Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Anastasia Witschi, geb. Mischler

Stu­der hat­te Frau Wit­schi nur flüch­tig ge­se­hen, da­mals, bei sei­ner An­kunft. Und dass er sie Ana­sta­sia ge­tauft hat­te, ganz un­be­wusst (merk­wür­di­ger­wei­se hat­te der Name ge­stimmt), das hat­te doch einen ganz ver­ständ­li­chen Grund ge­habt.

Frau Wit­schi sah näm­lich aus wie eine Ka­ri­ka­tur der Zen­sur. Und die Fran­zo­sen hat­ten wäh­rend des Krie­ges die Zen­sur Ana­sta­sie ge­tauf­t…

Nach­dem Frau Wit­schi ihre Fra­gen ab­ge­schos­sen hat­te, ver­schnauf­te sie ein we­nig. Ihre Bli­cke ruh­ten miss­bil­li­gend auf Stu­ders Beglei­ter. Was der da wol­le, frag­te sie, und die­se letz­te Fra­ge war ganz be­son­ders gif­tig; ihre Stim­me über­schlug sich. Schrei­er wur­de rot.

Stu­der fühl­te sich un­be­hag­lich, aber er ließ sich nichts an­mer­ken. Und dass sei­ne Ze­hen in den Schu­hen klei­ne Tän­ze auf­führ­ten, das sah nie­mand.

»Wir ha­ben Sie ge­sucht, Frau Wit­schi«, sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me wur­de ganz tief, wahr­schein­lich als Aus­gleich ge­gen die all­zu hohe der Frau. »Wir ha­ben uns den Gar­ten an­ge­se­hen. Ein schö­ner Gar­ten, wirk­lich ein wun­der­ba­rer Gar­ten. Es fehlt ein we­nig an der Pfle­ge, aber na­tür­lich, das ist be­greif­lich…«

»Sind Sie noch nie hier oben ge­we­sen?« frag­te Frau Wit­schi. Stu­der sah sie an. War die Fra­ge eine Fal­le? Nein… wahr­schein­lich nicht… Also hat­te Son­ja nichts von sei­nem Be­such er­zählt. Üb­ri­gens war­te­te Frau Wit­schi gar nicht auf eine Ant­wort.

– Wenn der Wacht­meis­ter et­was zu fra­gen habe, so sol­le er nur ein­tre­ten… »Ich habe nichts zu ver­ber­gen«, sag­te sie. »Nein, ge­wiss nicht. Un­ser Ge­wis­sen ist rein, was nicht alle Leu­te be­haup­ten kön­nen.«

Jetzt wur­de Schrei­er blass. Er zit­ter­te. Merk­wür­dig, wie emp­find­lich die­se an­schei­nend ab­ge­brüh­ten Bur­schen im Grun­de wa­ren!…

»Ru­hig, ru­hig«, sag­te Stu­der lei­se und leg­te die Hand auf die Schul­ter des Bur­schen. »Geh’ wie­der zu­rück. Ich dank’ dir auch. Du hast mir viel ge­hol­fen. Leb’ wohl«

Schrei­er gab dem Wacht­meis­ter schwei­gend die Hand. Die alte Frau grüß­te er nicht.

»Sie sind viel zu gut mit die­sen Leu­ten, Herr Wacht­meis­ter.« (Frau Wit­schi be­ton­te das Sie, Stu­der soll­te mer­ken, dass sie nicht zu den kom­mu­nen Leu­ten ge­hö­re, die alle Welt ih­ren.) »Tre­ten Sie ein, wir wol­len nicht vor der Tür ste­hen­blei­ben.«

Die Kü­che war sau­ber. Kein schmut­zi­ges Ge­schirr stand mehr im Schütt­stein. Der Strähl war ver­schwun­den. Auch das Wohn­zim­mer war auf­ge­räumt.

Die Vase un­ter Wen­de­lin Wit­schis Bild fehl­te.

»Neh­men Sie Platz, Herr Stu­der. Ich hol’ et­was zum Trin­ken. Sie wer­den si­cher Durst ha­ben.«

Und Frau Wit­schi kam zu­rück mit ei­ner Fla­sche Him­beer­si­rup und zwei Glä­sern. Stu­der muss­te wohl oder übel mit­trin­ken. Es schüt­tel­te ihn ge­lin­de.

»Mein ar­mer Mann«, sag­te Frau Wit­schi und zog die Luft durch die Nase. Sie wisch­te sich die Au­gen mit ih­rem Ta­schen­tuch. Aber die Au­gen wa­ren tro­cken und blie­ben es.

»Ja, ja«, mein­te Stu­der und hielt die Hand über sein Glas, das Frau Wit­schi wie­der mit der kleb­ri­gen Flüs­sig­keit fül­len woll­te. »Es ist trau­rig, dass er so hat ums Le­ben kom­men müs­sen. Aber es war viel­leicht doch ein Glück…«

»Ein Glück? Wie­so ein Glück? Was mei­nen Sie?«

»Eh, we­gen der Ver­si­che­rung…« sag­te Stu­der und zün­de­te um­ständ­lich eine Bris­sa­go an. Eine Sturz­flut von Wor­ten er­goss sich über ihn. Und Stu­der ließ sie brau­sen…

Es war merk­wür­dig, fast wie eine Vi­si­on.

– Das Zim­mer ist dun­kel, ganz plötz­lich. Die Lam­pe, von ei­nem grü­nen Schirm ver­han­gen, gibt ein düs­te­res Licht. Lee­re Tel­ler ste­hen auf dem Tisch. Am obe­ren Ende sitzt der ver­stor­be­ne Wen­de­lin Wit­schi. Rechts ne­ben ihm sei­ne Frau, links Son­ja, ihm ge­gen­über der Sohn.

Wit­schi schweigt, Mü­dig­keits­fal­ten lie­gen um sei­nen Mund, auf sei­ner Stirn. Un­un­ter­bro­chen schwatzt die Frau. Sie klagt. Er sei schuld, nur er al­lein. Er habe die Fa­mi­lie in Schul­den ge­stürzt, nun sei es an ihm, das ge­stran­de­te Schiff wie­der flott zu ma­chen. Geld habe er auf­ge­nom­men, ohne je­man­den zu fra­gen – und die Kreu­ge­rak­ti­en, die habe doch er ge­kauft, oder? Wit­schi hebt die Hand, die wei­ße, dür­re Hand, so, als wol­le er Ein­spruch er­he­ben. Aber die Frau la­fert wei­ter. Nichts da, er habe zu schwei­gen, ganz zu schwei­gen. Und dann flüs­tert sie plötz­lich: Die Ver­si­che­run­gen bräch­ten Geld… Ein Un­fall… Nichts Ar­ges. Aber er müs­se so aus­ge­führt wer­den, dass er wie ein Über­fall aus­se­he… Es sei­en ja ge­nug Vor­be­straf­te im Dorf, auf die man die Schuld schie­ben kön­ne…

Der Sohn mischt sich ein. Die Schwes­ter habe ja ein Ge­schleipf mit so ei­nem, sie müs­se die Sa­che über­neh­men. Den Bur­schen zu ei­nem Ren­dez­vous be­stel­len, da­mit er kein Ali­bi bei­brin­gen kön­ne… Dann kön­ne man ihn an­kla­gen, und wenn der Va­ter ihn wie­der­er­ken­ne, dann kön­ne der Bur­sche gar nichts ma­chen…

Oben am Tisch hat der Wit­schi die Hän­de ge­fal­tet, er schüt­telt den Kopf, un­auf­hör­lich, aber kein Mensch sieht auf ihn. Der Re­de­strom geht wei­ter. Der Sohn löst die Mut­ter ab, die Mut­ter den Sohn. Son­ja sitzt still da, weint in ihr Ta­schen­tuch. Es nützt nichts, Son­ja fin­det nir­gends Schutz vor den Plä­nen der bei­den an­de­ren…

Wie oft hat­te sich die Sze­ne ab­ge­spielt, so wie Stu­der sie sah und hör­te, jetzt, im Wohn­zim­mer der Fa­mi­lie Wit­schi, wäh­rend die alte Ana­sta­sia auf ihn ein­re­de­te und ihre Wor­te an sei­nen Ohren vor­beis­aus­ten wie ein sau­rer Bis­wind?

Stu­der nick­te, nick­te un­un­ter­bro­chen zu den Wor­ten der Frau. Es war ja al­les ge­lo­gen, warum also zu­hö­ren?…

Er sah den Schup­pen vor sich, ganz deut­lich.

Die Frau hat eine Stal­la­ter­ne in der Hand. Und Wit­schi pro­biert den Re­vol­ver aus. Er schießt auf das weiß­ge­ho­bel­te Recht­eck der Tür, im­mer aus ei­ner Ent­fer­nung von zehn Zen­ti­me­ter. Nicht mehr, nicht we­ni­ger. Er pro­biert es mit ei­nem Zi­ga­ret­ten­blätt­chen, dann mit drei­en, dann mit fün­fen. Bei wel­cher Zahl gibt es kei­ne De­fla­gra­ti­onss­pu­ren mehr?

Fünf­zehn Pa­tro­nen, dach­te Stu­der… Wo war wohl die Schach­tel? Man soll­te sie fin­den. Und im­mer das Bild, das sich da­zwi­schen­schob:

Der Wit­schi, der beim Schein der Stal­la­ter­ne Schieß­übun­gen ver­an­stal­tet… Die Frau hält si­cher einen Sack, um den Schall ab­zu­dämp­fen.

War es sonst mög­lich, dass kei­ner der Nach­barn et­was ge­hört hat­te?… Vi­el­leicht hat­ten sie et­was ge­hört, das nächs­te Haus stand in etwa fünf­zig Me­ter Ent­fer­nung… Soll­te man dort fra­gen ge­hen?

Und wie aus ei­nem Traum her­aus, mit­ten in den Re­de­strom der Frau Wit­schi, sag­te Stu­der mit lei­ser Stim­me:

»Wie Ihr Mann auf die Tür im Schup­pen ge­schos­sen hat, ha­ben Sie da einen Sack ge­habt, um den Schall ab­zu­dämp­fen?«

Das Glas zer­schell­te auf dem Bo­den. Frau Wit­schi hat­te die Au­gen weit auf­ge­ris­sen, das Häut­chen, das über dem einen lag, war weiß.

»Wie?… Was?…« stot­ter­te Frau Wit­schi.

»Nichts, nichts«, Stu­der wink­te müde ab. »Es hat ja al­les kei­nen Wert, der Schlumpf hat ja ge­stan­den.« Aber un­ter den halb­ge­senk­ten Li­dern be­ob­ach­te­te Stu­der neu­gie­rig die Frau.

Ein Au­fat­men. Frau Wit­schi stand auf, ging in die Kü­che, kam mit ei­ner Kü­der­schau­fel zu­rück und wisch­te die Scher­ben zu­sam­men.

»Scher­ben brin­gen Glück«, sag­te Stu­der lei­se.

Ein gif­ti­ger Blick der Frau. Dann:

»So! Hat der Mör­der end­lich ge­stan­den! Ein Glück! Dann habt Ihr ja hier nichts mehr zu tun, Wacht­meis­ter!« (›Ihr‹ statt ›Sie‹! Stu­der lä­chel­te.)

»Sie ha­ben ganz recht, Frau Wit­schi, ich hab’ nichts mehr zu tun…«

Wie spät war es? Drau­ßen war noch hel­ler Tag. Der Schup­pen stand am Ende des Gar­tens, man sah ihn gut durchs Fens­ter. Stu­der blick­te lan­ge hin. Er dach­te: Die­se Nacht soll­te ich hier in der Nähe Pos­ten ste­hen, die Mut­ter und der Sohn wer­den ver­su­chen, die Tür zu ver­bren­nen. Hät­t’ ich nichts sa­gen sol­len? Doch, es war ganz gut. So ein Schreck­schuss ist manch­mal ganz gut. Ob­wohl der gan­ze Fall hoff­nungs­los ist. Düs­ter, düs­ter… Er hat recht, der Kom­mis­sär Ma­de­lin! Ein Mord­fall auf dem Land!… Wol­len wir den Wit­schi in Frie­den las­sen? Er hat sich ge­op­fert für die Fa­mi­lie… Er hat sich er­schos­sen, da­mit die Ver­si­che­rung zahl­t… Hat er wirk­lich ge­schos­sen?… Mit dem recht­wink­lig ab­ste­hen­den Arm?… Vi­el­leicht steckt doch mehr hin­ter dem Fall… Aber wer hat dann ge­schos­sen?… Der Schlumpf?… Doch der Schlumpf?… Kann man einen Mord aus Lie­be be­ge­hen?… Wa­rum nicht? Gleich­wohl, es ist un­wahr­schein­lich… Der Ar­min?… Der Maque­reau?… Nein, nein, zu feig… Die Mut­ter?… Cha­bis!… Wer dann? Wenn man nur wüss­te, wer den Re­vol­ver ge­kauft hat, viel­leicht gäbe das einen An­halts­punk­t…

»Wo schafft Ihre Toch­ter in Bern?« frag­te Stu­der laut.

»Beim Loeb«, die Stim­me der al­ten Frau zit­ter­te. Man soll­te sie in Ruhe las­sen, die Frau Ana­sta­sia, dach­te Stu­der. Er streck­te die Hand aus, um sich zu ver­ab­schie­den. Aber Frau Wit­schi sah die Hand nicht. Sie ging mit win­zi­gen Schrit­ten zur Tür, öff­ne­te sie. Auf ih­rem Ge­sicht stand ein ge­fro­re­nes Lä­cheln.

