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Die Geburt der Tragödie: Versuch einer Selbstkritik

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Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten "der grosse Pan ist todt": so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt: "die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen! Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt!"

Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung aufblühte, die in der Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todeskampf der Tragödie kämpfte Euripides; jene spätere Kunstgattung ist als neue reattische Komödie bekannt. In ihr lebte die entartete Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und gewaltsamen Hinscheidens.

Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der Unterwelt aufsuchen zu können: wenn er nur überhaupt überzeugt sein dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend vorbildlich wirkte: so genügt es zu sagen, dass der Zuschauer von Euripides auf die Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänzlich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt jene peinliche Treue, die auch die misslungenen Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als gutmüthigverschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen "Fröschen" zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffentlichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere, mit unerhörter Klugheit Land und Gut verwalte und ihre Prozesse führe, so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit.

An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war, erhob sich jene schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber – der Chorlehrer – wurde unaufhörlich gepriesen: ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift "als Greis leichtsinnig und grillig" gilt auch vom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von "griechischer Heiterkeit" die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünftiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser Schein der "griechischen Heiterkeit" war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt – als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben hätte, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch – jedes für sich – aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen.

Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht herausgekommen sei und man möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist "Publicum" nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zu accomodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capacitäten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ am höchsten begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch behandelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulenschlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Laufbahn zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck, Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben. Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorgängern des Euripides keineswegs von einem Missverhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unablässig zum Schaffen gedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem die Sonne der grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der Volksgunst leuchteten? Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer führte ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er aus zu hoher Achtung vor seinem Publicum – sein Publicum missachten?

Euripides fühlte sich – das ist die Lösung des eben dargestellten Räthsels – als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über, zwei seiner Zuschauer erhaben: die Masse brachte er auf die Bühne, jene beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigen Richter und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisungen und Mahnungen folgend übertrug er die ganze Welt von Empfindungen, Leidenschaften und Erfahrungen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als unsichtbarer Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner Bühnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er für diese neuen Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren Stimmen allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah.

 

Von diesen beiden Zuschauern ist der eine – Euripides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkelgewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der in's Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen! Wie ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück! Selbst in der Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse, zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn; erklären aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken und Einwendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und in diesem qualvollen Zustande fand er den anderen Zuschauer, der die Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen – nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der seine Vorstellung von der Tragödie der überlieferten entgegenstellt. -

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Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschilderten Eindruck des Zwiespältigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen Tragödie selbst in's Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere eigene Befremdung dem Chore und dem tragischen Helden jener Tragödie gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit der Ueberlieferung zu reimen wussten – bis wir jene Doppelheit selbst als Ursprung und Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, des Apollinischen und des Dionysischen.

Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen – dies ist die jetzt in heller Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripides.

Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre: aber der Gott Dionysus ist zu mächtig; der verständigste Gegner – wie Pentheus in den "Bacchen" – wird unvermuthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen: wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer so lauen Betheiligun; Anstoss nehme und den Diplomaten – wie hier den Kadmus – schliesslich in einen Drachen verwandle. Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat – um am Ende desselben mit einer Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufhahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu trösten suchen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempel liegt in Trümmern; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein Geständniss, dass es der schönste aller Tempel gewesen sei? Und selbst dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt worden ist – wen möchte diese erbärmliche Compensation befriedigen?

Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mit der Euripides die aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte.

Welches Ziel – so müssen wir uns jetzt fragen – konnte die euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu gründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupt haben? Welche Form des Drama's blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des Dionysischen geboren werden sollte? Allein das dramatisirte Epos: in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragische Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der dargestellten Ereignisse an; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe in seiner projectirten "Nausikaa" unmöglich gewesen sein würde, den Selbstmord jenes idyllischen Wesens – der den fünften Act ausfüllen sollte – tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die Gewalt des Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener Lust am Scheine und der Erlösung durch den Schein vor unseren Augen verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende Anschauung, die die Bilder vorsich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode; die Weihe des inneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals ganz Schauspieler ist.

Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama's gegenüber das euripideische Stück? Wie zu dem feierlichen Rhapsoden der alten Zeit jener jüngere, der sein Wesen im platonischen "Jon" also beschreibt: "Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Thränen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft." Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affectlosen Kühle des wahren Schauspielers, der gerade in seiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken – an Stelle der apollinischen Anschauungen – und feurige Affecte – an Stelle der dionysischen Entzückungen – und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte.

Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des aesthetischen Sokratismus schon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön zu sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der Wissende ist tugendhaft." Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss diesem Princip: die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dichterischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische Prolog diene uns als Beispiel für die Productivität jener rationalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht? – da ja hier keinesfalls das aufregende Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später eintretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraussetzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die aeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft bewährt, die das nothwendige Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei, um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama's, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen; dies ist die Aufgabe des berüchtigten deux ex machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche "Drama."

 

So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seiner bewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst.

Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: "im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung." Und wenn Anaxagoras mit seinem "Nous" unter den Philosophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die "trunkenen" Dichter als der erste "Nüchterne" verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegenstück des "unverständigen" Dichters der Welt zu zeigen; sein aesthetischer Grundsatz "alles muss bewusst sein, um schön zu sein", ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen "alles muss bewusst sein, um gut zu sein". Demgemäss darf uns Euripides als der Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische Princip: insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt: welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurg floh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus.