Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der Zauberer
1

Als aber Za­ra­thustra um einen Fel­sen her­um­bog, da sahe er, nicht weit un­ter sich, auf dem glei­chen Wege, einen Men­schen, der die Glie­der warf wie ein Tob­süch­ti­ger und end­lich bäuch­lings zur Erde nie­der­stürz­te. »Halt! sprach da Za­ra­thustra zu sei­nem Her­zen, Der dort muss wohl der hö­he­re Mensch sein, von ihm kam je­ner schlim­me Noth­schrei, – ich will sehn, ob da zu hel­fen ist.« Als er aber hin­zu­lief, an die Stel­le, wo der Mensch auf dem Bo­den lag, fand er einen zit­tern­den al­ten Mann mit stie­ren Au­gen; und wie sehr sich Za­ra­thustra müh­te, dass er ihn auf­rich­te und wie­der auf sei­ne Bei­ne stel­le, es war um­sonst. Auch schi­en der Un­glück­li­che nicht zu mer­ken, dass je­mand um ihn sei; viel­mehr sah er sich im­mer mit rüh­ren­den Ge­bär­den um, wie ein von al­ler Welt Ver­las­se­ner und Ver­ein­sam­ter. Zu­letzt aber, nach vie­lem Zit­tern, Zu­cken und Sich-zu­sam­men-Krüm­men, be­gann er also zu jam­mern:

Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?

Gebt heis­se Hän­de!

Gebt Her­zens-Koh­len­be­cken!

Hin­ge­streckt, schau­dernd,

Halb­tod­tem gleich, dem man die Füs­se wärmt –

Ge­schüt­telt, ach! von un­be­kann­ten Fie­bern,

Zit­ternd vor spit­zen ei­si­gen Frost-Pfei­len,

Von dir ge­jagt, Ge­dan­ke!

Un­nenn­ba­rer! Ver­hüll­ter! Ent­setz­li­cher!

Du Jä­ger hin­ter Wol­ken!

Dar­nie­der­ge­blitzt von dir,

Du höh­nisch Auge, das mich aus Dunklem an­blickt:

– so lie­ge ich,

Bie­ge mich, win­de mich, ge­quält

Von al­len ewi­gen Mar­tern,

Ge­trof­fen

Von Dir, grau­sams­ter Jä­ger,

Du un­be­kann­ter – Gott!

Triff tiefer,

Triff Ein Mal noch!

Zer­stich, zer­brich diess Herz!

Was soll diess Mar­tern

Mit zäh­ne­stump­fen Pfei­len?

Was blickst du wie­der,

Der Men­schen-Qual nicht müde,

Mit scha­den­fro­hen Göt­ter-Blitz-Au­gen?

Nicht töd­ten willst du,

Nur mar­tern, mar­tern?

Wozu – mich mar­tern, Du scha­den­fro­her un­be­kann­ter Gott? – Haha! Du schleichst her­an? Bei sol­cher Mit­ter­nacht Was willst du? Sprich! Du drängst mich, drückst mich – Ha! schon viel zu nahe! Weg! Weg! Du hörst mich ath­men, Du be­horchst mein Herz, Du Ei­fer­süch­ti­ger – Worauf doch ei­fer­süch­tig? Weg! Weg! Wozu die Lei­ter? Willst du hin­ein, In’s Herz, Ein­stei­gen, in mei­ne heim­lichs­ten Ge­dan­ken ein­stei­gen? Scham­lo­ser! Un­be­kann­ter – Dieb! Was willst du dir er­steh­len, Was willst du dir er­hor­chen, Was willst du dir er­fol­tern, Du Fol­te­rer! Du – Hen­ker-Gott! Oder soll ich, dem Hun­de gleich, Vor dir mich wäl­zen? Hin­ge­bend, be­geis­tert-aus­ser-mir, Dir – Lie­be zu­we­deln? Um­sonst! Stich wei­ter, Grau­sams­ter Sta­chel! Nein, Kein Hund – dein Wild nur bin ich, Grau­sams­ter Jä­ger! Dein stol­zes­ter Ge­fang­ner, Du Räu­ber hin­ter Wol­ken! Sprich end­lich, Was willst du, We­ge­la­ge­rer, von mir? Du Blitz-Ver­hüll­ter! Un­be­kann­ter! Sprich, Was willst du, un­be­kann­ter Gott? – – Wie? Lö­se­geld? Was willst du Lö­se­gelds? Ver­lan­ge Viel – das räth mein Stolz! Und rede kurz – das räth mein and­rer Stolz! Haha! Mich – willst du? Mich? Mich – ganz? Haha! Und mar­terst mich, Narr, der du bist, Zer­mar­terst mei­nen Stolz? Gieb Lie­be mir – wer wärmt mich noch? Wer liebt mich noch? – gieb heis­se Hän­de, Gieb Her­zens-Koh­len­be­cken, Gieb mir, dem Ein­sams­ten, Den Eis, ach! sie­ben­fa­ches Eis Nach Fein­den sel­ber, Nach Fein­den schmach­ten lehrt, Gieb, ja er­gieb, Grau­sams­ter Feind, Mir – dich! – – Da­von! Da floh er sel­ber, Mein letz­ter ein­zi­ger Ge­noss, Mein gros­ser Feind, Mein Un­be­kann­ter, Mein Hen­ker-Gott! – – Nein! Komm zu­rück, Mit al­len dei­nen Mar­tern! Zum Letz­ten al­ler Ein­sa­men Oh komm zu­rück! All mei­ne Thrä­nen-Bä­che lau­fen Zu dir den Lauf! Und mei­ne letz­te Her­zens-Flam­me – Dir glüht sie auf! Oh komm zu­rück, Mein un­be­kann­ter Gott! Mein Schmerz! Mein letz­tes – Glück!

2

– Hier aber konn­te sich Za­ra­thustra nicht län­ger hal­ten, nahm sei­nen Stock und schlug mit al­len Kräf­ten auf den jam­mern­den los. »Halt ein! schrie er ihm zu, mit in­grim­mi­gem La­chen, halt ein, du Schau­spie­ler! Du Falsch­mün­zer! Du Lüg­ner aus dem Grun­de! Ich er­ken­ne dich wohl!

Ich will dir schon war­me Bei­ne ma­chen, du schlim­mer Zau­be­rer, ich ver­ste­he mich gut dar­auf, Sol­chen wie du bist – ein­zu­hei­zen!«

– »Lass ab, sag­te der alte Mann und sprang vom Bo­den auf, schla­ge nicht mehr, oh Za­ra­thustra! Ich trie­b’s also nur zum Spie­le!

Sol­cher­lei ge­hört zu mei­ner Kunst; dich sel­ber woll­te ich auf die Pro­be stel­len, als ich dir die­se Pro­be gab! Und, wahr­lich, du hast mich gut durch­schaut!

Aber auch du – gabst mir von dir kei­ne klei­ne Pro­be: du bist har­t, du wei­ser Za­ra­thustra! Hart schlägst du zu mit dei­nen »Wahr­hei­ten,« dein Knüt­tel er­zwingt von mir – die­se Wahr­heit!«

– »Schmeich­le nicht, ant­wor­te­te Za­ra­thustra, im­mer noch er­regt und fins­ter­bli­ckend, du Schau­spie­ler aus dem Grun­de! Du bist falsch: was re­dest du – von Wahr­heit!

Du Pfau der Pfau­en, du Meer der Ei­tel­keit, was spiel­test du vor mir, du schlim­mer Zau­be­rer, an wen soll­te ich glau­ben, als du in sol­cher Ge­stalt jam­mer­test?«

»Den Büs­ser des Geis­tes, sag­te der alte Mann, den – spiel­te ich: du sel­ber er­fan­dest einst diess Wort –

– den Dich­ter und Zau­be­rer, der ge­gen sich sel­ber end­lich sei­nen Geist wen­det, den Ver­wan­del­ten, der an sei­nem bö­sen Wis­sen und Ge­wis­sen er­friert.

Und ge­steh es nur ein: es währ­te lan­ge, oh Za­ra­thustra, bis du hin­ter mei­ne Kunst und Lüge kamst! Du glaub­test an mei­ne Noth, als du mir den Kopf mit bei­den Hän­den hiel­test, –

– ich hör­te dich jam­mern »man hat ihn zu we­nig ge­liebt, zu we­nig ge­liebt!« Dass ich dich so­weit be­trog, dar­über frohlock­te in­wen­dig mei­ne Bos­heit.«

»Du magst Fei­ne­re be­tro­gen ha­ben als mich, sag­te Za­ra­thustra hart. Ich bin nicht auf der Hut vor Be­trü­gern, ich muss ohne Vor­sicht sein: so will es mein Loos.

Du aber – musst be­trü­gen: so weit ken­ne ich dich! Du musst im­mer zwei- drei- vier- und fünf­deu­tig sein! Auch was du jetzt be­kann­test, war mir lan­ge nicht wahr und nicht falsch ge­nung!

Du schlim­mer Falsch­mün­zer, wie könn­test du an­ders! Dei­ne Krank­heit wür­dest du noch schmin­ken, wenn du dich dei­nem Arz­te nackt zeig­test.

So schmink­test du eben vor mir dei­ne Lüge, als du sprachst: »ich trie­b’s also nur zum Spie­le!« Es war auch Ernst dar­in, du bist Et­was von ei­nem Büs­ser des Geis­tes!

Ich er­rat­he dich wohl: du wur­dest der Be­zau­be­rer Al­ler, aber ge­gen dich hast du kei­ne Lüge und List mehr üb­rig, – du sel­ber bist dir ent­zau­bert!

Du ern­te­test den Ekel ein, als dei­ne Eine Wahr­heit. Kein Wort ist mehr an dir ächt, aber dein Mund: näm­lich der Ekel, der an dei­nem Mun­de klebt.« – –

– »Wer bist du doch! schrie hier der alte Zau­be­rer mit ei­ner trot­zi­gen Stim­me, wer darf also zu m i r re­den, dem Gröss­ten, der heu­te lebt?« – und ein grü­ner Blitz schoss aus sei­nem Auge nach Za­ra­thustra. Aber gleich dar­auf ver­wan­del­te er sich und sag­te trau­rig:

»Oh Za­ra­thustra, ich bin’s müde, es ekelt mich mei­ner Küns­te, ich bin nicht gross, was ver­stel­le ich mich! Aber, du weisst es wohl – ich such­te nach Grös­se!

Ei­nen gros­sen Men­schen woll­te ich vor­stel­len und über­re­de­te Vie­le: aber die­se Lüge gieng über mei­ne Kraft. An ihr zer­bre­che ich.

Oh Za­ra­thustra, Al­les ist Lüge an mir; aber dass ich zer­bre­che – diess mein Zer­bre­chen ist ächt!« –

»Es ehrt dich, sprach Za­ra­thustra düs­ter und zur Sei­te nie­der­bli­ckend, es ehrt dich, dass du nach Grös­se such­test, aber es ver­räth dich auch. Du bist nicht gross.

Du schlim­mer al­ter Zau­be­rer, das ist dein Bes­tes und Red­lichs­tes, was ich an dir ehre, dass du dei­ner müde wur­dest und es aus­sprachst: »ich bin nicht gross.«

Da­rin ehre ich dich als einen Büs­ser des Geis­tes: und wenn auch nur für einen Hauch und Husch, die­sen Ei­nen Au­gen­blick warst du – ächt.

Aber sprich, was suchst du hier in mei­nen Wäl­dern und Fel­sen? Und wenn du mir dich in den Weg leg­test, wel­che Pro­be woll­test du von mir? –

– wess ver­such­test du mich?« –

Also sprach Za­ra­thustra, und sei­ne Au­gen fun­kel­ten. Der alte Zau­be­rer schwieg eine Wei­le, dann sag­te er: »Ver­such­te ich dich? Ich – su­che nur.

Oh Za­ra­thustra, ich su­che einen Äch­ten, Rech­ten, Ein­fa­chen, Ein­deu­ti­gen, einen Men­schen al­ler Red­lich­keit, ein Ge­fäss der Weis­heit, einen Hei­li­gen der Er­kennt­niss, einen gros­sen Men­schen!

Weisst du es denn nicht, oh Za­ra­thustra? Ich su­che Za­ra­thustra

– Und hier ent­stand ein lan­ges Still­schwei­gen zwi­schen Bei­den; Za­ra­thustra aber ver­sank tief hin­ein in sich sel­ber, also dass er die Au­gen schloss. Dann aber, zu sei­nem Un­ter­red­ner zu­rück­keh­rend, er­griff er die Hand des Zau­be­rers und sprach, vol­ler Ar­tig­keit und Ar­g­list:

»Wohl­an! Dort hin­auf führt der Weg, da liegt die Höh­le Za­ra­thustra’s. In ihr darfst du su­chen, wen du fin­den möch­test.

Und fra­ge mei­ne Thie­re um Rath, mei­nen Ad­ler und mei­ne Schlan­ge: die sol­len dir su­chen hel­fen. Mei­ne Höh­le aber ist gross.

 

Ich sel­ber frei­lich – ich sah noch kei­nen gros­sen Men­schen. Was gross ist, da­für ist das Auge der Feins­ten heu­te grob. Es ist das Reich des Pö­bels.

So Man­chen fand ich schon, der streck­te und bläh­te sich, und das Volk schrie: »Seht da, einen gros­sen Men­schen!« Aber was hel­fen alle Bla­se­bäl­ge! Zu­letzt fährt der Wind her­aus.

Zu­letzt platzt ein Frosch, der sich zu lan­ge auf­blies: da fährt der Wind her­aus. Ei­nem Ge­schwoll­nen in den Bauch ste­chen, das heis­se ich eine bra­ve Kurzweil. Hört das, ihr Kna­ben!

Diess Heu­te ist des Pö­bels: wer weiss da noch, was gross, was klein ist! Wer such­te da mit Glück nach Grös­se! Ein Narr al­lein: den Nar­ren glück­t’s.

Du suchst nach gros­sen Men­schen, du wun­der­li­cher Narr? Wer lehr­te’s dich? Ist heu­te dazu die Zeit? Oh du schlim­mer Su­cher, was – ver­suchst du mich?« – –

Also sprach Za­ra­thustra, ge­trös­te­ten Her­zens, und gieng la­chend sei­nes Wegs für­bass.

Ausser Dienst

Nicht lan­ge aber, nach­dem Za­ra­thustra sich von dem Zau­be­rer los­ge­macht hat­te, sahe er wie­der­um Je­man­den am Wege sit­zen, den er gieng, näm­lich einen schwar­zen lan­gen Mann mit ei­nem ha­ge­ren Bleich­ge­sicht: der ver­dross ihn ge­wal­tig. »Wehe, sprach er zu sei­nem Her­zen, da, sitzt ver­mumm­te Trüb­sal, das dünkt mich von der Art der Pries­ter: was wol­len die in mei­nem Rei­che?

Wie! Kaum bin ich je­nem Zau­be­rer ent­ron­nen: muss mir da wie­der ein an­de­rer Schwarz­künst­ler über den Weg lau­fen, –

– ir­gend ein He­xen­meis­ter mit Hand­auf­le­gen, ein dunk­ler Wun­dert­hä­ter von Got­tes Gna­den, ein ge­salb­ter Welt-Ver­leum­der, den der Teu­fel ho­len möge!

