merkt, dass Stu­der der Ein­zi­ge war, der von der gan­zen Sa­che wuss­te? Be­zog sich die Fra­ge we­gen der Angst auf die­se Tat­sa­che? Man wür­de se­hen…

Ei­gent­lich hät­te Stu­der noch ganz ger­ne ein­mal mit Frau Äsch­ba­cher ge­spro­chen. Was war das für eine Frau? Sie sprach so merk­wür­dig. Eine Aus­län­de­rin? Wo hat­te der gro­be Äsch­ba­cher die­se fei­ne Frau auf­ge­trie­ben… Die las wohl kei­ne Ro­män­li in der Nacht, viel­leicht spiel­te sie Kla­vier? Oder Gei­ge? Das Kopf­weh kam wie­der. Aber nun war wohl bald al­les zu Ende. Ei­gent­lich hät­te man einen Ge­frei­ten von Bern ver­lan­gen kön­nen, um den Äsch­ba­cher ein­zu­lie­fern… Dann hät­te man gleich ins Bett krie­chen kön­nen. War es nicht bes­ser, man ging dann heim und leg­te sich dort ins Bett? Es pfleg­te nicht schlecht, ’s Hedy. Wa­rum woll­te er par­tout ins Spi­tal?

Da ging die Türe auf:

»Wei mer go?« frag­te Äsch­ba­cher, so ru­hig, als ob es sich um eine Spa­zier­fahrt hand­le.

Stu­der stand auf. Sein Mund war tro­cken. Er fühl­te eine merk­wür­di­ge Lee­re im Ma­gen und trös­te­te sich, das käme vom Fie­ber, vom Hun­ger, vom Trin­ken auf nüch­ter­nen Ma­gen. Aber das Ge­fühl woll­te nicht ver­ge­hen.

Spritztour und Ende

Wenn nicht die Hän­de ge­we­sen wä­ren, die großen, di­cken Hän­de auf dem Lenk­rad, die von Zeit zu Zeit zuck­ten, um den Wa­gen wie­der in die Rich­tung zu brin­gen, hät­te man mei­nen kön­nen, man säße ne­ben ei­nem stei­ner­nen Mann. Äsch­ba­cher rühr­te sich nicht. Sein Mund war fest ge­schlos­sen, die Bli­cke ge­ra­de­aus ge­rich­tet. Der Schei­ben­put­zer pen­del­te hin und her und schnitt in die trü­be Schei­be eine geo­me­tri­sche Fi­gur, die Stu­der an die Se­kun­dar­schu­le er­in­ner­te.

»Ist Eure Frau Aus­län­de­rin?« frag­te er schüch­tern, um das Schwei­gen zu bre­chen.

Kei­ne Ant­wort. Stu­der schiel­te nach sei­nem Beglei­ter. Da sah er, dass zwei große Trä­nen über die wuls­ti­gen Wan­gen lie­fen, im Schnurr­bart ver­si­cker­ten, zwei neue ka­men, ver­schwan­den. Stu­der blick­te scheu bei­sei­te. Es sah tra­gisch und gro­tesk aus, wie so vie­les im Le­ben.

Eine Hand ließ das Steu­er­rad los, such­te in der Ta­sche. Sch­neu­zen.

»Ver­damm­ter Schnup­fen«, tön­te es hei­ser. »Sie ist in Wien auf­ge­wach­sen. Die El­tern wa­ren Schwei­zer.«

»Und was meint sie?« Stu­der hät­te sich ohr­fei­gen kön­nen. So et­was sagt man doch nicht! Und es war wirk­lich ein Feh­ler. Denn plötz­lich traf Stu­der ein Blick… Er war bös­ar­ti­ger, die­ser Blick, als je­ner, den er da­mals im ›Bä­ren‹ er­hal­ten hat­te. Wie­weit war das weg! Stu­der sah die kur­ze Be­we­gung, mit der Äsch­ba­cher die Kar­ten fä­cher­för­mig aus­ein­an­der­brei­te­te…

Ganz ru­hig kam nun die Stim­me:

»Das hät­tet Ihr nicht sa­gen sol­len, Wacht­meis­ter!«

Die Stra­ße lief am See ent­lang. Aber der See war fast nicht zu er­ken­nen. Die gan­ze Stra­ßen­brei­te lag da­zwi­schen, dann kam eine nie­de­re Mau­er, und hin­ter der nie­de­ren Mau­er sah man mit Mühe eine große feuch­te Ebe­ne, grau, grau, ver­schwom­men, kalt. Das Auto fuhr lang­sam.

Wie spät war es ei­gent­lich? Stu­der woll­te sei­ne Uhr zie­hen, er hat­te schon Dau­men und Zei­ge­fin­ger in der Wes­ten­ta­sche ver­senkt, da hör­te er eine ganz frem­de Stim­me sa­gen – und sie hat­te gar kei­ne Ähn­lich­keit mehr mit der Stim­me des An­sa­gers vom Ra­dio Bern:

»Use, los! Sonst…«

Stu­ders Uhr flog aus der Wes­ten­ta­sche, sei­ne rech­te Hand um­krampf­te den Griff der Tür­klin­ke, drück­te sie nie­der, riss sie in die Höhe (wie funk­tio­nier­te nur so eine Klin­ke?), Stu­der warf sei­nen mas­si­ven Kör­per mit al­ler Ge­walt ge­gen die Tür, sie sprang auf, er flog auf die Stra­ße, blieb mit ei­nem Fuß an der un­te­ren Tür­kan­te hän­gen, wur­de ein Stück mit­ge­schleift. Sei­ne Schul­ter, sein Kopf prall­ten ge­gen et­was Har­tes, ein rie­si­ger Schat­ten war über ihm, ver­schwan­d… Und dann wur­de es end­gül­tig dun­kel.

»Nein, jetzt wird nicht mi­kro­sko­piert«, sag­te eine tie­fe Stim­me. Es war Nacht. Ir­gend­wo brann­te ein grü­nes Licht. Stu­der ver­such­te ver­zwei­felt, sich zu er­in­nern, wo er die Stim­me schon ein­mal ge­hört hat­te.

»Pi­krin…« flüs­ter­te Stu­der. Er hör­te ein La­chen.

»Der ver­damm­te Fahn­der, nie kann er Ruh’ ge­ben. Pas­sen Sie auf, Schwes­ter. Wie ge­sagt, alle Stun­den Cora­min, alle drei Stun­den Transpul­min, ver­stan­den? Gott sei Dank, ist er noch ein fes­ter Kerl. Es ist kein Spaß, wenn man zwei Frak­tu­ren hat und dazu noch…«

Wei­ter hör­te Stu­der nichts. Es war doch ein­mal ein schwar­zer Vor­hang da­ge­we­sen, jetzt aber senk­te sich ein ro­ter über ihn, es rausch­te, Glo­cken läu­te­ten. Der Whis­ky war scharf. Das gab Durst. Wie hat­te doch der See aus­ge­se­hen? Eine wei­te Ebe­ne grau, grau, kalt und feucht…

Dann war wie­der ein­mal Son­ne da und ein ganz be­kann­tes Geräusch. Stu­der lausch­te. Es klick­te… klick­te. Was war das? Frü­her hat­te das Geräusch ihn im­mer ver­rückt ge­macht, er kann­te es gut. Was war es nur? Na­tür­lich! Strick­na­deln! Er rief lei­se: »Hedy!«

»Ja?«

Ein Schat­ten zwi­schen ihm und der Son­ne.

»Grüß di«, sag­te Stu­der und blin­zel­te mit den Au­gen.

»Salü!« sag­te Frau Stu­der, als ob es die na­tür­lichs­te Sa­che von der Welt wäre.

– Was denn ei­gent­lich mit ihm los sei? frag­te Stu­der. – Nüt Apar­tigs, mein­te die Frau. Fie­ber, Brust­fell­ent­zün­dung, Obe­r­arm ge­bro­chen, Schlüs­sel­bein­frak­tur. Er sol­le froh sein, dass er noch nicht tot sei.

Sie tat der­glei­chen, als ob sie är­ger­lich sei. Aber hin und wie­der press­te sie die Lip­pen zu­sam­men.

»Äbe, jooo«, sag­te Stu­der und schlief wie­der ein.

Das drit­te Mal ging es schon ganz gut. Da war der Punkt, der ste­chen­de Punkt in der Brust ver­schwun­den. Aber der rech­te Arm war noch schwer. Stu­der trank eine Tas­se Bouil­lon und schlief wie­der ein.

Das vier­te Mal wach­te er auf, weil ein Hei­den­krach vor der Zim­mer­tür statt­fand. Eine är­ger­li­che Stim­me ver­lang­te Ein­lass, eine an­de­re Stim­me (war das nicht der Dr. Neu­en­schwan­der?) wur­de bos­haft und fluch­te. Es war al­les so un­er­träg­lich laut.

»Die Leu­te sol­len still sein!« flüs­ter­te Stu­der.

Und wirk­lich schwie­gen sie bald dar­auf.

Und dann kam end­lich das große Er­wa­chen. Es war mor­gens, kühl, das Fens­ter muss­te ge­ra­de ge­öff­net wor­den sein. Das Zim­mer war klein, die Wän­de mit grü­ner Öl­far­be ge­stri­chen. Gera­ni­en blüh­ten auf dem Fens­ter­brett.

Eine di­cke Schwes­ter war dar­an, das Zim­mer zu keh­ren.

»Schwes­ter«, sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me war fest, »ich hab Hun­ger.«

»So, so«, sag­te die Schwes­ter nur, kam nä­her, beug­te sich über Stu­der. »Geht’s bes­ser?«

»Wo bin ich?« frag­te Stu­der und be­gann zu la­chen. So frag­ten doch im­mer die Hel­den in den Ro­ma­nen von… von… wie hieß die alte Tru­cke nur, die im­mer Ro­ma­ne schrieb? Fe­li­ci­tas? Ja, Fe­li­ci­tas…

»Ge­mein­de­spi­tal Ger­zen­stein«, sag­te die Schwes­ter. Ir­gend­wo spiel­te Mu­sik.

»Was ist das?« frag­te Stu­der.