»Auf Wie­der­se­hen, Herr Wacht­meis­ter«, sag­te sie.

Stu­der neig­te stumm den Kopf…

Schwomm

Auf der Stra­ße schon hör­te Stu­der die Mu­sik. Be­son­ders laut tön­te die Hand­har­fe. Schrei­er schi­en wie­der sei­nen Platz ein­ge­nom­men zu ha­ben…

 

Und wer saß am Tisch, eif­rig auf Ar­min Wit­schi ein­re­dend, mit ho­hem Steh­kra­gen und schwar­zen, ho­hen Schnür­schu­hen zu grau­en Fla­nell­ho­sen?

Der Leh­rer Schwomm.

Er sprang auf, als Stu­der an ihm vor­bei­ging. Sein Ge­sicht war rat­los und kind­lich. Ober der Ober­lip­pe saß ein blon­des Schnurr­bärt­chen.

»Herr Wacht­meis­ter«, sag­te der Leh­rer Schwomm atem­los, »ich habe ge­hört, dass Sie sich mit dem Fall Wit­schi be­schäf­tig­ten. Ich habe lan­ge ge­zö­gert, Ih­nen an­zu­ver­trau­en, was ich von der Sa­che weiß. Aber nun drängt es mich, der Ge­rech­tig­keit mei­nes Va­ter­lan­des Ge­nü­ge zu tun, und…«

»Red’ nicht so viel, Schwomm«, sag­te Ar­min grob. Stu­der blick­te den Bur­schen streng an. Der nick­te mit dem Kopf, als wol­le er sa­gen: »Du kannst mich lang an­star­ren, mir machst du kei­ne Angst…«

»Wol­len Sie nicht an mei­nen Tisch kom­men, Herr Leh­rer Schwomm?« frag­te Stu­der höf­lich und wies mit der Hand ge­gen den Tisch, an dem noch im­mer der alte El­len­ber­ger saß und ge­dan­ken­voll sein Wein­glas zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger zwir­bel­te…

Schwomm nahm Platz. Das heißt, er setz­te sich auf die äu­ßers­te Kan­te des ei­ser­nen Gar­ten­stuhls, zog dann sein Ta­schen­tuch her­aus und trock­ne­te sich die Stirn. Sei­ne Ge­sichts­haut war fast so gelb wie sei­ne ge­lock­ten Haa­re.

»Ich habe näm­lich am Abend, an dem der arme Wit­schi durch Mör­der­hand um­ge­kom­men ist«, sag­te der Leh­rer Schwomm und kne­te­te an sei­nen Hän­den, »zu­fäl­lig zwei Schüs­se ge­hör­t…«

»So?« sag­te Stu­der tro­cken.

»A bah!« mein­te der alte El­len­ber­ger und zog die Mund­win­kel in die Wan­gen.

»Ja«, der Leh­rer nick­te. »Zwei Schüs­se. Ich bin an je­nem Abend zu­fäl­lig im Wald spa­zie­ren ge­gan­gen… In Beglei­tung… Ich brau­che doch nicht an­zu­ge­ben, mit wem ich im Wal­de war?«

El­len­ber­gers dröh­nen­des Bass­la­chen mach­te den Leh­rer noch ver­le­ge­ner.

»Könn­te ich nicht un­ter vier Au­gen mit Ih­nen spre­chen, Herr Wacht­meis­ter?« frag­te er und wur­de rot.

Stu­der schüt­tel­te den Kopf. Ihn in­ter­es­sier­te we­ni­ger, was der Leh­rer ihm zu er­zäh­len hat­te, als das, was er of­fen­bar ver­schwei­gen woll­te. Und man konn­te aus dem Ver­hal­ten des Man­nes auf das schlie­ßen, was er zu ver­ber­gen hat­te.

Der Leh­rer Schwomm räus­per­te sich.

»Es war un­ge­fähr zehn Uhr, als ich die Land­stra­ße ver­ließ und einen Sei­ten­weg ein­schlug. Ich ging im Wal­de so für mich hin, wie es im Ge­dicht heißt, und ich dach­te auch an nichts. Der Abend war still und weich, ver­schla­fe­ne Vö­gel zirp­ten in den Zwei­gen…«

»A bah!« krächz­te wie­der der alte El­len­ber­ger, aber Stu­der wink­te ab. Der Tisch Ar­mins war leer. Ger­ber tanz­te wie­der mit Son­ja, ver­folgt von den ge­häs­si­gen Bli­cken des ›Con­vict Bands‹, der ›Maque­reau‹ tanz­te mit der Kell­ne­rin und schi­en ihr eif­rig et­was zu er­klä­ren (viel­leicht woll­te er sie zu et­was über­re­den?).

