Hauptwerke: Menschliches – Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse

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280. Erschwerung als Erleichterung und umgekehrt. – Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige.

281. Die höhere Cultur wird nothwendig missverstanden. – Wer sein Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser dem Wissenstrieb nur noch einen anerzogenen religiösen haben, der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen können. Es liegt im Wesen der höheren vielsaitigeren Cultur, dass sie von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute, die nur religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.

282. Klagelied. – Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss – sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit – mitunter wie eine Krankheit zu Wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. – Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius' der Meditation, verstummen.

283. Hauptmangel der thätigen Menschen. – Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. – Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.

284. Zu Gunsten der Müssigen. – Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass sie also diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr Genuss ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Musse und Müssiggehen. – Wenn Müssiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der thätige. – Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere?

285. Die moderne Unruhe. – Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. Doch hat schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.

286. Inwiefern der thätige faul ist. – Ich glaube, dass jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. – Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.

287. Censor vitae. Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und, wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sein.

288. Nebenerfolg. – Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen ist.

289. Werth der Krankheit. – Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.

290. Empfindung auf dem Lande. – Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und begehrlich wie das Wesen des Städters: er hat kein Glück und giebt kein Glück.

291. Vorsicht der freien Geister. – Freigesinnte, der Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr äusserliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der äusseren Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. – Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in diese verwickeln. – Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten. – Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur, so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit Etwas für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten. – Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten Heroismus, welcher es verschmäht, sich der grossen Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält hat – kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.

292. Vorwärts. – Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer Zeit vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen? Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: "einerseits-andererseits". Wandle zurück, in die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu – deine letzte Bewegung; ein jauchzen der Erkenntniss – dein letzter Laut.

 

Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr.

293. Wohlwollende Verstellung. – Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten.

294. Copien. – Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale.

295. Der Redner. – Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle Weldt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet.

296. Mangel an Vertraulichkeit. – Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.

297. Zur Kunst des Schenkens. – Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.

298. Der gefährlichste Parteimann. – In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt.

299. Rathgeber des Kranken. Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.

300. Doppelte Art der Gleichheit. – Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).

301. Gegen Verlegenheit. – Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt.

302. Vorliebe für einzelne Tugenden. – Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen.

303. Warum man widerspricht. – Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.

304. Vertrauen und Vertraulichkeit. – Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.

305. Gleichgewicht der Freundschaft. – Manchmal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen.

306. Die gefährlichsten Aerzte. – Die gefährlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.

307. Wann Paradoxien am Platze sind. – Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen.

308. Wie muthige Leute gewonnen werden. – Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt, als sie ist.

309. Artigkeiten. – Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.

310. Warten lassen. – Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch.

311. Gegen die Vertraulichen. – Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.

312. Ausgleichsmittel. – Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witze über uns zu geben, um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen.

313. Eitelkeit der Zunge. – Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird.

314. Rücksichtsvoll. – Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen Sinnesart sein.

315. Zum Disputiren erforderlich. – Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.

316. Umgang und Anmaassung. – Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten.

317. Motiv des Angriffs. – Man greift nicht nur an, um jemandem wehe zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden.

318. Schmeichelei. – Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert, nur um so mehr wach erhält.

319. Guter Briefschreiber. – Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein.

320. Am hässlichsten. – Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte.

321. Die Mitleidigen. – Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen.

322. Verwandte eines Selbstmörders. – Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist.

323. Undank vorauszusehen. – Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last.

324. In geistloser Gesellschaft. – Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.

325. Gegenwart von Zeugen. – Man springt einem Menschen, der in's Wasser fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen.

326. Schweigen. – Die für beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.

327. Das Geheimniss des Freundes. – Es wird Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben.

328. Humanität. – Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.

329. Der Befangene. – Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich , vor der Gesellschaft, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.

330. Dank. – Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.

331. Merkmal der Entfremdung. – Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran fühlt.

332. Anmaassung bei Verdiensten. – Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst. denn schon das Verdienst beleidigt.

333. Gefahr in der Stimme. – Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unserer Meinung entsprechen.

334. Im Gespräche. – Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das Andere hat Sinn.

335. Furcht vor dem Nächsten. – Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten kommt.

336. Durch Tadel auszeichnen. – Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen; wir ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen.

337. Verdruss am Wohlwollen Anderer. – Wir irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen, jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen und desshalb auch nur oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.

338. Sich kreuzende Eitelkeiten. – Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu.

339. Unarten als gute Anzeichen. – Der überlegene Geist hat an den Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so stolz sein werden, ihn zu tragen.

 

340. Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. – Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres Unrecht unsererseits sehen würde, wenn wir ihm widersprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen.

341. Zuwenig geehrt. – Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange, sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der Täuschung, so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin.

342. Urzustände in der Rede nachklingend. – In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. – Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindisch waren.

343. Der Erzähler. – Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzählung interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative gebrauchen und Aehnliches thun. Er erzählt dann gewöhnlich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt.

344. Der Vorleser. – Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme natürlicher, als für andere, etwa für alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilität zu zeigen.

345. Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. – Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesellschaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel anhören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem – und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?

346. Wider Willen unhöflich. – Wenn jemand wider Willen einen Andern unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, – also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.

347. Verräther-Meisterstück. – Gegen den Mitverschworenen den kränkenden Argwohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdächtig und offen zu benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat.

348. Beleidigen und beleidigt werden. – Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Verzeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andere, wenn er nicht als inhuman gelten will, muss schon verzeihen; der Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen gering.

349. Im Disput. – Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen: sie erscheint absichtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben.

350. Kunstgriff. – Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will, muss die Sache überhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit; er muss es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben.

351. Gewissensbisse nach Gesellschaften. – Warum haben wir nach gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehörten.

352. Man wird falsch beurtheilt. – Wer immer darnach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen, welche uns am nächsten stehen ("am besten kennen"), falsch beurtheilt. Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem missgünstigen Worte aus; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? – Die Urtheile der Gleichgültigen thun sehr weh, weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puncte so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss!

353. Tyrannei des Portraits. – Künstler und Staatsmänner, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt.

354. Der Verwandte als der beste Freund. – Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei, – sie allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philosophische Erörterung der Freundschaft; sodass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes Problem erschienen ist – diese selben Griechen haben die Verwandten mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes "Freund" ist. Diess bleibt mir unerklärlich.

355. Verkannte Ehrlichkeit. – Wenn jemand im Gespräche sich selber citirt ("ich sagte damals", "ich pflege zu sagen"), so macht diess den Eindruck der Anmaassung, während es häufiger gerade aus der entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit, welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören.

356. Der Parasit. – Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten, leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. – Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen).