Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

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Der Daumenabdruck

Die Nacht war kühl. Stu­der frös­tel­te wäh­rend der kur­z­en Stre­cke vom Pos­ten zum ›Bä­ren‹. Er be­schloss, noch einen Grog zu trin­ken, der Schnup­fen mel­de­te sich wie­der mit Druck im Kopf und ei­nem un­an­ge­neh­men Ju­cken im Hals. Aber der Wacht­meis­ter woll­te nicht in der Gast­stu­be sit­zen. Er frag­te den Wirt, der in der Hau­stü­re stand, ob nicht ein Ne­ben­zim­mer da sei. Der Wirt nick­te.

Der Raum lag ne­ben der Gast­stu­be, die Ver­bin­dungs­tü­re stand of­fen. Drü­ben war es ziem­lich laut, ein Sum­men von vie­len Stim­men, dar­über wog­ten Me­lo­die­fet­zen, die der Laut­spre­cher spuck­te (Gut, ist er ein­ge­schal­tet, dach­te Stu­der); dann sag­te eine Stim­me: »Fünf­zig vom Trumpfass mit Stöck und Drei­blatt vom Nell…« Be­wun­dern­de Aus­ru­fe wur­den laut. Dann sag­te die glei­che Stim­me: »Und Matsch…«

Der Ton­fall die­ser Stim­me er­in­ner­te Stu­der an ir­gend et­was. Er kam aber erst dar­auf, als der An­sa­ger sich im Ra­dio mel­de­te: »Sie hö­ren nun zum Schluss un­se­res Un­ter­hal­tungs­kon­zer­tes…« Ja, der An­sa­ger sprach hoch­deutsch, aber sein Ton­fall, sei­ne Art zu spre­chen, glich der Stim­me, die den un­er­hör­ten ›Wi­is‹ pro­kla­miert hat­te…

Die Wir­tin brach­te den Grog, sie setz­te sich zu Stu­der, frag­te, wie es gehe, ob die Un­ter­su­chung Fort­schrit­te ma­che, nach ih­rer Mei­nung sei na­tür­lich der Schlumpf der Ver­bre­cher… Aber da sei­en eben noch an­de­re dar­an schuld, dass sol­che Ver­bre­chen in ei­nem stil­len Dorf, wie Ger­zen­stein pas­sie­ren könn­ten…

Es war ge­spens­tisch. Die Wir­tin re­de­te und Stu­der hat­te den Ein­druck, das Grit­li Wen­ger jo­deln zu hö­ren. Und als der Wirt auch noch dazu kam (viel jün­ger schi­en er als sei­ne Frau, er hat­te O-Bei­ne und war, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, Dra­go­ner­wacht­meis­ter), ja, als der Wirt zu spre­chen be­gann, hat­te er wahr und wahr­haf­tig die Stim­me des Kon­di­tor­ko­mi­kers He­getschwei­ler.

Wo hat­ten die Leu­te ihre Stim­men ge­las­sen? Wa­ren sie vom Ra­dio ver­gif­tet wor­den? Hat­ten die Ger­zen­stei­ner Laut­spre­cher eine neue Epi­de­mie ver­ur­sacht? Stim­men­wech­sel?

Da, da war es wie­der…

Drau­ßen be­klag­te sich ei­ner, er habe nichts mehr zu trin­ken, und er sprach die­se ein­fa­chen Wor­te in so sin­gen­dem Ton­fall, dass Stu­der mein­te, den Schla­ger zu hö­ren: ›Ich hab’ kein Auto, ich hab’ kein Rit­ter­gut…‹

Der Wacht­meis­ter trat vor­sich­tig an die Ver­bin­dungs­tür, er hielt sich ein we­nig hin­ter dem Pfos­ten ver­steckt und über­sah den Raum.

Am Tisch, an dem er zu Mit­tag ge­ges­sen hat­te, sa­ßen vier Män­ner. Am auf­fäl­ligs­ten war ei­ner, der sich in die Ecke ge­drückt hat­te. Es war ein schwe­rer, di­cker Mann. Ein grau­er Ka­ter­schnurr­bart starr­te sta­che­lig über sei­ner Ober­lip­pe, das Ge­sicht war rot und lief nach oben spitz zu, das Kinn war in Fett­fal­ten ein­ge­bet­tet. Der Kopf glüh­te, in die Stir­ne fiel eine ein­sa­me, brau­ne Lo­cke.

Wer der Mann dort sei, frag­te Stu­der lei­se die Wir­tin.

Der mit dem spit­zen Gring? Das sei der Äsch­ba­cher, der Ge­mein­de­prä­si­dent. Stu­der lä­chel­te, er muss­te an den al­ten El­len­ber­ger den­ken und an sei­ne kur­ze, aber tref­fen­de Cha­rak­te­ri­sie­rung: eine Sau, die den Rot­lauf hat… Es stimm­te aber doch nicht ganz, dach­te Stu­der bei sich. Der Äsch­ba­cher hat­te merk­wür­di­ge Au­gen, sehr, sehr merk­wür­di­ge Au­gen. Ver­schla­gen, ge­scheit… Nein, ein zwei­tä­gi­ges Kalb war der nicht!

Der Ge­mein­de­prä­si­dent hat­te als Spiel­part­ner einen Mann, der statt ei­nes Kop­fes einen hell­gel­ben, rie­si­gen Ba­de­schwamm zu tra­gen schi­en. Stu­der sah den Mann nur von hin­ten, jetzt hör­te er aber auch des­sen Stim­me:

»Ich muss lei­der, lei­der schie­ben…«

Es war die Stim­me, die sich vor­her be­klagt hat­te, es sei nichts mehr zum Trin­ken da, die Stim­me, die wie die ei­nes Cou­plet­sän­gers klang.