»Ha­fen­mu­sik – Ham­burg«, sag­te die Schwes­ter.

»Ger­zen­stein und die Laut­spre­cher«, mur­mel­te Stu­der. Und dann gab es Milch und Weg­g­li und An­ken und Kon­fi­tü­re. Stu­der be­kam Lust nach ei­ner Bris­sa­go. Aber als er die­sen Wunsch äu­ßer­te, kam er bei der Schwes­ter bös an.

Und dann kam ein Nach­mit­tag, an dem er al­lein im Zim­mer lag. Sei­ne Frau war nach Bern zu­rück­ge­fah­ren und hat­te ver­spro­chen, ihn am Ende der Wo­che ho­len zu kom­men.

Da kam die Schwes­ter her­ein, eine Dame (sie sag­te ›ei­ne Da­me‹) wol­le den Wacht­meis­ter spre­chen. Stu­der nick­te.

Die Haa­re der Dame wa­ren weiß wie… wie… Flie­der.

Stu­der wuss­te, dass Äsch­ba­cher im See er­trun­ken war. Ein Un­glücks­fall, war ihm ge­sagt wor­den. Stu­der hat­te ge­nickt.

Die Dame setz­te sich an Stu­ders Bett, die Schwes­ter ging hin­aus. Die Dame schwieg.

»Bon­jour Ma­da­me«, sag­te Stu­der mit ei­nem hilflo­sen Ver­such, zu scher­zen. Die Dame nick­te.

Schwei­gen. Eine Hum­mel strich sum­mend durchs Zim­mer. Es muss­te wohl Ende Juni sein.

»Es war mei­ne Schuld«, sag­te Stu­der lei­se. »Ich hab ihn nach Ih­nen ge­fragt, Ma­da­me, und da hat er ge­weint. Die Trä­nen sind ihm über die Wan­gen ge­lau­fen. Ja. Und dann hab ich ihn noch ge­fragt, was Sie ge­meint hät­ten, so, zu der gan­zen Sa­che. Dann hat er mich noch ge­warnt. Ich habe ge­ra­de Zeit ge­habt, aus dem Wa­gen zu sprin­gen. Ich mein’ er ist dann über die Mau­er… Glau­ben Sie nicht, es ist bes­ser so?«

»Ja«, sag­te die Dame. Sie wein­te nicht. Sie hat­te die Hand auf Stu­ders Arm ge­legt. Eine sehr leich­te Hand.

»Ich sage nichts, Ma­da­me«, sprach Stu­der ganz lei­se.

»Dan­ke, Herr Stu­der.«

Das war al­les.

Und ein­mal kam Son­ja Wit­schi. Sie be­dank­te sich. Die Ver­si­che­rung war nicht aus­be­zahlt wor­den. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter hat­te sie alle drei vor­ge­la­den, die Mut­ter, Ar­min und Son­ja. Man hat­te da­von ab­ge­se­hen, eine Kla­ge auf Ver­si­che­rungs­be­trug zu stel­len. Man war froh, den gan­zen Fall Wit­schi ad acta zu le­gen…

– Wie es dem Schlumpf gin­ge, woll­te Stu­der wis­sen. Gut, sag­te Son­ja und wur­de rot.

… Die Som­mer­spros­sen auf dem Na­sen­sat­tel, an den Schlä­fen…

– Ar­min wer­de auch bald hei­ra­ten, sag­te sie. Die Mut­ter habe noch im­mer den Bahn­hof­ki­osk.

Und zum Schluss kam der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Sein sei­de­nes Hemd war dies­mal cre­me­far­ben. Den Sie­gel­ring trug er noch im­mer.

»Ich war schon ein­mal da, Herr Stu­der«, sag­te er. »Aber der Arzt war so grob. Ich wun­de­re mich im­mer über den Man­gel an gu­ter Kin­der­stu­be bei aka­de­misch ge­bil­de­ten Leu­ten, bei Me­di­zi­nern vor al­lem.«

– Das sei nun ein­mal so, mein­te Stu­der. Er hat­te die Hän­de auf der Bett­de­cke ge­fal­tet und dreh­te die Dau­men um­ein­an­der.

»Wa­rum sind Sie da­mals mit Äsch­ba­cher ge­fah­ren, Herr Stu­der? Hat­ten Sie et­was Wich­ti­ges ent­deckt? Sie mach­ten da­mals so merk­wür­di­ge An­deu­tun­gen? Hat Wit­schi ei­gent­lich kei­nen Selbst­mord be­gan­gen, war es doch ein Mord? Hat Ih­nen der se­li­ge Herr Ge­mein­de­prä­si­dent et­was mit­ge­teilt? Et­was Wich­ti­ges? Das er auch mir mit­tei­len woll­te? Sie schwei­gen, Stu­der? Was hat Ih­nen Äsch­ba­cher mit­ge­teilt, dass Sie es so ei­lig hat­ten, mit ihm nach Thun zu fah­ren?«

Stu­der starr­te zur De­cke, schwieg eine Zeit lang. Dann sag­te er, und sei­ne Stim­me war aus­druck­los:

 

»Nüt Apar­tigs…«

ENDE