Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

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Der Fall Wendelin Witschi zum zweiten

Neh­met Platz, Stu­der«, sag­te Frau Mur­mann. Auf dem Tisch stand eine große Plat­te mit Auf­schnitt und Schin­ken, es gab Salat, und an der einen Ti­sche­cke, dicht ne­ben Mur­manns Platz, stan­den vier Fla­schen Bier.

»Und, Stu­der, zie­het den Kit­tel ab«, mein­te Frau Mur­mann noch. Dann emp­fahl sie sich. Sie müs­se das Kind stil­len, sag­te sie.

– Ob Stu­der et­was ge­fun­den habe, frag­te Mur­mann, ohne auf­zu­bli­cken. Er war da­mit be­schäf­tigt, ein Bü­schel Salat­blät­ter auf sei­ne Ga­bel zu spie­ßen. Dann kau­te er, an­däch­tig und ab­we­send.

»Ich hab’ den Cot­te­reau ge­fun­den…«, sag­te Stu­der und be­äug­te prü­fend ein Stück saf­ti­gen Schin­kens.

»So, so«, mein­te Mur­mann. »Al­ler­han­d…« Er leer­te sein Bier­glas auf einen Zug. Dann schwie­gen die bei­den.

In ei­ner Ecke des Zim­mers stand ein bun­ter Bau­ern­schrank, des­sen Tü­ren Ro­sen­gir­lan­den um­rank­ten…

Mur­mann trug die Tel­ler hin­aus. Dann setz­te er sich, zün­de­te sei­ne Pfei­fe an. »Also, er­zähl!…«

Aber Stu­der schwieg. Er griff in die hin­te­re Ho­sen­ta­sche, zog die bei Frau Hof­mann ge­fun­de­ne Pis­to­le her­aus und leg­te sie auf den Tisch. Dann such­te er in der Rock­ta­sche, ließ die bei Wit­schis ge­fun­de­ne Pa­tro­nen­hül­se im Licht der Lam­pe glän­zen und frag­te schließ­lich:

»Ge­hö­ren die bei­den zu­sam­men?«

Mur­mann ver­tief­te sich in die Un­ter­su­chung. Er nick­te ein paar­mal…

»Das Ka­li­ber ist das glei­che«, sag­te er still. »Ob die Hül­se von der Waf­fe da ab­ge­schos­sen wor­den ist, kann ich nicht so ohne wei­te­res sa­gen. Es sind hei­kle Sa­chen. Man müss­te den Ein­schlag prü­fen… Wo hast du die Hül­se ge­fun­den?«

»In ei­ner Vase auf dem Kla­vier im Wohn­zim­mer der Wit­schis. Es wa­ren fünf­zehn Hül­sen in der Vase. Es hat so aus­ge­se­hen, als ob ei­ner eif­rig die Pis­to­le pro­biert hät­te…«

»Ja?« sag­te Mur­mann.

»Die Son­ja fürch­tet sich… Ganz si­cher vor min­des­tens vier Leu­ten: vor dem Coif­feur­ge­hil­fen, dem Leh­rer Schwomm, vor ih­rem Bru­der und viel­leicht auch vor dem ›On­kel Äsch­ba­cher‹.«

»Ja«, sag­te Mur­mann, »das glaub’ ich. Die Son­ja meint, dass ihr Va­ter Selbst­mord be­gan­gen hat. Aber wenn man Selbst­mord an­nimmt, dann wer­den kei­ne Ver­si­che­run­gen aus­ge­zahlt. Und der Ger­ber, der Coif­feur, hat be­merkt, dass bei dem so­ge­nann­ten Mord nicht al­les stimmt. Und nun hat die Son­ja Angst, er kön­ne et­was sa­gen… Ver­stehst du?«

»Er­zähl’ ein­mal die Ge­schich­te von An­fang an. Ich brauch’ we­ni­ger die Tat­sa­chen als die Luft, in der die Leu­te ge­lebt ha­ben… Ver­stehst? So die klei­nen Sä­che­li, auf die nie­mand acht­gibt und die dann ei­gent­lich den gan­zen Fall er­hel­len… Hell!… So­weit das mög­lich ist, na­tür­lich.«