»Und wer spielt mit dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten?« frag­te Stu­der.

»Das ist der Leh­rer Schwomm.«

»Der hat sei­nen Na­men ver­dient«, dach­te Stu­der. Das blon­de Haar war ge­kräu­selt. Der Mann trug einen ho­hen stei­fen Kra­gen, sein dunk­ler Rock war si­cher nach Maß ge­ar­bei­tet… Stu­der sah noch die Hän­de. Die Här­chen dar­auf schim­mer­ten im Lam­pen­licht.

An ei­nem an­de­ren Tisch sa­ßen vier jun­ge Bur­schen – Ar­min Wit­schi war da­bei und der Coif­feur­ge­hil­fe Ger­ber, die bei­den an­de­ren wa­ren erst halb­er­wach­sen, sie hat­ten noch Flaum auf den Wan­gen und ihre Ho­sen wa­ren zu kurz. Jetzt, da sie sa­ßen, en­de­ten sie in der Mit­te der Wa­den –, auch sie spiel­ten. Eben hat­te der Laut­spre­cher ver­kün­det:

Sie ha­ben so­eben als Schluss un­se­res Abend­kon­zer­tes ge­hör­t…

Nie­mand blick­te auf. Die Stim­me fuhr fort: »Be­vor wir Ih­nen nun die Wet­ter­vor­aus­sa­ge mit­tei­len, ha­ben wir Ih­nen noch eine Be­kannt­ma­chung der kan­to­na­len Po­li­zei­di­rek­ti­on zu über­mit­teln: Es han­delt sich um den heu­te Mit­tag als ver­misst ge­mel­de­ten Jean Cot­te­reau, Ober­gärt­ner in den Baum­schu­len El­len­ber­ger…« Stu­der kann­te die Mit­tei­lung, in Bern hat­ten sie sich be­eilt, sie durch­zu­ge­ben. Nun war er neu­gie­rig, wie sie wir­ken wür­de.

»Der Mann ist zu­rück­ge­kehrt. Er hat we­der über sei­ne An­grei­fer noch über die Ur­sa­che sei­ner Ent­füh­rung ge­naue­re Mit­tei­lun­gen ma­chen kön­nen, je­doch ist Wacht­meis­ter Stu­der, der mit den Er­mitt­lun­gen über den schon ge­mel­de­ten Mord­fall in Ger­zen­stein be­traut ist, der Mei­nung, dass be­sag­ter Mord­fall in en­gem Zu­sam­men­hang mit der Ent­füh­rung des Ober­gärt­ners Cot­te­reau und der Ver­let­zung des Herrn El­len­ber­ger steht. Per­so­nen, die Nä­he­res über die­sen Fall wis­sen, wer­den ge­be­ten, sich auf dem Land­jä­ger­pos­ten Ger­zen­stein zu mel­den oder der kan­to­na­len Po­li­zei­di­rek­ti­on te­le­fo­ni­sche Mit­tei­lung über ihre Wahr­neh­mun­gen zu ma­chen.«

Pau­se.

Stu­der war un­ter die Tür ge­tre­ten und be­ob­ach­te­te die Wir­kung der Wor­te.

Die vier jun­gen Bur­schen schie­nen er­starrt. Auf dem Jaß­deck­li lag der letz­te Stich, fast in der Mit­te, vier Kar­ten über­ein­an­der, aber kei­ne Hand reg­te sich, um den Stich zu keh­ren. Die Kar­ten­fä­cher hiel­ten sie ge­gen die Brust ge­presst.

Am Tisch des Ge­mein­de­prä­si­den­ten schi­en nie­mand wei­ter er­schüt­tert. Das Spiel war eben frisch ge­ge­ben wor­den. Äsch­ba­cher hielt sein Kar­ten­päck­li in der Hand, die an­de­re Hand stütz­te den rie­si­gen ro­ten Kopf. Der Mund war leicht ver­zo­gen, der Schnurr­bart sträub­te sich. Der Laut­spre­cher fuhr fort:

»Wahr­schein­lich wird die zu­stän­di­ge Staats­an­walt­schaft eine Be…«

Äsch­ba­cher wink­te und sag­te mit der Stim­me, die große Ähn­lich­keit mit der des An­sa­gers hat­te:

»Ich habe ge­nug von dem Ge­schnörr, ab­stel­len!«

Nur auf die­sen Be­fehl schi­en die Saal­toch­ter ge­war­tet zu ha­ben. Ein Knacken. Stil­le.

Die Holz­ti­sche schim­mer­ten hell, frisch ge­scheu­ert, die Spiel­de­cken zeich­ne­ten schwar­ze Recht­e­cke dar­auf. Auf den Li­ter­ka­raf­fen spie­gel­te sich der gel­be Schein der zwei De­cken­lam­pen. Deut­lich hör­te Stu­der das An­strei­chen ei­nes Zünd­hol­zes an der ge­rill­ten Flä­che des por­zel­la­ne­nen Aschen­be­chers. Ge­mein­de­prä­si­dent Äsch­ba­cher zün­de­te sei­nen er­lo­sche­nen Stum­pen an, dann sag­te er laut in die Stil­le:

»Brin­get den Bur­schen dort einen Li­ter Ro­ten auf mei­ne Rech­nung…«

Mur­meln am Tisch Ar­min Wit­schis:

»Mer­ci, Herr Ge­mein­de­prä­si­dent, dank au…«

Dann be­gann sich die Grup­pe wie­der zu be­we­gen. Auch das war ein we­nig ge­spens­tisch. Es sah aus, als wer­de bei Au­to­ma­ten ein Schal­ter ge­dreht. Sie be­gan­nen plötz­lich die ge­wohn­ten Be­we­gun­gen, die Kar­ten­fä­cher ho­ben sich vor die Au­gen, die Kar­ten fie­len auf den Tisch.

Auf­ge­r­eckt an sei­nem Platz saß Äsch­ba­cher. Im­mer noch hielt er das Kar­ten­päck­li in der Hand. Sein Blick war starr auf die Grup­pe der spie­len­den Bur­schen ge­rich­tet, so, als ob er sie zwin­gen wol­le, in sei­ne Rich­tung zu bli­cken.

Aber die Bur­schen wa­ren ins Spiel ver­tieft. Die Saal­toch­ter trat zu ih­nen, sie drück­te sich zärt­lich an Ar­min Wit­schi, wäh­rend sie lang­sam den Li­ter Rot­wein auf den Tisch stell­te. Das schi­en Ar­min zu stö­ren, er wand­te sich brüsk um – und da be­merk­te er Äsch­ba­chers Star­ren. Der Ge­mein­de­prä­si­dent wink­te mit dem Kar­ten­päck­li. Ar­min stand ge­hor­sam auf, trat an den Tisch der Her­ren. Der Ge­mein­de­prä­si­dent flüs­ter­te Ar­min eif­ri­ge Wor­te zu. Und da be­merk­te Stu­der plötz­lich, dass ihn Äsch­ba­chers Au­gen nicht loslie­ßen. Der Wacht­meis­ter stand al­lein in der Tür, die Wir­tin war fort­ge­gan­gen, er sah deut­lich den Wink, mit dem Äsch­ba­cher den Ar­min Wit­schi auf ihn auf­merk­sam mach­te. Nun schiel­te auch Ar­min zum Wacht­meis­ter. Stu­der fühl­te sich un­be­hag­lich, am liebs­ten hät­te er jetzt sei­nen Grog ge­trun­ken, der wur­de si­cher kal­t… Aber er woll­te noch das Ende der Pan­to­mi­me be­trach­ten.

Aber es ge­sch­ah nichts mehr.

»Äsch­ba­cher, du machst Trumpf«, sag­te der Mann, der einen Schwamm statt ei­nes Kop­fes zu tra­gen schi­en, der Mann, dem ein Cou­plet im Hal­se sang, der Leh­rer Schwom­m…

»Ja, ja«, sag­te der Prä­si­dent är­ger­lich. Äsch­ba­cher wink­te Ar­min, er kön­ne nun ge­hen. Mit ei­nem ein­zi­gen Griff brei­te­te er das Kar­ten­päck­li fä­cher­för­mig aus­ein­an­der: »Ge­scho­ben!« schnauz­te er. Und zur Saal­toch­ter:

»Ber­ti, mach’ Tür zu, es zieht…«

 

Stu­der kehr­te zu sei­nem Grog zu­rück. Die Ver­bin­dungs­tür fiel zu.

Im klei­nen Zim­mer zog sich Stu­der aus. Dann trat er, im Py­ja­ma, ans of­fe­ne Fens­ter und blick­te über das stil­le Land. Der Mond war sehr weiß, manch­mal zo­gen Wol­ken vor ihm vor­bei, das Rog­gen­feld war merk­wür­dig bläu­lich…

Und der Wacht­meis­ter er­in­ner­te sich an einen gu­ten Be­kann­ten, mit dem er ein­mal in Pa­ris zu­sam­men­ge­ar­bei­tet hat­te. Ma­de­lin hieß er und war Di­vi­si­ons­kom­mis­sär bei der Po­li­ce ju­di­ciaire ge­we­sen. Ein ma­ge­rer, ge­müt­li­cher Mann, der un­glaub­li­che Men­gen Weiß­wein ver­til­gen konn­te, ohne be­trun­ken zu wer­den. Als Ex­trakt sei­ner zwan­zig­jäh­ri­gen Diens­ter­fah­rung hat­te er Stu­der ein­mal fol­gen­des ge­sagt:

»Stu­der (er sag­te ›Stüdère‹), glaub mir: Lie­ber zehn Mord­fäl­le in der Stadt als ei­ner auf dem Land. Auf dem Land, in ei­nem Dorf, da hän­gen die Leu­te wie die Klet­ten an­ein­an­der, je­der hat et­was zu ver­ber­gen… Du er­fährst nichts, gar nichts. Wäh­rend in der Stadt… Mein Gott, ja, es ist ge­fähr­li­cher, aber du kennst die Bur­schen gleich, sie schwat­zen, sie ver­schwat­zen sich… Aber auf dem Land!… Gott be­hü­te uns vor Mord­fäl­len auf dem Lan­d…«

Stu­der seufz­te. Der Kom­mis­sär Ma­de­lin hat­te recht.

