Die Wolken draußen sanken immer tiefer, es wurde düster im Zimmer. Äschbacher saß vergraben in seinem Stuhl, Studer konnte nur seine Knie sehen. Ein heiseres Krächzen war hörbar, man wusste nicht, war es ein Räuspern oder ein unterdrücktes Lachen.
»Was er sonst noch von Euch gewusst hat, der Wendelin Witschi, hab’ ich nicht erfahren…« Das Reden ging jetzt leichter. Aber immer noch sprach Studer langsam, und was das Merkwürdigste war, es war wie eine Spaltung seiner Persönlichkeit: er sah das Zimmer von oben, sah sich selbst, nach vorne gebeugt, mit gefalteten Händen, im Stuhle sitzen und dachte dabei: »Studer, du siehst sicher aus, wie ein Pfarrer, wenn er eine Kondolenzvisite macht.« Aber auch das verging wieder, und er sah plötzlich das Zimmer des Untersuchungsrichters und den Schlumpf, der seinen Kopf auf den Schoß des Mädchens gelegt hatte.
»Wenn’s darauf ankommt«, sagte Studer, »wird auch das noch zu ermitteln sein. Ich habe mir sagen lassen, dass Ihr mit Mündelgeldern spekuliert habt, Äschbacher; Ihr seid doch hier in der Vormundschaftsbehörde… und dass Ihr das Geld wieder zurückgezahlt habt, aber, dass der Witschi davon gewusst hat. Er ist doch mit Euch in der Fürsorgekommission gesessen? Oder? Ihr braucht nicht zu antworten. Ich erzähl’ Euch das nur, damit Ihr den Studer nicht für einen Löli haltet. Der Wachtmeister Studer weiß auch einiges…«
Schweigen. Studer stand auf, aber immer noch ohne auf Äschbacher zu schauen, griff nach einer Flasche, schenkte sich ein, leerte das scharfe Zeug, setzte sich wieder und zog eine Brissago aus dem Etui. Merkwürdig, aber sie schmeckte. Sein Herz machte zwar noch immer Seitensprünge; – aber, dachte er, heut’ nachmittag werd’ ich ins Spital fahren. Dort hat man Ruhe.
»Soll ich Euch erzählen, wie die ganze Geschichte gegangen ist, Äschbacher? Ihr braucht gar nicht zu sprechen.
Ihr braucht weder ja noch nein zu sagen. Ich erzähl’ sie so mehr für mich.«
Und Studer faltete wieder die Hände und starrte auf das Muster im Teppich, das ein schwarzes Rechteck darstellte mit roten Fäden darin.
»Eure Base hat Euch erzählt, was der Witschi vorhatte. Von ihr habt Ihr auch erfahren, wann der Witschi seinen Plan ausführen wollte. Aber Ihr trautet dem Witschi nicht. Ihr wusstet, dass er feig war – mein Gott, ein Erpresser ist immer feig – und Ihr dachtet, dass er es nicht einmal wagen würde, sich selbst zu verwunden. Darum seid Ihr mit Eurem Auto an jenen Platz gefahren. Und den Platz habt Ihr ja ganz genau gewusst. Der Augsburger hat damals schon bei Euch gewohnt. Warum habt Ihr den Mann bei Euch aufgenommen? Waret Ihr etwa eifersüchtig auf den Ellenberger? Wolltet Ihr auch Euren entlassenen Sträfling haben? Nun, das ist ja gleich. Ihr seid also mit Eurem Auto zu jenem Platz gefahren und habt darauf gerechnet, dass der Armin sich verdrücken würde, wenn er Euer Auto höre. Das hat er gemacht. Dann habt Ihr schön Zeit gehabt, die Brieftasche des Witschi zu durchsuchen. Das Dokument, mit dem er Euch erpresst hat, war wohl in der Brieftasche? Und dann seid Ihr weiter in den Wald gegangen. Dem Witschi konnte man leicht folgen, er hat wohl genug Lärm gemacht. Dann ist es still geworden, Ihr habt gewartet. Ihr habt einen Schuss gehört, seid näher gekommen. Der Witschi ist dagestanden, den Browning noch in der Hand – unverletzt. Was Ihr dann mit ihm gesprochen habt, weiß ich nicht. Ich bin sicher, Ihr habt Eure Rolle gut gespielt. Arm um die Schultern gelegt, wahrscheinlich, ihn getröstet, ihn ein wenig weitergeführt.
Und Eure Pistole habt Ihr wohl in der Tasche gehabt. Dann habt Ihr Euch von ihm verabschiedet, seid ein paar Schritte von ihm weg, einen Meter vielleicht, und habt ihn von hinten erschossen.«
Pause. Studer nahm noch einen Schluck. Merkwürdig, dass er gar keine Betrunkenheit spürte, im Gegenteil, er wurde nüchterner, es schien ihm, als werde sein Kopf immer klarer, der unangenehme Stich war verschwunden. Er zündete umständlich seine Brissago wieder an, die während des Redens ausgegangen war.
»Zwei Fehler, Äschbacher, zwei große Fehler!« sagte Studer, wie ein Lehrer, der einen begabten Schüler nicht tadeln, sondern im Gegenteil fördern will.
»Der erste: Warum nicht Witschis Revolver nehmen? Armin hätte ihn gefunden; die ganze Geschichte hätte reibungslos geklappt. Ich wäre höchstens bis zum Selbstmord vorgedrungen, nie weiter. Und der zweite Fehler, aus dem alle übrigen sich dann ergeben haben: Warum den Browning in jener Automobiltasche lassen? Irgendwer hat ihn doch finden müssen. Und dass ihn gerade der Augsburger, der kleine Einbrecherdilettant, hat finden müssen, das war Pech… Pech? Vielleicht habt Ihr das gerade gewollt?«
Studers Augen hatten sich endlich von dem schwarzen Muster losgerissen. Er starrte nun auf ein anderes, das wie ein Haus aussah, dachte an einen Spruch, der in blauer Farbe an eine Wand gemalt war, und die Farbe begann abzubröckeln: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.‹
»Es ist merkwürdig mit uns Menschen«, fuhr Studer fort, »wir tun manchmal gerade das, was wir vermeiden möchten, das, wovor unser Verstand uns warnt. Ein Bekannter von mir, der nun tot ist, sprach immer von Unterbewusstsein. Als ob das Unterbewusste einen eigenen Willen hätte. Und bei Euch, Äschbacher, muss ich immer an so etwas denken. Denn Ihr habt doch alles getan, damit man auf Euch aufmerksam wird. Und das kann man nicht nur mit Eurer Spielleidenschaft erklären, es steckt wohl etwas anderes dahinter. Im Grunde habt Ihr doch gewollt, dass der Mord auskommt. Sonst hättet Ihr doch nicht den Gerber und den Armin mit Eurem Auto ausgeschickt, um den Ellenberger und den alten Cottereau zu überfahren. Wer hat Euch erzählt, dass der Cottereau Euch gesehen hatte? Der Augsburger?«
»Ich hab den Augsburger damals mitgenommen, wie ich den Witschi hab treffen wollen…« Ganz ruhig kam die Stimme von drüben. Keine Aufregung brachte sie zum Zittern. Sie klang genau wie die Stimme des Ansagers, wenn er verkündete: »Die Überschwemmungen im unteren Rhonegebiet haben große Ausmaße angenommen.«
»Und Ihr habt nicht Angst gehabt, dass er Euch verraten würde?«
»Er war ein treuer Bursch. Später hätt ich ihn ins Ausland geschickt…«
»Aber er wurde gesucht. Und der Autodiebstahl…«
»Mein Gott«, sagte Äschbacher, »solche Leute gehen nicht so sparsam mit den Jahren um, wie wir.«
Studer nickte. Das stimmte.