Von großen Pau­sen un­ter­bro­chen, mit vie­len Ab­schwei­fun­gen und un­ge­zähl­ten ein­ge­schal­te­ten ›Nid?‹ und ›Be­griifscht?‹ er­zähl­te Land­jä­ger­kor­po­ral Mur­mann dem Wacht­meis­ter Stu­der etwa fol­gen­de Ge­schich­te:

– Der Wit­schi Wen­de­lin hat­te vor zwei­und­zwan­zig Jah­ren ge­hei­ra­tet. Er war da­mals bei der Bahn ge­we­sen. Das Ehe­paar hat­te zu­erst eine Woh­nung im Haus des Äsch­ba­cher in­ne­ge­habt, dann war eine Tan­te der Frau Wit­schi ge­stor­ben, die Erb­schaft war ziem­lich groß ge­we­sen und da hat­ten sie sich ent­schlos­sen zu bau­en…

»Wie heißt üb­ri­gens die Frau Wit­schi mit dem Vor­na­men?« frag­te Stu­der.

»Ana­sta­sia… Wa­rum?«

Stu­der lä­chel­te, schwieg eine Wei­le, dann sag­te er:

»Nur so, er­zähl’ wei­ter…«

– Sie hat­ten also das Haus ge­baut, Kin­der wa­ren ge­kom­men, das Ehe­paar schi­en glück­lich zu sein. Die Frau war schaf­fig, sie hielt den Gar­ten in Ord­nung, sie be­dien­te im La­den. Am Abend sah man die bei­den ein­träch­tig auf ei­ner Bank vor dem Hau­se sit­zen, der Wit­schi las die Zei­tung, die Frau strick­te…

– Stu­der sah das Bild deut­lich vor sich. Un­ter den Fens­tern des ers­ten Stockes glänz­te noch, neu und un­ver­blasst, der Name des Hau­ses, ›Al­pen­ruh‹, und über der Tür der Spruch: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück her­ein.‹ Der Wen­de­lin Wit­schi hock­te auf der Bank, mit auf­ge­krem­pel­ten Hemds­är­meln, bis­wei­len leg­te er die Zei­tung bei­sei­te (er las si­cher nur den Ger­zen­stei­ner An­zei­ger), stand auf, um ein Zweig­lein am Spa­lier an­zu­bin­den, das im Wind schau­kel­te, kam zu­rück… im Sand krab­bel­ten die bei­den Kin­der. Die Luft war still. Heu­ge­ruch lag schwer in der Luft. Die Frau sag­te: ›Du, loos ei­nisch…‹ Sehr viel Frie­den. Die La­denklin­gel schrill­te. Man stand ge­müt­lich auf, ging zu­sam­men in den La­den, be­sprach mit den Kun­den das Wet­ter, die Po­li­ti­k… Der Wen­de­lin (wie nann­te ihn wohl sei­ne Frau? Das müss­te man ei­gent­lich auch wis­sen… Vat­ter? Wahr­schein­lich. Das pass­te am bes­ten… ), der Wen­de­lin hat­te die Dau­men in den Aus­schnit­ten der Wes­te und war ein an­ge­se­he­ner Bür­ger, ver­wandt mit dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten, Haus­be­sit­zer… Und dann, Jahr für Jahr, die Än­de­run­gen… Die Frau, die häs­sig wird, die Frau, die Ro­ma­ne liest, dann die fi­nan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten, der Sohn, der sich auf die Sei­te der Mut­ter schlägt, der Gar­ten, der ver­lot­tert, der Wen­de­lin, der rei­sen geht, der Wen­de­lin, der Schnaps trinkt, die Zeit­schrif­ten mit den Ver­si­che­run­gen… Bei Gan­zin­va­li­di­tät war die Sum­me doch ge­ra­de so hoch wie bei To­des­fall… Aber als Bild, das sich nicht ver­trei­ben ließ, sah Stu­der im­mer die Bank vor dem Haus, die Kin­der, die am Bo­den spiel­ten, das lo­cke­re Zweig­lein, das im Win­de schwank­te, und das der Wen­de­lin mit ei­nem gel­ben Bast­fa­den fest­ban­d…

Stu­der hat­te eine Wei­le nicht mehr zu­ge­hört, jetzt horch­te er auf, denn Mur­mann sag­te:

»… und einen Hund hat er auch ge­habt. Ein­mal, wie der Wit­schi halb be­sof­fen nach Haus ge­gan­gen ist, ha­ben ihn ein paar Bur­schen an­ge­ödet. Da hat der Hund ge­bellt und ist auf die Bur­schen los. Ei­ner hat ihn mit ei­nem Stein tot­ge­schla­gen…«

Das ge­hör­te na­tür­lich auch dazu. Der Wit­schi, der sich ein­sam fühlt und sich einen Hund hält. Wahr­schein­lich war der das ein­zi­ge We­sen, das ihm kei­ne Vor­wür­fe mach­te, vor dem er kla­gen konn­te… Und wie­der ver­sank Stu­der ins Träu­men.