Und dun­kel bohr­te in ihm noch der Vor­wurf, dass er es un­ter­las­sen hat­te, den Brow­ning mit der nö­ti­gen Vor­sicht zu be­han­deln. Vi­el­leicht hät­te man doch Fin­ger­ab­drücke dar­auf fest­stel­len kön­nen? Aber was hät­te das genützt? Er konn­te doch nicht den Leh­rer Schwomm oder gar den Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher mit ei­nem Tin­ten­kis­sen und For­mu­la­ren be­su­chen und sie freund­lichst bit­ten, doch die Güte zu ha­ben und ihre wer­ten Fin­ger­spit­zen auf die­sen amt­li­chen Pa­pie­ren zu ver­ewi­gen… Ge­wiss, es gab ja an­de­re Metho­den, sich Fin­ger­ab­drücke zu ver­schaf­fen: Zi­ga­ret­ten­do­sen aber Stu­der rauch­te kei­ne Zi­ga­ret­ten, und dann wa­ren die­se Metho­den alle so kom­pli­ziert. In Bü­chern mach­ten sie sich gut, in Spio­na­ge­bü­ros schi­en man manch­mal Er­folg mit ih­nen zu ha­ben… aber in der Wirk­lich­keit?… Stu­der nies­te und ging ins Bet­t…

– Er saß in ei­nem rie­si­gen Hör­saal, ein­ge­zwängt in eine schma­le Bank. Der De­ckel des Pul­tes vor ihm drück­te ihn schmerz­haft auf den Ma­gen, er konn­te die Bei­ne nicht stre­cken. Die Luft im Raum war sti­ckig, er konn­te nicht recht at­men. Vor ei­ner schwar­zen Wand­ta­fel ging ein Mann in weißem Man­tel rast­los auf und ab. Er sprach. Und auf die Wand­ta­fel war mit Krei­de ein rie­si­ger Dau­men­ab­druck ge­zeich­net. Die Li­ni­en dar­in bil­de­ten ver­rück­te Mus­ter, Schlei­fen, Spi­ra­len, Ber­ge, Tä­ler, Wel­len. Gera­de Stri­che wa­ren von den ein­zel­nen Li­ni­en aus ge­zo­gen, rag­ten über den Ab­druck hin­aus und tru­gen an ih­rem Ende Num­mern. Und der Mann, der vor der Ta­fel hin und her lief, zeig­te auf die Num­mern und do­zier­te. »Von der Wie­ge bis zum Gra­be blei­ben die Ka­pil­la­ren iden­tisch, mer­ken Sie sich das, mei­ne Her­ren, und wenn zwölf Punk­te über­ein­stim­men, so ha­ben Sie den ma­the­ma­ti­schen Be­weis. Dies ist der Dau­men, mei­ne Her­ren, der Dau­men­ab­druck ei­nes Man­nes, der durch die Unacht­sam­keit ei­nes Be­am­ten ver­lo­ren­ge­gan­gen ist und den ich nach mei­ner neu­en Metho­de des fer­nen Wel­len­se­hens zur re­sti­tu­tio ad in­te­grum ge­bracht habe. Der Schul­di­ge sitzt zwi­schen Ih­nen, ich will ihn nicht nen­nen, denn er ist ge­straft ge­nug. Er wird in Pen­si­on ge­hen müs­sen und in sei­nem Le­bensal­ter ver­hun­gern, denn er hat pflicht­ver­ges­sen ge­han­delt. Denn die­ser Dau­men, mei­ne Her­ren und Da­men…« In der ers­ten Ban­krei­he saß Son­ja Wit­schi, sie trug ein wei­ßes Kleid und blick­te mit Ver­ach­tung auf Stu­der. Das schmerz­te Stu­der sehr. Am meis­ten aber tat ihm weh, dass der Ge­mein­de­prä­si­dent Äsch­ba­cher ne­ben Son­ja saß und sei­nen Arm um die Schul­tern des Mäd­chens ge­legt hat­te. Stu­der woll­te sich un­ter der Bank ver­ste­cken, er fühl­te, dass die Bli­cke al­ler Zu­hö­rer auf ihn ge­rich­tet wa­ren, er konn­te nicht, die Bank war zu eng… Da stand plötz­lich in der Tür des Saa­l­es der Po­li­zei­haupt­mann und sag­te laut: »Hast dich wie­der bla­miert, Stu­der? Komm her, komm so­fort her…« Stu­der zwäng­te sich aus der Bank, Son­ja und Äsch­ba­cher lach­ten ihn aus, der Herr im wei­ßen Man­tel war plötz­lich der Leh­rer Schwomm, und er sang: »Das ist die Lie­be, die dum­me Lie­be…« Äsch­ba­cher hat­te noch im­mer sei­nen Dau­men auf­ge­r­eckt, der wuchs und wuchs, schließ­lich war er so groß wie die Zeich­nung auf der Ta­fel… »Po­ro­sko­pie«, rief der Leh­rer Schwomm im Arzt­kit­tel, »Dak­ty­lo­sko­pie!« schrie er. Und am Fens­ter stand der Kom­mis­sär Ma­de­lin, sah böse drein und fluch­te: »Ha­ben Sie Lo­card ver­ges­sen, Stüdè­re, fünf­zehn und sechs und sechs und elf Punk­te, das war zur Über­füh­rung ge­nü­gend im Fal­le Des­vi­gnes. Und im Fal­le Wit­schi?… Al­les ver­ges­sen, Stüdè­re? Schä­men Sie sich.« Der Po­li­zei­haupt­mann aber zog ein Paar Hand­schel­len aus der Ta­sche und fes­sel­te Stu­der. Dazu sag­te er. »Aber ich zahl’ dir kei­nen Hal­ben Ro­ten im Bahn­hof­buf­fet. Ich nicht!« Stu­der wein­te, er wein­te wie ein klei­nes Kind, die Nase stach ihm, er zot­tel­te hin­ter dem Po­li­zei­haupt­mann her. Auf dem Rücken des Man­nes, ganz nah vor Stu­ders Au­gen, hing eine wei­ße Ta­fel. Da­rauf war wie­der der Dau­men­ab­druck. Und dar­un­ter stand in di­cker Rund­schrift: ›Kei­ne Tan­nen­na­deln, aber ein ver­lo­ren­ge­gan­ge­ner Ab­druck…‹ Dann saß Stu­der in ei­ner Zel­le, zwei Bet­ten wa­ren dar­in. Auf dem einen lag der Schlumpf, eine blaue Zun­ge hing ihm aus dem Mund. Auch er hielt den Dau­men der Rech­ten auf­ge­r­eckt und blin­zel­te mit den Li­dern. Er er­hob sich, im­mer noch hing die Zun­ge aus sei­nem Mund, er schritt auf Stu­der zu, stand vor ihm und woll­te ihm den Dau­men ins Auge sto­ßen. Stu­der war ge­fes­selt, er konn­te sich nicht weh­ren, er schrie…

Der Mond schi­en ihm in die Au­gen. Sein Py­ja­ma war feucht, er hat­te aus­gie­big ge­schwitzt. Lan­ge blieb er wach lie­gen. Der Traum woll­te sich nicht ver­scheu­chen las­sen und Stu­der hat­te Angst, wie­der ein­zu­schla­fen. Es war nicht der Dau­men, der rie­si­ge Dau­men­ab­druck, der ihn be­schäf­tig­te. Merk­wür­di­ger­wei­se wur­de er das an­de­re Bild nicht los, das er im Trau­me ge­se­hen hat­te: Äsch­ba­cher, der sei­nen Arm um Son­jas Schul­tern ge­legt hat­te und ihn aus­lach­te…

Es war still drau­ßen. Ger­zen­steins Laut­spre­cher schwie­gen.

The Convict Band

Der alte El­len­ber­ger sah mit sei­nem wei­ßen Ver­band rund um den Kopf ei­nem Va­rietéfa­kir ähn­lich, der sei­nen Vor­stel­lungs­smo­king ver­setzt hat und nun in ei­nem ge­lie­he­nen An­zug spa­zie­ren ge­hen muss. Er spa­zier­te zwar nicht, er saß ein­sam und still an ei­nem der vie­len run­den Ei­sen­tisch­chen, die mit ih­ren ro­ten De­cken aus­sa­hen wie Flie­gen­pil­ze in der Fan­ta­sie ei­nes ex­pres­sio­nis­ti­schen Ma­ler­s…

Das Wet­ter war hei­ter, warm und es schi­en so­gar be­stän­dig. Die Kas­ta­ni­en­bäu­me im Gar­ten des ›Bä­ren‹ tru­gen stei­fe rote Py­ra­mi­den an ih­ren Äs­ten und ihre Blü­ten fie­len auf die Ti­sche wie ro­ter Schnee.

Der Gar­ten war groß; hin­ten, wo er durch einen Zaun ab­ge­schlos­sen war, war eine Estra­de auf­ge­rich­tet wor­den. Zwei Paa­re tanz­ten dar­auf. Fast an den Zaun ge­klebt spiel­te die Mu­sik. Hand­har­fe, Kla­ri­net­te, Bass­gei­ge. Als der Wacht­meis­ter den Gar­ten durch­schritt, um den al­ten El­len­ber­ger zu be­grü­ßen, nick­te er der Mu­sik zu. Die drei nick­ten zu­rück, er­freut, schi­en es. Der Hand­har­fen­spie­ler lä­chel­te, nahm einen Au­gen­blick die Hand von den Bäs­sen und wink­te. Es war Schrei­er.

Der Schrei­er, den Stu­der vor drei Jah­ren bei sei­ner Wir­tin ver­haf­tet hat­te… Der Bass­gei­gen­spie­ler schwenk­te den Bo­gen – auch ein Be­kann­ter, Spe­zia­li­tät Man­sar­den­dieb­stäh­le, seit zwei Jah­ren hat­te man auf der Po­li­zei nichts mehr von ihm ge­hör­t…

Stu­der setz­te sich an des al­ten El­len­ber­gers Tisch.

Be­grü­ßung… – Wie geht’s… – Schö­nes Wet­ter…

Dann frag­te der El­len­ber­ger:

»Sind die Äp­fel schon reif, Wacht­meis­ter?« und grins­te mit sei­nem zahn­lo­sen Mund.

»Nein«, sag­te Stu­der.

Das Bier war frisch. Stu­der nahm einen lan­gen Zug. Die Mu­sik spiel­te einen Tan­go.

»Zür­cher Strand­b­ad­le­ben…« sag­te der Alte mit der Mie­ne ei­nes Mu­sik­ken­ners. Er schnalz­te da­bei mit der Zun­ge. Die Bei­ne hat­te er von sich ge­streckt. Schwarz­sei­de­ne So­cken und brau­ne Halb­schu­he…

»A la vôtre, com­mis­sai­re…« sag­te der alte El­len­ber­ger. Dann er­kun­dig­te er sich, ob der Wacht­meis­ter auch fran­zö­sisch spre­che.