Aber der Teu­fel ist nie am Plat­ze, wo er am Plat­ze wäre: im­mer kommt er zu spät, die­ser ver­ma­le­dei­te Zwerg und Klump­fuss!« –

Also fluch­te Za­ra­thustra un­ge­dul­dig in sei­nem Her­zen und ge­dach­te, wie er ab­ge­wand­ten Blicks an dem schwar­zen Man­ne vor­über­schlüp­fe: aber sie­he, es kam an­ders. Im glei­chen Au­gen­bli­cke näm­lich hat­te ihn schon der Sit­zen­de er­blickt; und nicht un­ähn­lich ei­nem Sol­chen, dem ein un­ver­mu­the­tes Glück zu­stösst, sprang er auf und gieng auf Za­ra­thustra los.

»Wer du auch bist, du Wan­ders­mann, sprach er, hilf ei­nem Ver­irr­ten, ei­nem Su­chen­den, ei­nem al­ten Man­ne, der hier leicht zu Scha­den kommt!

Die­se Welt hier ist mir fremd und fern, auch hör­te ich wil­de Thie­re heu­len; und Der, wel­cher mir hät­te Schutz bie­ten kön­nen, der ist sel­ber nicht mehr.

Ich such­te den letz­ten from­men Men­schen, einen Hei­li­gen und Ein­sied­ler, der al­lein in sei­nem Wal­de noch Nichts da­von ge­hört hat­te, was alle Welt heu­te weiss.«

»Was weiss heu­te alle Welt? frag­te Za­ra­thustra. Etwa diess, dass der alte Gott nicht mehr lebt, an den alle Welt einst ge­glaubt hat?«

»Du sagst es, ant­wor­te­te der alte Mann be­trübt. Und ich diente die­sem al­ten Got­te bis zu sei­ner letz­ten Stun­de.

Nun aber bin ich aus­ser Dienst, ohne Herrn, und doch nicht frei, auch kei­ne Stun­de mehr lus­tig, es sei denn in Erin­ne­run­gen.

Dazu stieg ich in die­se Ber­ge, dass ich end­lich wie­der ein Fest mir mach­te, wie es ei­nem al­ten Paps­te und Kir­chen-Va­ter zu­kommt: denn wis­se, ich bin der letz­te Papst! – ein Fest from­mer Erin­ne­run­gen und Got­tes­diens­te.

Nun aber ist er sel­ber todt, der frömms­te Mensch, je­ner Hei­li­ge im Wal­de, der sei­nen Gott be­stän­dig mit Sin­gen und Brum­men lob­te.

Ihn sel­ber fand ich nicht mehr, als ich sei­ne Hüt­te fand, – wohl aber zwei Wöl­fe dar­in, wel­che um sei­nen Tod heul­ten – denn alle Thie­re lieb­ten ihn. Da lief ich da­von.

Kam ich also um­sonst in die­se Wäl­der und Ber­ge? Da ent­schloss sich mein Herz, dass ich einen An­de­ren such­te, den Frömms­ten al­ler De­rer, die nicht an Gott glau­ben –, dass ich Za­ra­thustra such­te!«

Also sprach der Greis und blick­te schar­fen Au­ges Den an, wel­cher vor ihm stand; Za­ra­thustra aber er­griff die Hand des al­ten Paps­tes und be­trach­te­te sie lan­ge mit Be­wun­de­rung.

»Sie­he da, du Ehr­wür­di­ger, sag­te er dann, wel­che schö­ne und lan­ge Hand! Das ist die Hand ei­nes Sol­chen, der im­mer Se­gen aus­get­heilt hat. Nun aber hält sie Den fest, wel­chen du suchst, mich, Za­ra­thustra.

Ich bin’s, der gott­lo­se Za­ra­thustra, der da spricht: wer ist gott­lo­ser als ich, dass ich mich sei­ner Un­ter­wei­sung freue?« –

Also sprach Za­ra­thustra und durch­bohr­te mit sei­nen Bli­cken die Ge­dan­ken und Hin­ter­ge­dan­ken des al­ten Paps­tes. End­lich be­gann die­ser:

»Wer ihn am meis­ten lieb­te und be­sass, der hat ihn nun am meis­ten auch ver­lo­ren –:

– sie­he, ich sel­ber bin wohl von uns Bei­den jetzt der Gott­lo­se­re? Aber wer könn­te dar­an sich freu­en!« –

»Du dientest ihm bis zu­letzt, frag­te Za­ra­thustra nach­denk­lich, nach ei­nem tie­fen Schwei­gen, du weisst, wie er starb? Ist es wahr, was man spricht, dass ihn das Mit­lei­den er­würg­te,

– dass er es sah, wie der Men­sch am Kreu­ze hieng, und es nicht er­trug, dass die Lie­be zum Men­schen sei­ne Höl­le und zu­letzt sein Tod wur­de?« – –

Der alte Papst aber ant­wor­te­te nicht, son­dern blick­te scheu und mit ei­nem schmerz­li­chen und düs­te­ren Aus­dru­cke zur Sei­te.