– Er sah die Fa­mi­lie Wit­schi um den Tisch sit­zen, im Wohn­zim­mer, das er kann­te. In der Ecke stand das stau­bi­ge Kla­vier. Der Wit­schi ver­such­te Zei­tung zu le­sen… Und die kei­fen­de Stim­me der Frau: Ver­si­chert sei­en sie und das vie­le Geld, das man der Ver­si­che­rung ge­zahlt habe! Die Frau dach­te nicht dar­an, dass schließ­lich sie bis jetzt alle Vor­tei­le ge­nos­sen hat­te von die­ser Ver­si­che­rung, die bun­ten Heft­li mit den Ro­ma­nen dar­in… Wa­ren die­se Ro­ma­ne nicht et­was Ähn­li­ches für die Ana­sta­sia Wit­schi wie für ih­ren Mann der Schnaps? Eine Mög­lich­keit, der Öde zu ent­rin­nen, zu flie­hen in eine Welt, in der es Kom­tes­sen gab und Gra­fen, Sch­lös­ser und Tei­che und Schwä­ne und schö­ne Klei­der und eine Lie­be, die sich in Sprü­chen Luft mach­te, wie: ›Son­ja, mei­ne ein­zig Ge­lieb­te…‹

Mur­mann schwieg schon eine ge­rau­me Wei­le. Er woll­te den Wacht­meis­ter nicht in sei­nen Träu­men stö­ren. Plötz­lich schi­en Stu­der das Schwei­gen auf­zu­fal­len. Er schreck­te auf.

»Nur wei­ter, nur wei­ter… Ich hör schon zu…«

– Es schei­ne nicht, mein­te Mur­mann, über was denn Stu­der so tief nach­ge­dacht habe? – Er wer­de es ihm spä­ter sa­gen. Mur­mann sol­le jetzt die bei­den Tage schil­dern, die Ent­de­ckung der Lei­che, die Un­ter­su­chung, die Flucht des Schlumpf… – Da sei nicht viel zu sa­gen, nicht mehr auf alle Fäl­le, als was in den Ak­ten stün­de. Stu­der sol­le einen Au­gen­blick war­ten…

Mur­mann stand auf, um die Ak­ten zu ho­len…

Die Stil­le im Zim­mer war tie­f… Stu­der ging zum Fens­ter und öff­ne­te einen Flü­gel.

Deut­lich durch die Nacht drang ein Sum­men zu ihm.

Er kann­te das Lied. Eine Klein­mäd­chen­stim­me hat­te es ges­tern vor ei­nem Zel­len­fens­ter ge­sun­gen:

»O, du liebs En­ge­li…«

Das Sum­men rie­sel­te von oben durch das Dun­kel. Frau Mur­mann sang ihr Kind in den Schlaf…

Der Land­jä­ger kam zu­rück. Er trug lose Blät­ter in der Hand, setz­te sich, brei­te­te sie vor sich aus und be­gann zu spre­chen. Stu­der stand am Fens­ter, ge­gen die Wand ge­lehnt.

– Der Cot­te­reau – üb­ri­gens, wie habe Stu­der den Cot­te­reau ent­deckt? – Stu­der wink­te ab: Spä­ter…

– Also der Cot­te­reau sei in den Pos­ten ge­stürzt ge­kom­men und habe wir­res Zeug durch­ein­an­der­ge­re­det von ei­nem To­ten, der im Wald lie­ge… Ein Er­mor­de­ter!…

»Ich hab’ an den Re­gie­rungs­statt­hal­ter te­le­fo­niert, be­vor ich auf­ge­bro­chen bin, und der hat ver­spro­chen zu kom­men. Vor der Türe hab’ ich den Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher ge­trof­fen, der war vom Leh­rer Schwomm be­glei­tet. Das war nichts Merk­wür­di­ges, denn der Schwomm ist Ge­mein­de­schrei­ber. Die bei­den ha­ben sich auf­ge­drängt, der Äsch­ba­cher hat so­fort die Un­ter­su­chung in die Hand neh­men wol­len… Da ist er aber schlecht an­ge­kom­men. Ich lass mir nichts vor­schrei­ben. Aber ich habe den Fo­to­gra­fen des Dor­fes bei­ge­zo­gen…«

– Sie sei­en dann zu fünft nach dem Tat­ort ge­gan­gen, der Prä­si­dent, Schwomm, der Fo­to­graf und er, Mur­mann… Cot­te­reau habe sie ge­führ­t… Am Tat­ort an­ge­kom­men, habe Mur­mann den Fo­to­gra­fen an­ge­wie­sen, ein paar Auf­nah­men zu ma­chen, und der Mann habe das ganz rich­tig ge­macht.

Si­cher, sag­te Stu­der, »der hat gut ge­ar­bei­tet. Hast du auch be­merkt, dass kei­ne Tan­nen­na­deln auf dem Rücken des Rockes zu se­hen wa­ren?«

 

Mur­mann schüt­tel­te den Kopf.

– Das sei ihm nicht auf­ge­fal­len. Aber wenn Stu­der es be­merkt habe, dann sei das ja die Haupt­sa­che… Der Ge­mein­de­prä­si­dent habe im­mer drein­re­den wol­len: das sei ein Mord, habe er ge­sagt, si­cher ein Raub­mord, und nie­mand an­ders habe ihn be­gan­gen als ei­ner der Ver­bre­cher, die der El­len­ber­ger bei sich an­ge­stellt ha­be… Na­tür­lich sei­en ein Hau­fen Leu­te bei der Ent­de­ckung da­bei ge­we­sen, so­dass es dem Statt­hal­ter nicht schwer ge­fal­len sei, die Stel­le zu fin­den. Sie hät­ten dann noch den Dr. Neu­en­schwan­der ge­holt, der den Tod fest­ge­stellt und den Wit­schi ins Ge­mein­de­spi­tal habe brin­gen las­sen. Mur­mann habe ver­langt, die Sek­ti­on sol­le im Ge­richts­me­di­zi­ni­schen In­sti­tut aus­ge­führt wer­den. Dr. Neu­en­schwan­der sei är­ger­lich ge­wor­den, habe dann aber auch ein­ge­wil­ligt, nur habe er ein Pro­to­koll auf­ge­setzt und es ›Sek­ti­ons­pro­to­koll‹ ge­tauft, auch mit ei­ner Son­de die Schuss­wun­de un­ter­sucht und dann in ge­lehr­ten Aus­drücken ihre mut­maß­li­che Stel­lung fest­ge­hal­ten…

»Die Ta­schen wa­ren leer?«

»Ganz leer«, sag­te Mur­mann. »Und das ist mir auch auf­ge­fal­len.«

»Wa­rum?«

»Ich weiß sel­ber nicht…«

»Aber an dem Tag soll der Wit­schi drei­hun­dert Fran­ken bei sich ge­habt ha­ben? Er hat doch Rech­nun­gen ein­kas­siert? Und von da­heim noch Geld mit­ge­nom­men?«

– Von da­heim habe er si­cher kein Geld mit­ge­nom­men, dar­auf möch­te er, Mur­mann, schwö­ren. Aber hun­dert­fünf­zig Fran­ken habe er wohl ge­habt, er habe Rech­nun­gen ein­kas­siert, und die Bau­ern, bei de­nen er ge­we­sen sei, hät­ten te­le­fo­nisch die Sa­che be­stä­tig­t…

»Wei­ter!« sag­te Stu­der. Er hat­te eine Bris­sa­go an­ge­zün­det…

– Der Statt­hal­ter sei ein schüch­ter­nes Mann­li, er­zähl­te Mur­mann, und habe im­mer dem Äsch­ba­cher zu­ge­stimmt. Der habe be­tont, es hand­le sich um einen Mord, und das sei Mur­mann merk­wür­dig vor­ge­kom­men. Er für sein Teil sei si­cher, dass Wit­schi sich um­ge­bracht ha­be…

»Nicht gut mög­lich«, sag­te Stu­der. »Der As­sis­tent im Ge­richts­me­di­zi­ni­schen hat’s mir vor­de­mons­triert. Es müss­ten Pul­ver­spu­ren vor­han­den sein. Zu­ge­ge­ben, der Wit­schi hat­te lan­ge Arme, aber stell’ dir ein­mal vor, wie er hät­te die Waf­fe hal­ten müs­sen…« Er trat ins Lam­pen­licht, nahm den Brow­ning vom Tisch, prüf­te, ob er ge­si­chert sei (das Ma­ga­zin war zwar leer, aber… ) und hob ihn dann… Stu­der ver­such­te jene Stel­lung nach­zuah­men, die ihm der ita­lie­ni­sche As­sis­tent vor­de­mons­triert hat­te. Da sein Arm ziem­lich dick war, ge­lang es ihm nicht.

Mur­mann schüt­tel­te den Kopf. Wit­schi sei ge­len­kig ge­we­sen, so­dass eine Mög­lich­keit im­mer­hin vor­han­den sei…

»Er­zähl’ wei­ter!« un­ter­brach ihn Stu­der.

– Es sei nicht mehr viel zu er­zäh­len. Auf Be­fehl des Statt­hal­ters habe er, Mur­mann, am Nach­mit­tag noch die Ar­bei­ter vom El­len­ber­ger ei­nem Ver­hör un­ter­wor­fen. Aber es sei nichts da­bei her­aus­ge­kom­men. Er sei dann zu den Wit­schis ge­gan­gen, habe aber nur den Sohn da­heim an­ge­trof­fen. Der habe nichts sa­gen wol­len… Schließ­lich habe der Ar­min ge­meint, er habe ge­hört, der Va­ter sei im Wald er­mor­det wor­den, aber das sei Sa­che der Po­li­zei.

»Nun bin ich doch stut­zig ge­wor­den. Ich hab’ doch am Mor­gen ex­tra den Fo­to­gra­fen hin­auf­ge­schickt, da­mit er die Fa­mi­lie auf den To­des­fall vor­be­rei­te… Und denk’ dir, da sagt mir der Bursch, es sei ei­gent­lich ein Glück, dass der Va­ter tot sei, sonst hät­t’ man ihn doch in der nächs­ten Zeit ad­mi­nis­tra­tiv ver­sorg­t…«

»Und die drei­hun­dert Fran­ken?«

»Ich bin dann zum Bahn­hof­ki­osk ge­gan­gen und hab’ die Frau Wit­schi aus­ge­fragt. Die hat mir er­zählt, ihr Mann habe am Mor­gen hun­dert­fünf­zig Fran­ken mit­ge­nom­men. Ich hab’ wis­sen wol­len, warum er so viel Geld mit­ge­nom­men hat. Aber sie hat nur im­mer be­haup­tet, ihr Mann habe das Geld ge­braucht. Sonst hat sie nichts sa­gen wol­len. Und dann hat die Frau Wit­schi wei­ter ge­sagt – ge­nau wie ihr Sohn – mit ih­rem Mann sei es nicht mehr zum Aus­hal­ten ge­we­sen, er habe im­mer mehr und mehr ge­sof­fen und der Äsch­ba­cher habe ge­meint, man müs­se ihn ver­sor­gen. Sie habe dem Wen­de­lin kein Geld mehr ge­ge­ben, aber der El­len­ber­ger, der habe im­mer aus­ge­hol­fen, sich Schuld­schei­ne aus­stel­len las­sen… ja, hab’ ich ge­meint, aber die hun­dert­fünf­zig Fran­ken, die der Wit­schi mit auf die Rei­se ge­nom­men habe, wo­her denn die sei­en? Da hat sie ge­merkt, dass sie sich wi­der­spro­chen hat, hat zu­erst et­was ge­stot­tert, der Mann habe sie not­wen­dig ge­braucht, und dar­um habe sie ihm das letz­te Geld ge­ge­ben, dann hat sie nichts mehr sa­gen wol­len…«

»Du meinst also, der Wit­schi hat die drei­hun­dert Fran­ken für ir­gend et­was ge­braucht?«