Stu­der nick­te. Er sah dem Al­ten ins Ge­sicht – dies Ge­sicht hat­te sich merk­wür­dig ver­än­dert. Die Züge wa­ren noch die glei­chen, aber der Aus­druck war ein an­de­rer. So, als ob ein Schau­spie­ler, der täu­schend die Rol­le ei­nes al­ten Bau­ern ge­spielt hat, nun sei­ne Ver­stel­lung plötz­lich auf­ge­ben wür­de. Aber hin­ter der Mas­ke kam eben nicht ein Schau­spiel­er­ge­sicht zum Vor­schein, son­dern vor Stu­der saß ein nach­denk­li­cher al­ter Herr, der das Fran­zö­si­sche flie­ßend sprach, ohne Ak­zent, und sei­ne Rede mit zar­ten Hand­be­we­gun­gen be­glei­te­te. Die Haut sei­ner Hand war mit Tup­fen über­sät, die in der Far­be an dür­res Bu­chen­laub er­in­ner­ten. Über sei­ne Vor­lie­be für ent­las­se­ne Sträf­lin­ge müs­se sich der Kom­mis­sär nicht wun­dern, führ­te er aus, im­mer noch in fran­zö­si­scher Spra­che. Er habe sein Ver­mö­gen in den Ko­lo­ni­en ver­dient und da habe er als Ar­beits­kräf­te im­mer Sträf­lin­ge zu­ge­wie­sen be­kom­men. Er sei mit dem Re­si­den­ten gut be­freun­det ge­we­sen… Aber man sei eben dumm. Er habe auf das Al­ter hin Heim­weh be­kom­men nach der Schweiz und habe sich in die­sem Ger­zen­stein an­ge­kauf­t… Ei­gent­lich, sag­te er, sei die­se Baum­schu­le, die er er­öff­net habe, ein Lu­xus. Zu ver­die­nen brau­che er ja nichts mehr, sein Geld sei si­cher an­ge­legt, so si­cher, als es in ei­ner un­si­che­ren Zeit, wie der jet­zi­gen, mög­lich sei.

Stu­der hör­te dem Re­den des al­ten Man­nes nur un­auf­merk­sam zu. Er war da­mit be­schäf­tigt, den al­ten El­len­ber­ger, der in sei­ner Erin­ne­rung leb­te, mit dem Man­ne zu ver­glei­chen, der vor ihm saß. Schon am Frei­tag­abend, im Café, am run­den Tisch­chen vor dem Fens­ter, das auf einen gif­tig­grau­en Abend ging, hat­te er dem Baum­schu­len­be­sit­zer ge­gen­über ein merk­wür­dig un­si­che­res Ge­fühl ge­habt. Es hat­te ihm da­mals ge­schie­nen, als sei al­les an dem al­ten Man­ne falsch. Al­les? Nicht ganz. Das Ge­fühl, das El­len­ber­ger für den Schlumpf zu emp­fin­den schi­en, war echt, si­cher…

Aber was bezweck­te der El­len­ber­ger heu­te? Wa­rum gab er sich so an­ders? Stu­der schüt­tel­te un­merk­lich den Kopf. Ihm schi­en es, als sei auch das heu­ti­ge Ge­sicht des al­ten El­len­ber­ger noch nicht das ech­te. Oder hat­te der Mann gar kein wirk­li­ches Ge­sicht? War er et­was wie ein ver­fehl­ter Hoch­stap­ler? Man wur­de aus ihm nicht klug.

Zwei Bur­schen und ein Mäd­chen nah­men in der Nähe Platz. Son­ja Wit­schi grüß­te mit ei­nem leich­ten Ni­cken. Die bei­den Bur­schen tu­schel­ten mit­ein­an­der, grins­ten, schiel­ten auf Stu­der, tausch­ten Be­mer­kun­gen aus. Als die Kell­ne­rin das Bier brach­te, leg­te Ar­min Wit­schi her­aus­for­dernd den Arm um ihre Hüf­ten. Die Kell­ne­rin blieb eine Wei­le ste­hen, sie wur­de lang­sam rot, ihr mü­des Ge­sicht sah rüh­rend freu­dig aus… Aber sie wur­de ge­ru­fen. Sanft mach­te sie sich los… Ar­min Wit­schi fuhr mit der fla­chen Hand über sei­ne Haa­re, die sich in Dau­er­wel­len über der nie­de­ren Stirn auf­schich­te­ten. Der klei­ne Fin­ger war ab­ge­spreiz­t…

»Un maque­reau…« sag­te Stu­der lei­se vor sich hin; es klang nicht ver­ur­tei­lend, eher gü­tig-fest­stel­lend.

»Mein Gott, ja…« ant­wor­te­te der alte El­len­ber­ger und grins­te mit sei­nem zahn­lo­sen Mund. »Sie sind gar nicht so rar, wie man mei­nen könn­te…«

Ar­min sah böse zu den bei­den. Die Wor­te hat­te er si­cher nicht ver­stan­den, aber er hat­te wohl ge­fühlt, dass von ihm die Rede war.

Der an­de­re Bur­sche am Ti­sche Ar­mins war der Coif­feur­ge­hil­fe Ger­ber. Er trug wei­te graue Fla­nell­ho­sen, dazu ein blau­es Po­lo­hemd ohne Kra­wat­te. Sei­ne Arme wa­ren sehr ma­ger…

Er stand auf, ver­beug­te sich vor Son­ja. Die bei­den stie­gen auf den Tanz­bo­den. Schrei­er, der Hand­har­fen­spie­ler, griff da­ne­ben, als er die bei­den Tan­zen­den sah, Stu­der schau­te auf… Da sah er, dass die Bli­cke der drei Mu­si­kan­ten auf ihn ge­rich­tet wa­ren… Er nick­te hin­über und wuss­te selbst nicht, warum er so auf­mun­ternd nick­te…

 

Die drei tru­gen ein­far­bi­ge Ko­stü­me: senf­far­bi­ge Lei­nen­ho­sen, senf­far­bi­ge Pull­over ohne Är­mel, und auch die Hem­den wa­ren gelb wie Senf.