»Und«, fuhr Äschbacher fort, »den beiden anderen Burschen hab’ ich angegeben, ein Tschucker wolle sich in unsere Angelegenheiten mischen… Sie haben viel Kriminalromane gelesen, die Burschen, sie haben es gerne gemacht. Sie wollten John Kling spielen.«
Einen Augenblick übermannte den Wachtmeister schier der Stolz. Er hatte den Äschbacher dazu gebracht, zu sprechen; er hatte ihn gezwungen, zuzugeben. Da blickte er zum ersten Mal auf und der Stolz verging ihm. Ihm gegenüber, im tiefen Stuhl, saß ein zusammengesunkener Mann, der schwer atmete. Das Gesicht war rot angelaufen, die Hände zitterten, der Mund stand ein wenig offen. Aber nur einen Augenblick verblieb der Mann so. Dann schloss sich der Mund, die Augen blickten wieder gerade vor sich hin, an Studer vorbei, zum Fenster hinaus.
»Die beiden Burschen«, sagte Studer, »haben den armen Cottereau ordentlich durchgeprügelt. Er hat mir nichts sagen wollen. Und auch der alte Ellenberger wusste von der Sache?«
»Vielleicht nachher. Der Cottereau hat auch zuerst gar nicht gewusst, dass ich den Witschi erschossen habe. Ich habe nur vorbeugen wollen, er sollte es Euch nicht gleich erzählen, dass er mich dort gesehen hatte.«
»Wann hat er Euch erkannt?«
»Wie ich ins Auto gestiegen bin. Da hat ihn auch der Augsburger gesehen, den Cottereau nämlich…«
Jetzt eine Platte da haben! dachte Studer, und das Gespräch aufnehmen!
»Warum habt Ihr den Augsburger im gestohlenen Auto nach Thun geschickt, damit er sich verhaften lassen soll? Denn das habt Ihr doch gewollt?«
»Fragt nicht so dumm, Wachtmeister!« Es war der Gemeindepräsident, der sprach. »Natürlich hab ich ihn geschickt. Zwei Gründe: Er hätte von der Belohnung hören können, die Ihr habt ausschreiben lassen, und dann wollt ich Euch einen Strich durch die Rechnung machen. Wenn der Schlumpf gestand, so waret Ihr schachmatt, nid? Und Augsburger kannte den Schlumpf. Er sollte versuchen, mit ihm in Verbindung zu treten und ihm von Sonja ausrichten, es stünde schlecht und er müsse gestehen, sonst würden alle wegen Versicherungsbetruges verhaftet. Ich hab natürlich nicht erwartet, dass mir die Leute in Thun so entgegenkommen und den Augsburger mit dem Schlumpf in eine Zelle sperren. Wollt Ihr sonst noch etwas wissen? Der Augsburger hat schlecht geschwindelt, ich weiß es. Aber er hat keine große Erfindungsgabe, darum hat er alles auf den Ellenberger gewälzt.«
»Ja, der Ellenberger«, sagte Studer, ganz freundschaftlich, so, wie man sich an einen Kollegen um Auskunft wendet. »Was haltet Ihr vom Ellenberger?«
»Eh«, sagte Äschbacher. »Ihr kennt doch diese Sorte Leute. Immer muss etwas gehen, immer müssen sie eine Rolle spielen, weil sie im Innern hohl sind. Das schwätzt, das macht sich interessant, das blagiert von marokkanischen Residenten, von Vermögen, das gründet den ›Convict Band‹ – das einzige, was ich am Ellenberger schätze, ist, dass er den Schlumpf gerne gemocht hat.«
Schweigen. Es war fertig. jetzt kam das Schwerste. Wie sollte man nun die Verhaftung vornehmen? Man war schwach auf den Beinen, man war krank. Der Äschbacher war ein großer schwerer Mann, das Telefon, mit dessen Hilfe man vielleicht den Murmann hätte herbeirufen können, stand in der anderen Ecke, man hatte zwar einen Revolver in der Tasche, auch einen Verhaftbefehl hatte man. Aber…
»Ihr studiert, Wachtmeister, wie ihr es am besten machen könnt, um mich zu verhaften? Oder nicht?« sagte da Äschbacher mit ruhiger Stimme. »Macht Euch keine Sorgen. Ich komm mit nach Thun. Aber wir fahren mit meinem Auto, und ich fahre. Habt Ihr soviel Kurasch?«
Äschbacher hatte nicht nur Studers Gedanken erraten, er hatte auch des Wachtmeisters empfindliche Stelle getroffen.