»Lass ihn fah­ren, sag­te Za­ra­thustra nach ei­nem lan­gen Nach­den­ken, in­dem er im­mer noch dem al­ten Man­ne ge­ra­de in’s Auge blick­te.

Lass ihn fah­ren, er ist da­hin. Und ob es dich auch ehrt, dass du die­sem Tod­ten nur Gu­tes nach­re­dest, so weisst du so gut als ich, wer er war; und dass er wun­der­li­che Wege gieng.«

»Un­ter drei Au­gen ge­spro­chen, sag­te er­hei­tert der alte Papst (denn er war auf Ei­nem Auge blind), in Din­gen Got­tes bin ich auf­ge­klär­ter als Za­ra­thustra sel­ber – und darf es sein.

Mei­ne Lie­be diente ihm lan­ge Jah­re, mein Wil­le gieng al­lem sei­nen Wil­len nach. Ein gu­ter Die­ner aber weiss Al­les, und Man­cher­lei auch, was sein Herr sich selbst ver­birgt.

Es war ein ver­bor­ge­ner Gott, vol­ler Heim­lich­keit. Wahr­lich zu ei­nem Soh­ne so­gar kam er nicht an­ders als auf Schleich­we­gen. An der Thür sei­nes Glau­bens steht der Ehe­bruch.

Wer ihn als einen Gott der Lie­be preist, denkt nicht hoch ge­nug von der Lie­be sel­ber. Woll­te die­ser Gott nicht auch Rich­ter sein? Aber der Lie­ben­de liebt jen­seits von Lohn und Ver­gel­tung.

Als er jung war, die­ser Gott aus dem Mor­gen­lan­de, da war er hart und rach­süch­tig und er­bau­te sich eine Höl­le zum Er­göt­zen sei­ner Lieb­lin­ge.

End­lich aber wur­de er alt und weich und mür­be und mit­lei­dig, ei­nem Gross­va­ter ähn­li­cher als ei­nem Va­ter, am ähn­lichs­ten aber ei­ner wa­cke­li­gen al­ten Gross­mut­ter.

Da sass er, welk, in sei­nem Ofen­win­kel, härm­te sich ob sei­ner schwa­chen Bei­ne, welt­mü­de, wil­lens­mü­de, und er­stick­te ei­nes Tags an sei­nem all­zu­gros­sen Mit­lei­den.« – –

»Du al­ter Papst, sag­te hier Za­ra­thustra da­zwi­schen, hast du Das mit Au­gen an­ge­sehn? Es könn­te wohl so ab­ge­gan­gen sein: so, un­d auch an­ders. Wenn Göt­ter ster­ben, ster­ben sie im­mer vie­le Ar­ten To­des.

Aber wohl­an! So oder so, so und so – er ist da­hin! Er gieng mei­nen Ohren und Au­gen wi­der den Ge­schmack, Schlim­me­res möch­te ich ihm nicht nach­sa­gen.

Ich lie­be Al­les, was hell blickt und red­lich re­det. Aber er – du weisst es ja, du al­ter Pries­ter, es war Et­was von dei­ner Art an ihm, von Pries­ter-Art – er war viel­deu­tig.

Er war auch un­deut­lich. Was hat er uns darob ge­zürnt, die­ser Zorn­schnau­ber, dass wir ihn schlecht ver­stan­den Aber warum sprach er nicht rein­li­cher?

Und lag es an un­sern Ohren, warum gab er uns Ohren, die ihn schlecht hör­ten? War Schlamm in un­sern Ohren, wohl­an! wer leg­te ihn hin­ein?

Zu Vie­les miss­rieth ihm, die­sem Töp­fer, der nicht aus­ge­lernt hat­te! Dass er aber Ra­che an sei­nen Töp­fen und Ge­schöp­fen nahm, da­für dass sie ihm schlecht ge­rie­then, – das war eine Sün­de wi­der den gu­ten Ge­schmack.

Es giebt auch in der Fröm­mig­keit gu­ten Ge­schmack: der sprach end­lich »Fort mit ei­nem sol­chen Got­te! Lie­ber kei­nen Gott, lie­ber auf eig­ne Faust Schick­sal ma­chen, lie­ber Narr sein, lie­ber sel­ber Gott sein!«

– »Was höre ich! sprach hier der alte Papst mit ge­spitz­ten Ohren; oh Za­ra­thustra, du bist fröm­mer als du glaubst, mit ei­nem sol­chen Un­glau­ben! Ir­gend ein Gott in dir be­kehr­te dich zu dei­ner Gott­lo­sig­keit.

Ist es nicht dei­ne Fröm­mig­keit sel­ber, die dich nicht mehr an einen Gott glau­ben lässt? Und dei­ne über­gros­se Red­lich­keit wird dich auch noch jen­seits von Gut und Böse weg­fuh­ren!

Sie­he, doch, was blieb dir auf­ge­spart? Du hast Au­gen und Hand und Mund, die sind zum Seg­nen vor­her be­stimmt seit Ewig­keit. Man seg­net nicht mit der Hand al­lein.

In dei­ner Nähe, ob du schon der Gott­lo­ses­te sein willst, wit­te­re ich einen heim­li­chen Weih- und Wohl­ge­ruch von lan­gen Seg­nun­gen: mir wird wohl und wehe da­bei.

Lass mich dei­nen Gast sein, oh Za­ra­thustra, für eine ein­zi­ge Nacht! Nir­gends auf Er­den wird es mir jetzt woh­ler als bei dir!« –

»Amen! So soll es sein! sprach Za­ra­thustra mit gros­ser Ver­wun­de­rung, dort hin­auf führt der Weg, da liegt die Höh­le Za­ra­thustra’s.

Ger­ne, für­wahr, wür­de ich dich sel­ber da­hin ge­lei­ten, du Ehr­wür­di­ger, denn ich lie­be alle from­men Men­schen. Aber jetzt ruft mich ei­lig ein Noth­schrei weg von dir.

In mei­nem Be­rei­che soll mir Nie­mand zu Scha­den kom­men; mei­ne Höh­le ist ein gu­ter Ha­fen. Und am liebs­ten möch­te ich jed­we­den Trau­ri­gen wie­der auf fes­tes Land und fes­te Bei­ne stel­len.

Wer aber näh­me dir dei­ne Schwer­muth von der Schul­ter? Dazu bin ich zu schwach. Lan­ge, wahr­lich, möch­ten wir war­ten, bis dir Ei­ner dei­nen Gott wie­der auf­weckt.

Die­ser alte Gott näm­lich lebt nicht mehr: der ist gründ­lich todt.« –

Also sprach Za­ra­thustra.

Der hässlichste Mensch

– Und wie­der lie­fen Za­ra­thustra’s Füs­se durch Ber­ge und Wäl­der, und sei­ne Au­gen such­ten und such­ten, aber nir­gends war Der zu se­hen, wel­chen sie sehn woll­ten, der gros­se Noth­lei­den­de und Noth­schrei­en­de. Auf dem gan­zen Wege aber frohlock­te er in sei­nem Her­zen und war dank­bar. »Wel­che gu­ten Din­ge, sprach er, schenk­te mir doch die­ser Tag, zum Ent­gelt, dass er schlimm be­gann! Wel­che selt­sa­men Un­ter­red­ner fand ich!

An de­ren Wor­ten will ich lan­ge nun kau­en gleich als an gu­ten Kör­nern; klein soll mein Zahn sie mah­len und mal­men, bis sie mir wie Milch in die See­le flies­sen!« – –

Als aber der Weg wie­der um einen Fel­sen bog, ver­än­der­te sich mit Ei­nem Male die Land­schaft, und Za­ra­thustra trat in ein Reich des To­des. Hier starr­ten schwar­ze und ro­the Klip­pen em­por: kein Gras, kein Baum, kei­ne Vo­gel­stim­me. Es war näm­lich ein Thal, wel­ches alle Thie­re mie­den, auch die Raubt­hie­re-, nur dass eine Art häss­li­cher, di­cker, grü­ner Schlan­gen, wenn sie alt wur­den, hier­her ka­men, um zu ster­ben. Da­rum nann­ten diess Thal die Hir­ten: Schlan­gen-Tod.

Za­ra­thustra aber ver­sank in eine schwar­ze Erin­ne­rung, denn ihm war, als habe er schon ein Mal in die­sem Thal ge­stan­den. Und vie­les Schwe­re leg­te sich ihm über den Sinn: also, dass er lang­sam gieng und im­mer lang­sa­mer und end­lich still stand. Da aber sahe er, als er die Au­gen auf­t­hat, Et­was, das am Wege sass, ge­stal­tet wie ein Mensch und kaum wie ein Mensch, et­was Unaus­sprech­li­ches. Und mit Ei­nem Schla­ge über­fiel Za­ra­thustra die gros­se Scham darob, dass er so Et­was mit den Au­gen an­ge­sehn habe: er­rö­thend bis hin­auf an sein weis­ses Haar, wand­te er den Blick ab und hob den Fuss, dass er die­se schlim­me Stel­le ver­las­se. Da aber wur­de die tod­te Öde laut: vom Bo­den auf näm­lich quoll es gur­gelnd und rö­chelnd, wie Was­ser Nachts durch ver­stopf­te Was­ser-Röh­ren gur­gelt und rö­chelt; und zu­letzt wur­de dar­aus eine Men­schen-Stim­me und Men­schen-Rede: – die lau­te­te also.

»Za­ra­thustra! Za­ra­thustra! Ra­the mein Räth­sel! Sprich, sprich! Was ist die Ra­che am Zeu­gen?

 

Ich lo­cke dich zu­rück, hier ist glat­tes Eis! Sieh zu, sieh zu, ob dein Stolz sich hier nicht die Bei­ne bricht!

Du dünkst dich wei­se, du stol­zer Za­ra­thustra! So rat­he doch das Räth­sel, du har­ter Nüs­se­knacker, – das Räth­sel, das ich bin! So sprich doch – wer bin ich! «

– Als aber Za­ra­thustra die­se Wor­te ge­hört hat­te, – was glaubt ihr wohl, dass sich da mit sei­ner See­le zu­trug? Das Mit­lei­den fiel ihn an; und er sank mit Ei­nem Male nie­der, wie ein Eich­baum, der lan­ge vie­len Holz­schlä­gern wi­der­stan­den hat, – schwer, plötz­lich, zum Schre­cken sel­ber für Die, wel­che ihn fäl­len woll­ten. Aber schon stand er wie­der vom Bo­den auf, und sein Ant­litz wur­de hart.

»Ich er­ken­ne dich wohl, sprach er mit ei­ner er­ze­nen Stim­me: du bist der Mör­der Got­tes! Lass mich gehn.

Du er­trugst Den nicht, der dich sah, – der dich im­mer und durch und durch sah, du häss­lichs­ter Mensch! Du nahmst Ra­che an die­sem Zeu­gen!«

Also sprach Za­ra­thustra und woll­te da­von; aber der Unaus­sprech­li­che fass­te nach ei­nem Zip­fel sei­nes Ge­wan­des und be­gann von Neu­em zu gur­geln und nach Wor­ten zu su­chen. »Bleib!« sag­te er end­lich –

– bleib! Geh nicht vor­über! Ich er­rieth, wel­che Axt dich zu Bo­den schlug: Heil dir, oh Za­ra­thustra, dass du wie­der stehst!

Du er­rie­thest, ich weiss es gut, wie Dem zu Mu­the ist, der ihn töd­te­te, – dem Mör­der Got­tes. Bleib! Set­ze dich her zu mir, es ist nicht um­sonst.

Zu wem woll­te ich, wenn nicht zu dir? Bleib, set­ze dich! Bli­cke mich aber nicht an! Ehre also – mei­ne Häss­lich­keit!

Sie ver­fol­gen mich: nun bist du mei­ne letz­te Zuf­lucht. Nicht mit ih­rem Has­se, nicht mit ih­ren Hä­schern: – oh sol­cher Ver­fol­gung wür­de ich spot­ten und stolz und froh sein!

War nicht al­ler Er­folg bis­her bei den Gut-Ver­folg­ten? Und wer gut ver­folgt, lernt leicht fol­gen: – ist er doch ein­mal – hin­ter­her! Aber ihr Mit­lei­d ist’s –

– ihr Mit­leid ist’s, vor dem ich flüch­te und dir zu­flüch­te. Oh Za­ra­thustra, schüt­ze mich, du mei­ne letz­te Zuf­lucht, du Ein­zi­ger, der mich er­rieth:

– du er­rie­thest, wie Dem zu Mu­the ist, wel­cher ih­n töd­te­te. Bleib! Und willst du gehn, du Un­ge­dul­di­ger: geh nicht den Weg, den ich kam. Der Weg ist schlecht.

Zürnst du mir, dass ich zu lan­ge schon rede-rade-bre­che? Dass ich schon dir rat­he? Aber wis­se, ich bin’s, der häss­lichs­te Mensch,

– der auch die gröss­ten schwers­ten Füs­se hat. Wo ich gieng, ist der Weg schlecht. Ich tre­te alle Wege todt und zu Schan­den.

Dass du aber an mir vor­über­giengst, schwei­gend; dass du er­rö­the­test, ich sah es wohl: dar­an er­kann­te ich dich als Za­ra­thustra.

Jed­we­der An­de­re hät­te mir sein Al­mo­sen zu­ge­wor­fen, sein Mit­lei­den, mit Blick und Rede. Aber dazu – bin ich nicht Bett­ler ge­nug, das er­rie­thest du –

– dazu bin ich zu reich , reich an Gros­sem, an Furcht­ba­rem, am Häss­lichs­ten, am Unaus­sprech­lichs­ten! Dei­ne Scham, oh Za­ra­thustra, ehr­te mich!

Mit Noth kam ich her­aus aus dem Ge­dräng der Mit­lei­di­gen, – dass ich den Ein­zi­gen fän­de, der heu­te lehrt »Mit­lei­den ist zu­dring­lich« – dich, oh Za­ra­thustra!

– sei es ei­nes Got­tes, sei es der Men­schen Mit­lei­den: Mit­lei­den geht ge­gen die Scham. Und nicht-hel­fen-wol­len kann vor­neh­mer sein als jene Tu­gend, die zu­springt.

Das aber heisst heu­te Tu­gend sel­ber bei al­len klei­nen Leu­ten, das Mit­lei­den: – die ha­ben kei­ne Ehr­furcht vor gros­sem Un­glück, vor gros­ser Häss­lich­keit, vor gros­sem Miss­rat­hen.

Über die­se Alle bli­cke ich hin­weg, wie ein Hund über die Rücken wim­meln­der Schaf­he­er­den weg­blickt. Es sind klei­ne wohl­wol­li­ge wohl­wil­li­ge graue Leu­te.

Wie ein Rei­her ver­ach­tend über fla­che Tei­che weg­blickt, mit zu­rück­ge­leg­tem Kop­fe: so bli­cke ich über das Ge­wim­mel grau­er klei­ner Wel­len und Wil­len und See­len weg.