»… Und von Zeit zu Zeit eil­te ein flüch­ti­ges Tier sei­ner Ru­he­stät­te zu. Ich moch­te mit mei­ner… mit mei­nem Beglei­ter schon ziem­lich weit in die sanf­te Tie­fe des Wal­des ein­ge­drun­gen sein, als ich das Knat­tern ei­nes auf der Stra­ße sich nä­hern­den Mo­tor­ra­des ver­nahm, ei­nes leich­ten Mo­tor­ra­des möch­te ich hin­zu­fü­gen…«

»Fü­gen Sie nur ru­hig hin­zu«, sag­te der alte El­len­ber­ger und krächz­te hei­ser. War es ein La­chen?

Aber der Leh­rer ließ sich nicht mehr stö­ren.

»Das Geräusch, wenn ich es so nen­nen darf, hör­te plötz­lich auf. Ich hör­te Zwei­ge knacken…«

»Kön­nen Sie etwa die Di­stanz schät­zen, ich mei­ne die Di­stanz, die Sie von der Stra­ße trenn­te?« frag­te Stu­der und ließ sei­ne Bris­sa­go qual­men.

»Nicht ge­nau«, ant­wor­te­te Schwomm lei­se. Er schi­en ent­rückt zu ein. Sei­ne Au­gen blick­ten ver­schwom­men ins Wei­te – und das Wei­te war hier ein dicht­be­setz­ter Wirts­gar­ten. »Vi­el­leicht könn­te ich die Stel­le wie­der­fin­den, an der ich ge­stan­den bin…«

»Gut«, sag­te Stu­der. »Wei­ter, Herr Leh­rer Schwomm.«

»Die­sen ers­ten Teil, näm­lich das Heran­kom­men des Mo­tor­ra­des und des­sen plötz­li­chen Still­stand, habe ich na­tür­lich im Au­gen­blick nicht be­ach­tet. Es ist mir erst spä­ter ein­ge­fal­len, als im Dor­fe von der Auf­fin­dung des Leicht­mo­tor­ra­des Mar­ke ›Zehn­der‹ ge­spro­chen wur­de, des Mo­tor­ra­des, das dem ver­un­fall­ten Wen­de­lin Wit­schi ge­hört ha­ben soll…«

Ver­un­fall­ten? dach­te Stu­der. Wa­rum sagt der Mann zu­erst durch Mör­der­hand um­ge­kom­men und jetzt ver­un­fallt? Soll­te er? Und es fiel ihm ein, wie grob Ar­min Wit­schi den Leh­rer an­ge­las­sen hat­te.

»Wei­ter«, sag­te Stu­der.

Aber Schwomm be­durf­te die­ser Auf­for­de­rung nicht. Er sprach und be­glei­te­te sei­ne Rede mit pa­the­tisch sein sol­len­den Be­we­gun­gen.

»Da, plötz­lich, in der Stil­le des Wal­des, er­dröhn­ten zwei Schüs­se. Mei­ne… mein Beglei­ter zuck­te zu­sam­men. Ich be­ru­hig­te ihn. Es wer­de wohl nichts Schlim­mes sein. Aber da ich Angst hat­te, oder viel­mehr, da mei­ne… Beglei­tung Angst hat­te, wir könn­ten über­fal­len wer­den, ver­lie­ßen wir, einen großen Um­weg ma­chend, den Wald, ge­lang­ten weit vor dem Dor­fe wie­der auf die Land­stra­ße und folg­ten ihr. Nach ei­ni­ger Zeit sa­hen wir am Ran­de der Stra­ße ein ver­las­se­nes Mo­tor­rad ste­hen. Es war an einen Baum ge­lehnt…«

Schwomm mach­te eine Pau­se.

»Ge­se­hen ha­ben Sie nie­man­den?« frag­te Stu­der ne­ben­bei.