»Angst? Ich?« fragte Studer beleidigt. »Fahren wir!«
»Ich… will… meiner… Frau noch Adieu sagen.« Die Worte kamen stockend. Studer nickte.
An der Tür sagte Äschbacher noch:
»Bedient Euch, Wachtmeister…« und wies auf die Flaschen, die auf dem Tisch standen.
Studer bediente sich. Dann sank er in seinen Stuhl zurück und schloss die Augen. Er war müde, hundsmüde. Er war gar nicht mehr stolz. Er kam nicht recht nach. Warum hatte der Äschbacher alles zugegeben? Hatte er gemerkt, dass Studer der Einzige war, der von der ganzen Sache wusste? Bezog sich die Frage wegen der Angst auf diese Tatsache? Man würde sehen…
Eigentlich hätte Studer noch ganz gerne einmal mit Frau Äschbacher gesprochen. Was war das für eine Frau? Sie sprach so merkwürdig. Eine Ausländerin? Wo hatte der grobe Äschbacher diese feine Frau aufgetrieben… Die las wohl keine Romänli in der Nacht, vielleicht spielte sie Klavier? Oder Geige? Das Kopfweh kam wieder. Aber nun war wohl bald alles zu Ende. Eigentlich hätte man einen Gefreiten von Bern verlangen können, um den Äschbacher einzuliefern… Dann hätte man gleich ins Bett kriechen können. War es nicht besser, man ging dann heim und legte sich dort ins Bett? Es pflegte nicht schlecht, ’s Hedy. Warum wollte er partout ins Spital?
Da ging die Türe auf:
»Wei mer go?« fragte Äschbacher, so ruhig, als ob es sich um eine Spazierfahrt handle.
Studer stand auf. Sein Mund war trocken. Er fühlte eine merkwürdige Leere im Magen und tröstete sich, das käme vom Fieber, vom Hunger, vom Trinken auf nüchternen Magen. Aber das Gefühl wollte nicht vergehen.
Wenn nicht die Hände gewesen wären, die großen, dicken Hände auf dem Lenkrad, die von Zeit zu Zeit zuckten, um den Wagen wieder in die Richtung zu bringen, hätte man meinen können, man säße neben einem steinernen Mann. Äschbacher rührte sich nicht. Sein Mund war fest geschlossen, die Blicke geradeaus gerichtet. Der Scheibenputzer pendelte hin und her und schnitt in die trübe Scheibe eine geometrische Figur, die Studer an die Sekundarschule erinnerte.
»Ist Eure Frau Ausländerin?« fragte er schüchtern, um das Schweigen zu brechen.
Keine Antwort. Studer schielte nach seinem Begleiter. Da sah er, dass zwei große Tränen über die wulstigen Wangen liefen, im Schnurrbart versickerten, zwei neue kamen, verschwanden. Studer blickte scheu beiseite. Es sah tragisch und grotesk aus, wie so vieles im Leben.
Eine Hand ließ das Steuerrad los, suchte in der Tasche. Schneuzen.
»Verdammter Schnupfen«, tönte es heiser. »Sie ist in Wien aufgewachsen. Die Eltern waren Schweizer.«
»Und was meint sie?« Studer hätte sich ohrfeigen können. So etwas sagt man doch nicht! Und es war wirklich ein Fehler. Denn plötzlich traf Studer ein Blick… Er war bösartiger, dieser Blick, als jener, den er damals im ›Bären‹ erhalten hatte. Wieweit war das weg! Studer sah die kurze Bewegung, mit der Äschbacher die Karten fächerförmig auseinanderbreitete…
Ganz ruhig kam nun die Stimme:
»Das hättet Ihr nicht sagen sollen, Wachtmeister!«
Die Straße lief am See entlang. Aber der See war fast nicht zu erkennen. Die ganze Straßenbreite lag dazwischen, dann kam eine niedere Mauer, und hinter der niederen Mauer sah man mit Mühe eine große feuchte Ebene, grau, grau, verschwommen, kalt. Das Auto fuhr langsam.
