Hauptwerke: Menschliches – Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse

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218. Der Stein ist mehr Stein als früher. – Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. – Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.

219. Religiöse Herkunft der neueren Musik. – Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen Concil, durch Palestrina, welcher dem neu" erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschäftigung mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia wieder eine Seele schenken wollte. – Ohne jene tief religiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemüthes wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet. – Die Musik war die Gegenrenaissance im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums. Und noch jetzt dürfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik regiert, der Affect, die Lust an erhöhten, weit gespannten Stimmungen, das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, – das hat Alles schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze geschaffen: – es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance.

220. Das Jenseits in der Kunst. – Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche, wie die divina commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben habe.

221. Die Revolution in der Poesie. – Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus – das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwährenden Experimentiren, wenn der Faden der Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich ziemlich unabhängig von Lessing (dessen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragödie aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgeführt hätten; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte, – er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die Natur des Deutschen –; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, – aber die Zügel der Logik, nicht mehr des künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum "grossen Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd waren; wir benutzen reichlich die "barbarischen Avantagen" unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die Formlosigkeit seines Faust in das günstigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker muss ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle Dichter müssen ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum endlich, welches verlernt hat, in der Bändigung der darstellenden Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunstmittel die eigentlich künstlerische That zu sehen, muss immer mehr die Kraft um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, geniessen und zu guterletzt die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler isolirt sie ihm auch darreichen müsse. Ja, man hat die "unvernünftigen" Fesseln der französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu finden; – und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei – was freilich höchst belehrend ist – alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, – Lord Byron hat einmal ausgesprochen: "Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revolutionären System, – unsere oder die nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es ist diess der selbe Byron, welcher sagt: "Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau das Selbe? – jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass sie einmal erfüllt gewesen sind und dass auch wir noch an dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten.

 

222. Was von der Kunst übrig bleibt. – Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden, während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. – Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar zu viel Aehnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher, als die Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte. – Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, dass wir endlich rufen: "wie es auch sei, das Leben, es ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, – diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Erkennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen.

223. Abendröthe der Kunst. – Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.

Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur.

224. Veredelung durch Entartung. – Aus der Geschichte ist zu lernen, dass der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren Individuen, an denen das geistige Fortschreiten in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleichsam inoculirt ; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden. – Etwas Aehnliches ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. – Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass "die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit". Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren.

225. Freigeist ein relativer Begriff. – Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in's Gesicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere Art. Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. – Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die Anderen Glauben.

226. Herkunft des Glaubens. – Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.

 

227. Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. – Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie, – also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, dass es ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem Pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsächlich verfährt der Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte diess nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut diess thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persönlichen Nutzen , den eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellectuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. – Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich.

228. Der starke, gute Charakter. – Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gemäss seiner ganzen Natur mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.

229. Maass der Dinge bei den gebundenen Geistern. – Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht sind. – Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben.

230. Esprit fort. – Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig stark zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?

231. Die Entstehung des Genie's. – Der Witz des Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltblütigste und langwierigste Benützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie – ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu verstehen – zu Stande zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. – Oder mit einem anderen Bilde: jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalität nachrühmt. – Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glänzenden Begabung zu errathen. – Aus diesen allgemeinen Andeutungen über die Entstehung des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die Entstehung des vollkommenen Freigeistes.

232. Vermuthung über den Ursprung der Freigeisterei. – Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich gewachsen ist.

233. Die Stimme der Geschichte. – Im Allgemeinen scheint die Geschichte über die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben: misshandelt und quält die Menschen, – so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass und Wetteifer zu – treibt sie zum Aeussersten, den Einen wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über. – Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des Genius' käme und die Art, wie die Natur gewöhnlich verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos wie die Natur sein müssen. – Aber vielleicht haben wir uns verhört.