»Ge­se­hen? Nein. Nur ge­hört. Nach den bei­den Schüs­sen das Geräusch vie­ler Schrit­te. Ei­nen dunklen Schat­ten be­merk­ten wir auch, aber nicht ge­gen die Land­stra­ße zu, son­dern in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung, dort, wo der Wald an die Baum­schu­len des Herrn El­len­ber­ger grenzt.«

»Ei­nen Schat­ten?« frag­te Stu­der. »Kön­nen Sie den Schat­ten nä­her be­schrei­ben?«

Statt ei­ner Ant­wort frag­te Schwomm sehr sanft:

»Der Fall ist doch ei­gent­lich durch das Ge­ständ­nis des Schlumpf er­le­digt? Oder?«

»Ge­wiss, ge­wiss.« Stu­der sah auf sei­ne ge­fal­te­ten Hän­de. Er lausch­te dem Ton­fall von des an­de­ren Stim­me. Wa­rum wohl hat­te der Leh­rer mit ei­nem Zeu­gen­be­richt be­gon­nen, um plötz­lich, noch vor des­sen Ende, die Fra­ge zu stel­len, ob der Fall nicht er­le­digt sei? Es gab zwei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der der Leh­rer woll­te sich wich­tig ma­chen, um im Pro­zess eine Rol­le zu spie­len, und es war sehr wahr­schein­lich, dass die­se Mög­lich­keit stimm­te, – oder Schwomm wuss­te et­was, wag­te je­doch aus ir­gend­ei­nem Grun­de nicht die Wahr­heit zu sa­gen und half sich aus der Klem­me, in­dem er die Hälf­te des Wahr­ge­nom­me­nen mit­teil­te, ge­wis­ser­ma­ßen als Be­ru­hi­gungs­mit­tel für sein be­las­te­tes Ge­wis­sen. Denn der Mann wuss­te et­was, das war si­cher. Nicht um­sonst er­geht sich ein im­mer­hin ge­bil­de­ter Mann – er war Se­kun­dar­leh­rer – in ei­ner ziem­lich öden Phra­seo­lo­gie, wie ›ver­schla­fe­ne Vög­lein zirp­ten in den Zwei­gen‹. Und dann war da das Wort, das dem Leh­rer wahr­schein­lich ganz un­be­wusst ent­schlüpft war: ›… ver­un­fall­ten‹.

Schwei­gen am Tisch. Die Mu­sik ver­stumm­te, das Stück war zu Ende und lau­ter er­tön­te das Stim­men­ge­summ. Die drei am Ne­ben­tisch kehr­ten zu­rück. Son­ja blick­te un­be­tei­ligt auf den Leh­rer – sie schi­en also nicht die ›Beglei­tung‹ des Leh­rers ge­we­sen zu sein, wenn man über­haupt aus Bli­cken Schlüs­se zie­hen konn­te. Ar­mins Ge­sicht hin­ge­gen war leicht ver­zerrt. Er schi­en je­man­den zu su­chen. Manch­mal streif­ten sei­ne Bli­cke über den Leh­rer Schwomm, schweif­ten ab, schie­nen wie­der auf die Su­che zu ge­hen, blie­ben an der Türe han­gen, die aus der Wirt­schaft in den Gar­ten führ­te…

Dort stand die Kell­ne­rin. Und Stu­der fühl­te mehr, als dass er rich­tig ge­se­hen hät­te, wie sie ganz un­merk­lich wink­te – eine leich­te Be­we­gung des Kop­fes, ein Mund­win­kel, der zuck­te… Ar­min lehn­te sich zu­rück, gähn­te, hielt die Hand vor den Mund. Ein kaum merk­li­ches Ni­cken, – das Gäh­nen war wohl nur ein Ver­such, die Beo­b­ach­ter von der Be­we­gung des Kop­fes ab­zu­len­ken…

Stu­der war nicht mehr müde. Es kam ihm vor, als ste­he er wie­der mit­ten in den Er­eig­nis­sen. Er war nicht mehr aus­ge­schal­tet. Vor al­lem: es schi­en et­was vor­zu­ge­hen, Er­eig­nis­se wa­ren zu er­war­ten, Stu­der fühl­te es in al­len Glie­dern. Er blieb ru­hig. Zu­erst aus die­sem bad­schwamm­blon­den Men­schen, die­sem Leh­rer, al­les her­aus­ho­len, was es her­aus­zu­ho­len gab, und dann…

Stu­der hat­te schon sein Pro­gramm für mor­gen.

Aber wie viel konn­te noch pas­sie­ren zwi­schen heut und mor­gen!… Die gan­ze Nacht lag da­zwi­schen. Er wuss­te, der Wacht­meis­ter Stu­der, dass er die fol­gen­de Nacht nicht viel schla­fen wür­de… Aber was tat das? Sau­be­re Ar­beit! kom­man­dier­te er sich. Und wenn die Sa­che noch so un­or­dent­lich und ver­wor­ren aus­sieht! Ord­nung muss sein. Sau­ber­keit! Sau­ber­keit vor al­lem!

»Und wie sah der Schat­ten aus?« Die Fra­ge war ein Über­fall. Der ver­träum­te Leh­rer schreck­te auf.

»Er husch­te« (›husch­te!‹ sag­te der Leh­rer Schwomm), »er husch­te in zehn Me­ter Ent­fer­nung an uns… eh… an mir vor­bei. Grö­ße? Mit­tel­groß… ja, mit­tel­groß…« Der Leh­rer schwieg plötz­lich.

»Mit­tel­groß?« frag­te Stu­der freund­lich. »Ich müss­te Ver­gleichs­mög­lich­kei­ten ha­ben. Un­ge­fähr wie groß war er, der Schat­ten? Ich will Ih­nen zwar ver­ra­ten, Herr Leh­rer Schwomm, dass der Schat­ten viel­leicht gar kei­ne Wich­tig­keit hat, aber mög­li­cher­wei­se be­stä­tigt er un­se­re Ver­mu­tun­gen. Wäre der Schat­ten so groß ge­we­sen wie, sa­gen wir, der An­ge­klag­te Schlumpf, so wäre dies sehr wich­tig für die Rich­ter, die ja nichts auf ein Ge­ständ­nis ge­ben, so­lan­ge nicht jede Be­we­gung des An­ge­klag­ten vor und nach der Tat samt al­len psy­cho­lo­gi­schen Mo­ti­ven ganz ge­nau fest­ge­legt ist. Ich spre­che zu ei­nem Aka­de­mi­ker, nicht wahr, ei­nem ein­fa­chen Man­ne ge­gen­über wür­de ich mich we­ni­ger ge­lehrt aus­drücken; also wie groß war der Schat­ten?«

»Ich habe Er­win Schlumpf ei­gent­lich we­nig ge­se­hen. Aber mir scheint, der Schat­ten war von sei­ner Grö­ße…«

»Es wäre für uns von größ­ter Be­deu­tung, wenn wir viel­leicht die An­sicht Ih­rer… Ih­rer Beglei­tung hö­ren könn­ten, aber dies wird wahr­schein­lich un­mög­lich sein…«

»Aus­ge­schlos­sen, ganz aus­ge­schlos­sen… Ich könn­te es nie und nim­mer ver­ant­wor­ten…«

»Schon gut«, schnitt Stu­der die Be­teue­run­gen ab. Er schiel­te nach dem Ti­sche Ar­mins. Dort schi­en et­was los zu sein. Ar­min flüs­ter­te eif­rig auf sei­ne Schwes­ter ein, den Coif­feur­ge­hil­fen hat­te er mit ei­ner Hand­be­we­gung dazu ge­bracht, nicht zu­zu­hö­ren. Dann stand Ar­min auf – die Kell­ne­rin lehn­te noch im­mer am Pfos­ten der Saal­tü­re, sie schi­en plötz­lich schwer­hö­rig ge­wor­den zu sein und blind oben­drein, denn sie küm­mer­te sich we­der um die Rufe noch um das Win­ken der Gäs­te. Sie sah aber Ar­mins Auf­ste­hen, dreh­te sich um und ver­schwand im In­nern des ›Bä­ren‹. Ar­min schlen­der­te durch den Gar­ten, den Kopf hielt er ge­senkt. Plötz­lich be­schleu­nig­te er sein Schlen­dern, er nahm große Schrit­te – und dann schluck­te auch ihn die of­fe­ne Tü­re…

»Schon gut«, wie­der­hol­te Stu­der nach ei­ner Pau­se – und er konn­te den Blick nicht von Son­ja wen­den. Verzweif­lung, Angst, Rat­lo­sig­keit brach­ten Un­ru­he in das Klein­mäd­chen­ge­sicht.

Wenn sie nur Ver­trau­en zu mir hät­te, grü­bel­te Stu­der. Er dach­te, wäh­rend er den nächs­ten Wor­ten Schwomms zer­streut lausch­te, im­mer­fort an sei­ne Frau. Wenn die hier wä­re… Seit er ihr das Ro­man­le­sen ab­ge­wöhnt hat­te, ge­lang es dem Hedy (Frau Stu­der hieß Hed­wig) gut, ge­plag­te, schweig­sa­me Men­schen zum Re­den zu brin­gen – be­son­ders Frau­en.

Der Leh­rer Schwomm aber sag­te:

»Na­tür­lich will ich nicht be­haup­ten, dass ich Er­win Schlumpf auf der Flucht nach sei­ner ruch­lo­sen Tat er­tappt ha­be…« (Ver­un­fallt – ruch­lo­se Tat, ging es Stu­der durch den Kopf…) »Aber im­mer­hin schi­en es mir merk­wür­dig, dass der Schat­ten die Rich­tung nach den Baum­schu­len des Herrn El­len­ber­ger nahm…«

»Die Baum­schu­len als Schat­ten­reich, he­he­he…« me­cker­te der alte El­len­ber­ger. Stu­der sah ihn stra­fend an.