Wie spät war es eigentlich? Studer wollte seine Uhr ziehen, er hatte schon Daumen und Zeigefinger in der Westentasche versenkt, da hörte er eine ganz fremde Stimme sagen – und sie hatte gar keine Ähnlichkeit mehr mit der Stimme des Ansagers vom Radio Bern:
»Use, los! Sonst…«
Studers Uhr flog aus der Westentasche, seine rechte Hand umkrampfte den Griff der Türklinke, drückte sie nieder, riss sie in die Höhe (wie funktionierte nur so eine Klinke?), Studer warf seinen massiven Körper mit aller Gewalt gegen die Tür, sie sprang auf, er flog auf die Straße, blieb mit einem Fuß an der unteren Türkante hängen, wurde ein Stück mitgeschleift. Seine Schulter, sein Kopf prallten gegen etwas Hartes, ein riesiger Schatten war über ihm, verschwand… Und dann wurde es endgültig dunkel.
»Nein, jetzt wird nicht mikroskopiert«, sagte eine tiefe Stimme. Es war Nacht. Irgendwo brannte ein grünes Licht. Studer versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, wo er die Stimme schon einmal gehört hatte.
»Pikrin…« flüsterte Studer. Er hörte ein Lachen.
»Der verdammte Fahnder, nie kann er Ruh’ geben. Passen Sie auf, Schwester. Wie gesagt, alle Stunden Coramin, alle drei Stunden Transpulmin, verstanden? Gott sei Dank, ist er noch ein fester Kerl. Es ist kein Spaß, wenn man zwei Frakturen hat und dazu noch…«
Weiter hörte Studer nichts. Es war doch einmal ein schwarzer Vorhang dagewesen, jetzt aber senkte sich ein roter über ihn, es rauschte, Glocken läuteten. Der Whisky war scharf. Das gab Durst. Wie hatte doch der See ausgesehen? Eine weite Ebene grau, grau, kalt und feucht…
Dann war wieder einmal Sonne da und ein ganz bekanntes Geräusch. Studer lauschte. Es klickte… klickte. Was war das? Früher hatte das Geräusch ihn immer verrückt gemacht, er kannte es gut. Was war es nur? Natürlich! Stricknadeln! Er rief leise: »Hedy!«
»Ja?«
Ein Schatten zwischen ihm und der Sonne.
»Grüß di«, sagte Studer und blinzelte mit den Augen.
»Salü!« sagte Frau Studer, als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre.
– Was denn eigentlich mit ihm los sei? fragte Studer. – Nüt Apartigs, meinte die Frau. Fieber, Brustfellentzündung, Oberarm gebrochen, Schlüsselbeinfraktur. Er solle froh sein, dass er noch nicht tot sei.
Sie tat dergleichen, als ob sie ärgerlich sei. Aber hin und wieder presste sie die Lippen zusammen.
»Äbe, jooo«, sagte Studer und schlief wieder ein.
Das dritte Mal ging es schon ganz gut. Da war der Punkt, der stechende Punkt in der Brust verschwunden. Aber der rechte Arm war noch schwer. Studer trank eine Tasse Bouillon und schlief wieder ein.
Das vierte Mal wachte er auf, weil ein Heidenkrach vor der Zimmertür stattfand. Eine ärgerliche Stimme verlangte Einlass, eine andere Stimme (war das nicht der Dr. Neuenschwander?) wurde boshaft und fluchte. Es war alles so unerträglich laut.
»Die Leute sollen still sein!« flüsterte Studer.
Und wirklich schwiegen sie bald darauf.
Und dann kam endlich das große Erwachen. Es war morgens, kühl, das Fenster musste gerade geöffnet worden sein. Das Zimmer war klein, die Wände mit grüner Ölfarbe gestrichen. Geranien blühten auf dem Fensterbrett.
Eine dicke Schwester war daran, das Zimmer zu kehren.
»Schwester«, sagte Studer und seine Stimme war fest, »ich hab Hunger.«
»So, so«, sagte die Schwester nur, kam näher, beugte sich über Studer. »Geht’s besser?«
»Wo bin ich?« fragte Studer und begann zu lachen. So fragten doch immer die Helden in den Romanen von… von… wie hieß die alte Trucke nur, die immer Romane schrieb? Felicitas? Ja, Felicitas…
»Gemeindespital Gerzenstein«, sagte die Schwester. Irgendwo spielte Musik.
»Was ist das?« fragte Studer.
»Hafenmusik – Hamburg«, sagte die Schwester.
»Gerzenstein und die Lautsprecher«, murmelte Studer. Und dann gab es Milch und Weggli und Anken und Konfitüre. Studer bekam Lust nach einer Brissago. Aber als er diesen Wunsch äußerte, kam er bei der Schwester bös an.
Und dann kam ein Nachmittag, an dem er allein im Zimmer lag. Seine Frau war nach Bern zurückgefahren und hatte versprochen, ihn am Ende der Woche holen zu kommen.
Da kam die Schwester herein, eine Dame (sie sagte ›eine Dame‹) wolle den Wachtmeister sprechen. Studer nickte.
Die Haare der Dame waren weiß wie… wie… Flieder.
Studer wusste, dass Äschbacher im See ertrunken war. Ein Unglücksfall, war ihm gesagt worden. Studer hatte genickt.
Die Dame setzte sich an Studers Bett, die Schwester ging hinaus. Die Dame schwieg.
»Bonjour Madame«, sagte Studer mit einem hilflosen Versuch, zu scherzen. Die Dame nickte.
Schweigen. Eine Hummel strich summend durchs Zimmer. Es musste wohl Ende Juni sein.
»Es war meine Schuld«, sagte Studer leise. »Ich hab ihn nach Ihnen gefragt, Madame, und da hat er geweint. Die Tränen sind ihm über die Wangen gelaufen. Ja. Und dann hab ich ihn noch gefragt, was Sie gemeint hätten, so, zu der ganzen Sache. Dann hat er mich noch gewarnt. Ich habe gerade Zeit gehabt, aus dem Wagen zu springen. Ich mein’ er ist dann über die Mauer… Glauben Sie nicht, es ist besser so?«
»Ja«, sagte die Dame. Sie weinte nicht. Sie hatte die Hand auf Studers Arm gelegt. Eine sehr leichte Hand.
»Ich sage nichts, Madame«, sprach Studer ganz leise.
»Danke, Herr Studer.«
Das war alles.
Und einmal kam Sonja Witschi. Sie bedankte sich. Die Versicherung war nicht ausbezahlt worden. Der Untersuchungsrichter hatte sie alle drei vorgeladen, die Mutter, Armin und Sonja. Man hatte davon abgesehen, eine Klage auf Versicherungsbetrug zu stellen. Man war froh, den ganzen Fall Witschi ad acta zu legen…
– Wie es dem Schlumpf ginge, wollte Studer wissen. Gut, sagte Sonja und wurde rot.
… Die Sommersprossen auf dem Nasensattel, an den Schläfen…
– Armin werde auch bald heiraten, sagte sie. Die Mutter habe noch immer den Bahnhofkiosk.
Und zum Schluss kam der Untersuchungsrichter. Sein seidenes Hemd war diesmal cremefarben. Den Siegelring trug er noch immer.
»Ich war schon einmal da, Herr Studer«, sagte er. »Aber der Arzt war so grob. Ich wundere mich immer über den Mangel an guter Kinderstube bei akademisch gebildeten Leuten, bei Medizinern vor allem.«
– Das sei nun einmal so, meinte Studer. Er hatte die Hände auf der Bettdecke gefaltet und drehte die Daumen umeinander.
»Warum sind Sie damals mit Äschbacher gefahren, Herr Studer? Hatten Sie etwas Wichtiges entdeckt? Sie machten damals so merkwürdige Andeutungen? Hat Witschi eigentlich keinen Selbstmord begangen, war es doch ein Mord? Hat Ihnen der selige Herr Gemeindepräsident etwas mitgeteilt? Etwas Wichtiges? Das er auch mir mitteilen wollte? Sie schweigen, Studer? Was hat Ihnen Äschbacher mitgeteilt, dass Sie es so eilig hatten, mit ihm nach Thun zu fahren?«
Studer starrte zur Decke, schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er, und seine Stimme war ausdrucklos:
»Nüt Apartigs…«
ENDE
Эта и ещё 2 книги за € 399