»Ja, schau, das wär’ dann ganz ein­fach. Der Wit­schi er­schießt sich im Wald. Er hat den Schlumpf an die glei­che Stel­le be­stellt, sa­gen wir um elf Uhr. Der Schlumpf muss den Brow­ning ho­len, denn wenn die Waf­fe ne­ben der Lei­che bleibt, wird nie­mand an einen Mord glau­ben. Der Schlumpf soll die Waf­fe bei­sei­te schaf­fen und, wenn es nö­tig ist, sich an­kla­gen las­sen, da­für be­kommt er drei­hun­dert Fran­ken und dann wird ihm ver­spro­chen, er darf die Son­ja hei­ra­ten, wenn die Un­ter­su­chung nie­der­ge­schla­gen wor­den ist… Das wird man ihm mund­ge­recht ge­macht ha­ben, der gute Tschal­pi hat sich das ein­re­den las­sen und jetzt steckt er im Dreck…«

»Und du meinst, er darf nichts sa­gen?«

»Na­tür­lich, sonst reißt er die Son­ja in die Ge­schich­te hin­ein…«

»Du, Mur­mann… Oder nein, sag mir zu­erst, wer hat dir ge­mel­det, dass der Schlumpf im ›Bä­ren‹ eine Hun­der­ter­no­te ge­wech­selt hat?«

»Das kann ich dir nicht ein­mal sa­gen. Ich hab’ an dem Abend da ne­ben­an mei­nen Rap­port ge­schrie­ben. Da hat das Te­le­fon ge­läu­tet, ich hab’ den Hö­rer ab­ge­nom­men, mich ge­mel­det, aber der an­de­re hat sei­nen Na­men nicht ge­sagt, nur ganz schnell ge­mel­det: ›Der Schlumpf hat im Bä­ren einen Hun­der­ter ge­wech­sel­t‹, und wie ich ge­fragt hab’, wer dort ist, hat es ge­knackt, der an­de­re hat schon ein­ge­hängt ge­hab­t…«

»Und was hast du dann ge­macht?«

»Ich hab’ nicht pres­siert, hab’ mei­nen Rap­port fer­tig ge­schrie­ben, dann um Mit­ter­nacht hab’ ich die Run­de ge­macht durch alle Wirt­schaf­ten. Im ›Bä­ren‹ hab’ ich den Wirt bei­sei­te ge­nom­men und ihn ge­fragt, ob das wahr sei, dass der Schlumpf eine Hun­der­ter­no­te ge­wech­selt habe. ›Ja‹, hat er Wirt ge­sagt. ›Heut’ abend, so um neun Uhr. Der Schlumpf hat einen hal­b­en Li­ter Ro­ten be­stellt, dann einen Ko­gnak ge­trun­ken, nach­her zwei große Bier, und auf das Gan­ze noch einen Ko­gnak!…‹ Mich hat’s ge­wun­dert, dass der Schlumpf so viel ge­trun­ken hat, und ich habe den Wirt ge­fragt, ob der Schlumpf im­mer so sau­fe? Nein, hat der Wirt ge­sagt, sonst nicht, und ihn habe es auch ge­wun­dert. Vi­el­leicht, hat der Wirt ge­meint, müs­se der Schlumpf die Son­ja auf­ge­ben, jetzt, wo der Va­ter tot sei… Ich hab’ dann noch te­le­fo­niert, ob ich den Schlumpf ver­haf­ten soll, und der Statt­hal­ter hat mir den Be­fehl ge­ge­ben… Aber wie ich dann am Mor­gen den Bur­schen hab’ ho­len wol­len, war er fort. Dann hab’ ich an die Po­li­zei­di­rek­ti­on te­le­fo­nier­t…«

»Ja«, sag­te Stu­der, »und dann durf­te ich am Frei­tag den Schlumpf ver­haf­ten… Und das Zim­mer vom Schlumpf, das hast du durch­sucht? Und dort et­was ge­fun­den?«

Mur­mann schüt­tel­te sei­nen brei­ten Schä­del.

»Nichts«, sag­te er. »We­nigs­tens nichts Be­las­ten­des.«

»Wa­ren Bü­cher im Zim­mer?«

Mur­mann nick­te.

»Was für Bü­cher?«

»Ah, weißt du, so Heft­li mit bun­ten Ti­teln: ›In Lie­be ver­eint‹ und ›Un­schul­dig schul­dig‹…«

»Bist du si­cher, dass eins so ge­hei­ßen hat?«

»›Un­schul­dig schul­dig‹? Ja, ganz si­cher. Und dann wa­ren da noch so De­tek­tiv­ge­schich­ten. ›John Kling‹ hei­ßen sie, glaub’ ich. Weißt, so rich­ti­ge Räu­ber­ro­ma­ne…«

»Ja«, sag­te Stu­der, »ich weiß…«

Er stand schon lan­ge wie­der im Schat­ten, beim Fens­ter. Jetzt dreh­te er sich um. Vorn auf der Land­stra­ße ras­ten die Au­tos vor­bei. Und nach­dem Stu­der den Schein von drei Wa­gen hat­te vor­bei­hu­schen se­hen, frag­te er lei­se, ohne sich um­zu­wen­den:

»Der Äsch­ba­cher, der hat doch auch einen Wa­gen?«

»Ja«, sag­te Mur­mann. »Du meinst we­gen der Ge­schich­te mit dem Cot­te­reau? Aber da irrst du dich… Der El­len­ber­ger hat mich doch nach dem Un­fall ge­holt, da­mals, wie er mit dem Cot­te­reau an­ge­fah­ren wor­den ist, bös hat der Alte aus­ge­se­hen. Ich hab’ na­tür­lich so­fort den Ge­mein­de­prä­si­den­ten an­ge­läu­tet und der ist mit sei­nem Wa­gen ge­kom­men. Er hat so­gar noch den Ger­ber mit­ge­bracht, den Coif­feur­ge­hil­fen, weißt du, der hat sein Mo­tor­rad mit­ge­nom­men. Und ich bin mit Äsch­ba­cher ge­fah­ren. Wir ha­ben den Cot­te­reau die gan­ze Nacht auf den Stra­ßen ge­sucht. Vor­her hab’ ich so­gar noch in Bern an­ge­läu­tet, sie sol­len auf Strol­chen­fah­rer auf­pas­sen. Aber es ist nichts da­bei her­aus­ge­kom­men. Wo hast du den Cot­te­reau ge­fun­den?«

»Im Wald«, sag­te Stu­der nach­denk­lich. »Dort, wo ihr ihn nicht ge­sucht hab­t… Aber er hat nichts sa­gen wol­len.«

Schwei­gen. Im Ne­ben­haus links krächz­te ein Laut­spre­cher. Es klang wie das Bel­len ei­nes hei­se­ren Hun­des.

»Du«, sag­te Stu­der plötz­lich. »Der El­len­ber­ger hat dir doch da­mals ge­sagt, du soll­test sei­nen Ober­gärt­ner durch das Ra­dio su­chen las­sen? Nicht wahr?«

Mur­mann nick­te:

»Ich hab’s nur auf der Po­li­zei­di­rek­ti­on sa­gen las­sen, und die hat dann das Wei­te­re ver­an­lasst.«

»Ich will ein­mal schau­en, ob wir den Ap­fel nicht schnel­ler zum Rei­fen brin­gen kön­nen.«

Mur­mann starr­te sei­nen Kol­le­gen an. Was mach­te der Stu­der für blö­de Sprü­che? Mur­mann war eben nicht da­bei ge­we­sen da­mals.

»… und an­de­re, die müsst Ihr ein­kel­lern, die wer­den erst im Hor­ner gut… Ab­war­ten, Wacht­meis­ter, bis der Ap­fel reif wird…«

Aber Stu­der hass­te das all­zu lan­ge War­ten. Spä­ter wäre es ihm lie­ber ge­we­sen, er hät­te auf den al­ten El­len­ber­ger ge­hört, denn die bei­den Auf­trä­ge, die er te­le­fo­nisch nach Bern er­teil­te, ga­ben so merk­wür­di­ge Re­sul­ta­te, dass sie die oh­ne­hin ver­wirr­te Ge­schich­te noch mehr durch­ein­an­der brach­ten. Aber das konn­te Stu­der na­tür­lich nicht wis­sen…

»Mor­gen ist Mu­sik im ›Bä­ren‹, da spie­len dei­ne Freun­de…«, sag­te Mur­mann beim Ab­schied. »Der Äsch­ba­cher kommt und auch der alte El­len­ber­ger…«

»Das kann lus­tig wer­den«, sag­te Stu­der. Dann er­kun­dig­te er sich, wie Mur­manns Frau ei­gent­lich mit dem Vor­na­men hei­ße: Anny oder Emmy?

– Nein, sag­te Mur­mann, sie hei­ße Ida, und er rufe sie Idy. Und ob Stu­der ei­gent­lich einen Vo­gel habe, dass er sich so um die Vor­na­men von Frau­en in­ter­es­sie­re?