 

»Und Sie sind ganz si­cher, zwei Schüs­se ge­hört zu ha­ben, und nach den zwei Schüs­sen ha­ben Sie den Schat­ten in der Rich­tung der Baum­schu­len ver­schwin­den se­hen?«

»Ich glau­be«, Schwomm stot­ter­te, »Ich glau­be, ich habe zwei Schüs­se ge­hört.« Wie hil­fe­su­chend blick­te sich der Leh­rer um. Aber er ver­mied es, Stu­der in die Au­gen zu se­hen.

»Glau­ben! glau­ben!« sag­te Stu­der vor­wurfs­voll. »Ein Mann wie Sie darf nicht glau­ben, er muss si­cher sein. Also zwei Schüs­se? Ja?«

»Jaha«, es klang wie ein Seuf­zer.

Schwei­gen. Dann be­gann die Mu­sik wie­der zu spie­len. Aus­ge­rech­net: ›Wenn du ein­mal dein Herz ver­schenkst…‹ Stu­der sah den Coif­feur­lehr­ling Son­ja zum Tanz auf­for­dern. Das Mäd­chen schüt­tel­te den Kopf. Sie pack­te ihre klei­ne Hand­ta­sche un­ter den Arm, rann­te durch den Gar­ten. War es eine Flucht? War es nicht viel­mehr ein letz­ter Ver­such, je­man­den ein­zu­ho­len?

»Wer hat Ih­nen den Auf­trag ge­ge­ben, mir von zwei Schüs­sen zu er­zäh­len, wäh­rend ich durch fünf Zeu­gen­aus­sa­gen er­här­ten kann, dass nur ein Schuss ge­fal­len ist?« (Das mit den fünf Zeu­gen­aus­sa­gen war auf­ge­leg­ter Schwin­del, in Mur­manns Pro­to­kol­len stand nichts der­glei­chen, aber was tat man nicht al­les, um die Wahr­heit zu fin­den?)

»Fünf Zeu­gen­aus­sa­gen?« Schwomm war bleich. »Er­här­ten?«

»Ja, er­här­ten!« sag­te Stu­der grob. »Üb­ri­gens in­ter­es­siert mich das gar nicht. Sie ha­ben ein schlech­tes Ge­wis­sen, Herr Leh­rer Schwomm. Sie ha­ben ver­sucht, das schlech­te Ge­wis­sen los zu wer­den, in­dem Sie mir nur die Hälf­te, was sage ich, die Hälf­te!… nur ein Vier­tel der Wahr­heit er­zählt ha­ben. Ich will jetzt nichts mehr hö­ren«, Stu­der wink­te ab, denn Schwomm öff­ne­te den Mund, um sich zu recht­fer­ti­gen. »Ich glau­be Ih­nen nichts mehr. Ich habe die Ehre, mich zu emp­feh­len…«

Wenn Stu­der hoch­deutsch sprach, und das kam sel­ten ge­nug vor, war die Wir­kung im­mer die glei­che – ob es sich nun um die Wir­kung auf Zi­vil­per­so­nen han­del­te oder um die auf jun­ge Fahn­der. Alle spür­ten dann, es war am bes­ten, man ließ den Wacht­meis­ter in Ruhe.

»Heiß, heiß!« krächz­te der alte El­len­ber­ger. »Vous brûlez com­mis­saire!« Wie es in je­nem Spiel üb­lich ist, in dem ein ver­steck­ter Ge­gen­stand ge­sucht wer­den muss und die Wis­sen­den den Su­chen­den lei­ten mit Wor­ten wie: ›kalt, wär­mer, sehr warm, heiß‹, je nach­dem der Su­chen­de sich dem ver­steck­ten Ge­gen­stand nä­hert oder sich von ihm ent­fernt.

»Ihr wer­det auch nicht im­mer spie­len kön­nen, El­len­ber­ger«, sag­te Stu­der. Sein Ge­sicht war sehr bleich, er hat­te die Hän­de ge­ballt. Dann zuck­te er mit den Ach­seln und schritt zwi­schen den lau­ten Ti­schen hin­durch, auf die Türe zu, in der Ar­min Wit­schi ver­schwun­den war.

Im Schie­ber­rhyth­mus spiel­te ›The Con­vict Ban­d‹:

›Muss i denn, muss i denn zum Städt­le hin­aus…‹