Der alte El­len­ber­ger schi­en Stu­ders Ge­dan­ken­gang zu er­ra­ten, denn er sag­te:

»Ich habe ih­nen das Ko­stüm ge­schenk­t… Ent­wor­fen hab’ ich’s auch… Es hat mich ge­reizt, die gu­ten Bür­ger hier im Dorf ein we­nig zu ent­set­zen… Mein Gott, wenn man sonst kei­nen Spaß hat…«

Stu­der nick­te. Es war ihm im­mer we­ni­ger ums Re­den zu tun. Er hat­te sei­nen Stuhl zu­rück­ge­scho­ben und saß nun da, in sei­ner Lieb­lings­stel­lung, die Bei­ne ge­spreizt, die Un­ter­ar­me auf den Schen­keln, die Hän­de ge­fal­tet. Vor ihm lag der Gar­ten, durch das dich­te Laub bra­chen da und dort Son­nen­strah­len und mal­ten wei­ße Tup­fen auf den grau­en Kies. Wenn die Mu­sik schwieg, zit­ter­te über dem Stim­men­ge­summ das Zwit­schern un­sicht­ba­rer Vö­gel in den Baum­kro­nen…

Es war ihm nicht recht wohl, dem Wacht­meis­ter Stu­der… Es war im An­fang zu gut ge­gan­gen – und son­der­ba­rer­wei­se be­drück­te ihn am meis­ten der Traum der ver­gan­ge­nen Nacht. Am Mor­gen hat­te er die Pis­to­le un­ter­sucht. Es war ein bil­li­ges Mo­dell, er er­in­ner­te sich dun­kel, es in Bern in ei­ner Aus­la­ge ge­se­hen zu ha­ben… Zwölf oder fünf­zehn Fran­ken? Vom Land­jä­ger­pos­ten aus hat­te Stu­der ges­tern te­le­fo­niert, die Num­mer an­ge­ge­ben und ge­be­ten, man möge sich bei den Waf­fen­händ­lern er­kun­di­gen… Es war fast aus­sichts­los, si­cher, den Käu­fer fest­zu­stel­len… Aber viel­leicht ge­lang es zu be­wei­sen, dass es dem Schlumpf un­mög­lich ge­we­sen war, den Brow­ning zu kau­fen…

Je­mand war vor ihm ste­hen ge­blie­ben. Er sah zu­erst nur zwei schwar­ze Ho­sen­bei­ne, die an den Kni­en stark aus­ge­beult wa­ren. Dann wan­der­te sein Blick lang­sam auf­wärts: ein rie­si­ger Bauch, über den sich ein brei­ter Stoff­gür­tel spann­te, ein Um­leg­kra­gen und der schwar­ze Kno­ten ei­ner Kra­wat­te; end­lich, ein­ge­bet­tet in Fett­wüls­te, das Ge­sicht des Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher…

Und Stu­der dach­te an sei­nen Traum…

Aber Äsch­ba­cher war die Freund­lich­keit selbst. Er grüß­te höf­lich, frag­te, ob es er­laubt sei, Platz zu neh­men, er schüt­tel­te Stu­der herz­lich die Hand und nahm dann keu­chend Platz… Die Kell­ne­rin brach­te un­auf­ge­for­dert ein großes Hel­les, das Bier ver­schwand in Äsch­ba­chers In­ne­rem, nur ein we­nig Schaum blieb am Bo­den des Gla­ses kle­ben…

»Noch eins…« sag­te der Ge­mein­de­prä­si­dent und keuch­te.

Er tät­schel­te den Arm des al­ten El­len­ber­ger, der Lau­te von sich gab, ähn­lich de­nen ei­nes Ka­ters, der nicht weiß, ob er be­hag­lich schnur­ren soll oder spu­ckend auf den Stö­ren­fried los­fah­ren.

Äsch­ba­cher ret­te­te die Si­tua­ti­on, in­dem er sich er­kun­dig­te, ob man nicht einen ›Zu­ger‹ ma­chen wol­le…

Die Kell­ne­rin, die das zwei­te Bier ge­bracht hat­te, flitz­te da­von, kam mit dem Jaß­de­cke­li zu­rück, brei­te­te es aus, leg­te die ge­spitz­te Krei­de auf die sau­ber ge­putz­te Ta­fel und ver­zog sich wie­der: drei lee­re Bier­glä­ser nahm sie mit…

»Drei Rap­pen der Punkt?« schlug Äsch­ba­cher vor.

Der alte El­len­ber­ger schüt­tel­te den Kopf. Die Mas­ke des weit­ge­reis­ten Herrn, der ohne Ak­zent fran­zö­sisch spricht, hat­te der an­de­ren Platz ge­macht. Es war der alte Bau­er, der jetzt wie­der am Ti­sche saß, und es war auch der alte Bau­er, der mit un­an­ge­nehm kräch­zen­der Stim­me sag­te:

»Drei Rap­pen sind zu we­nig. Un­ter zehn Rap­pen spiel’ ich nicht mit…«

Stu­der wur­de es noch un­be­hag­li­cher. Der »Zu­ger« war ein ver­dammt ge­fähr­li­cher Jaß. Wenn man Pech hat­te, konn­te man ohne viel Mühe fünf­zehn Fran­ken ver­lie­ren… Und fünf­zehn Fran­ken wa­ren eine Sum­me!… Es ging nicht gut an, Spiel­ver­lus­te auf die Spe­sen­rech­nung zu set­zen. Aber dann in­ter­es­sier­te ihn wie­der das Ver­hal­ten sei­ner bei­den Part­ner beim Spiel so stark, dass er schließ­lich nick­te.

Äsch­ba­cher zog die Ta­fel zu sich her­an, zeich­ne­te mit der Krei­de auf den obe­ren Holz­rand drei Buch­sta­ben: S.E.A. Dann be­gann er die Kar­ten zu mi­schen und aus­zu­tei­len. Der alte El­len­ber­ger hat­te eine Stahl­bril­le aus der Rock­ta­sche ge­zo­gen und sie auf sei­ne Nase ge­setz­t…

Beim ers­ten Spiel konn­te Stu­der hun­dert­fünf­zig wei­sen. Er at­me­te auf.

»Wacht­meis­ter« sag­te der Ge­mein­de­prä­si­dent und kratz­te mit dem Fin­ger­na­gel in sei­nem Ka­ter­schnurr­bart, »Ihr geht, hab’ ich ge­hört, bald in Pen­si­on?…«

Stu­der sag­te: »Ja.«

»So«, mit ei­nem ein­zi­gen Griff brei­te­te Äsch­ba­cher die Kar­ten fä­cher­för­mig aus, hielt sie vor die Nase und:

»Ich hät­te für Sie… Ich hät­te für Sie eine in­ter­essan­te Be­schäf­ti­gung. Ein Freund von mir«, fuhr er ver­trau­lich fort, »hat ein Aus­kunfts­bü­ro auf­ge­tan und sucht einen tüch­ti­gen Mann, der Spra­chen be­herrscht, der et­was Ver­stand im Kopf hat, der Un­ter­su­chun­gen selbst­stän­dig füh­ren könn­te. Ein­tritt so bald wie mög­lich. Dass man Sie von der Po­li­zei­di­rek­ti­on ohne wei­te­res ge­hen lässt, da­für will ich schon sor­gen. Ich habe mei­ne Be­zie­hun­gen. Ein­ver­stan­den? Ich te­le­fo­nie­re dann mor­gen…«

– Stu­der sol­le sich von dem Schlan­gen­fan­ger nicht ein­lie­ren las­sen, mein­te der alte El­len­ber­ger. Der Schlan­gen­fan­ger ver­spre­che im­mer den Mond, aber wenn man nä­her hin­se­he, sei es nicht ein­mal ein Weg­g­li.

Äsch­ba­cher blick­te böse auf.

– El­len­ber­ger sol­le so gut sein und die Klap­pe hal­ten, es gebe sonst Durch­zug, mein­te er ge­häs­sig. – Dann sol­le der Herr Ge­mein­de­prä­si­dent sei­ne Vor­schlä­ge ma­chen, wenn er mit dem Stu­der un­ter vier Au­gen sei. Wenn er sie so öf­fent­lich ma­che, so sei es nur recht und bil­lig, wenn auch er sei­ne Mei­nung sage.

Stu­der misch­te die Kar­ten.

Am Tisch ne­ben­an war Ar­min Wit­schi auf­ge­stan­den, hat­te die Kell­ne­rin um die Tail­le ge­fasst und zog die sich Sträu­ben­de zum Tanz­bo­den. Auch der Coif­feur­ge­hil­fe mit den ro­ten Lip­pen war auf­ge­stan­den, hat­te Son­jas Arm ge­nom­men. Son­ja schi­en nicht gern mit­zu­ge­hen…

Stu­der starr­te auf die bei­den Paa­re, wie sie auf dem er­höh­ten Po­di­um en­gan­ein­an­der­ge­schmiegt tanz­ten. Son­ja hat­te ihre Hand ge­gen die Schul­ter des Coif­feur­ge­hil­fen ge­stemmt, um ein we­nig Ab­stand zu hal­ten. Die Mu­sik spiel­te und Schrei­er sang den Re­frain mit:

»Grüe­zi, Grüe­zi«, so sagt man in der Schweiz.

»Al­lez! al­lez!« sag­te Äsch­ba­cher un­ge­dul­dig, »Spiel ge­ben!« Aber auch er dreh­te sich um und be­ob­ach­te­te die Tan­zen­den.

»Ja, ja, die Son­ja«, er nick­te. »Ein gu­tes Meit­schi!«

– Der Äsch­ba­cher müs­se das ja bes­ser wis­sen als an­de­re, mein­te El­len­ber­ger lei­se, dann ließ er wie­der ein dröh­nen­des La­chen hö­ren, das so gar nicht zu sei­nem ma­ge­ren Kör­per pass­te…

In der Tür, die vom Haus in den Gar­ten führ­te, er­schi­en die Wir­tin, sah sich su­chend um, ent­deck­te den Tisch der drei und kam auf ihn zu.

»Herr Ge­mein­de­prä­si­dent«, sag­te sie mit der Stim­me des jo­deln­den Grit­li Wen­ger, »Ihr wer­det am Te­le­fon ver­langt.«

So, sag­te Äsch­ba­cher. Vi­el­leicht er­hal­te er Nach­richt von sei­nem ver­schwun­de­nen Auto.