Zu lan­ge hat man ih­nen Recht ge­ge­ben, die­sen klei­nen Leu­ten: so gab man ih­nen end­lich auch die Macht – nun leh­ren sie: »gut ist nur, was klei­ne Leu­te gut heis­sen.«

Und »Wahr­heit« heisst heu­te, was der Pre­di­ger sprach, der sel­ber aus ih­nen her­kam, je­ner wun­der­li­che Hei­li­ge und Für­spre­cher der klei­nen Leu­te, wel­cher von sich zeug­te »ich – bin die Wahr­heit.«

Die­ser Un­be­scheid­ne macht nun lan­ge schon den klei­nen Leu­ten den Kamm hoch schwel­len – er, der kei­nen klei­nen Irr­thum lehr­te, als er lehr­te »ich – bin die Wahr­heit.«

Ward ei­nem Un­be­scheid­nen je­mals höf­li­cher geant­wor­tet? – Du aber, oh Za­ra­thustra, giengst an ihm vor­über und sprachst: »Nein! Nein! Drei Mal Nein!«

Du warn­test vor sei­nem Irr­thum, du warn­test als der Ers­te vor dem Mit­lei­den – nicht Alle, nicht Kei­nen, son­dern dich und dei­ne Art.

Du schämst dich an der Scham des gros­sen Lei­den­den; und wahr­lich, wenn du sprichst »von dem Mit­lei­den her kommt eine gros­se Wol­ke, habt Acht, ihr Men­schen!«

– wenn du lehrst »alle Schaf­fen­den sind hart, alle gros­se Lie­be ist über ih­rem Mit­lei­den«: oh Za­ra­thustra, wie gut dünkst du mich ein­ge­lernt auf Wet­ter-Zei­chen!

Du sel­ber aber – war­ne dich sel­ber auch vor dei­nem Mit­lei­den! Denn Vie­le sind zu dir un­ter­wegs, vie­le Lei­den­de, Zwei­feln­de, Verzwei­feln­de, Er­trin­ken­de, Frie­ren­de –

Ich war­ne dich auch vor mir. Du er­rie­thest mein bes­tes, schlimms­tes Räth­sel, mich sel­ber und was ich that. Ich ken­ne die Axt, die dich fällt.

Aber er – muss­te ster­ben: er sah mit Au­gen, wel­che Al­les sahn, – er sah des Men­schen Tie­fen und Grün­de, alle sei­ne ver­hehl­te Schmach und Häss­lich­keit.

Sein Mit­lei­den kann­te kei­ne Scham: er kroch in mei­ne schmut­zigs­ten Win­kel. Die­ser Neu­gie­rigs­te, Über-Zu­dring­li­che, Über-Mit­lei­di­ge muss­te ster­ben.

Er sah im­mer mich: an ei­nem sol­chen Zeu­gen woll­te ich Ra­che ha­ben – oder sel­ber nicht le­ben.

Der Gott, der Al­les sah, auch den Men­schen die­ser Gott muss­te ster­ben! Der Mensch er­träg­t es nicht, dass solch ein Zeu­ge lebt.«

Also, sprach der häss­lichs­te Mensch. Za­ra­thustra aber er­hob sich und schick­te sich an fort­zu­gehn: denn ihn frös­tel­te bis in sei­ne Ein­ge­wei­de.

»Du Unaus­sprech­li­cher, sag­te er, du warn­test mich vor dei­nem Wege. Zum Dan­ke da­für lobe ich dir den mei­nen. Sie­he, dort hin­auf liegt die Höh­le Za­ra­thustra’s.

Mei­ne Höh­le ist gross und tief und hat vie­le Win­kel; da fin­det der Ver­steck­tes­te sein Ver­steck. Und dicht bei ihr sind hun­dert Schlüp­fe und Sch­li­che für krie­chen­des, flat­tern­des und sprin­gen­des Gethier.

Du Aus­ge­stos­se­ner, der du dich sel­ber aus­sties­sest, du willst nicht un­ter Men­schen und Men­schen-Mit­leid woh­nen? Wohl­an, so thu’s mir gleich! So lernst du auch von mir; nur der Thä­ter lernt.

Und rede zu­erst und -nächst mit mei­nen Thie­ren! Das stol­zes­te Thier und das klügs­te Thier – die möch­ten uns Bei­den wohl die rech­ten Ra­th­ge­ber sein!« – –

Also sprach Za­ra­thustra und gieng sei­ner Wege, nach­denk­li­cher und lang­sa­mer noch als zu­vor: denn er frag­te sich Vie­les und wuss­te sich nicht leicht zu ant­wor­ten.

»Wie arm ist doch der Mensch! dach­te er in sei­nem Her­zen, wie häss­lich, wie rö­chelnd, wie voll ver­bor­ge­ner Scham!

Man sagt mir, dass der Mensch sich sel­ber lie­be: ach, wie gross muss die­se Sel­ber-Lie­be sein! Wie viel Ver­ach­tung hat sie wi­der sich!

Auch die­ser da lieb­te sich, wie er sich ver­ach­te­te, – ein gros­ser Lie­ben­der ist er mir und ein gros­ser Veräch­ter.

Kei­nen fand ich noch, der sich tiefer ver­ach­tet hät­te: auch Das ist Höhe. Wehe, war Der viel­leicht der hö­he­re Mensch, des­sen Schrei ich hör­te?

Ich lie­be die gros­sen Ver­ach­ten­den. Der Mensch aber ist Et­was, das über­wun­den wer­den muss.« – –