Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Nun aber be­ginnt die Oper, nach den deut­lichs­ten Zeug­nis­sen, mit der For­de­rung des Zu­hö­rers, das Wort zu ver­stehn.

Wie? Der Zu­hö­rer for­dert? Das Wort soll ver­stan­den wer­den?

*

Die Mu­sik aber nun gar in den Dienst ei­ner Rei­he von Bil­dern und Be­grif­fen zu stel­len, sie als Mit­tel zum Zweck, zu ih­rer Ver­stär­kung und Ver­deut­li­chung, zu ver­wen­den – die­se son­der­ba­re An­ma­ßung, die im Be­griff der »Oper« ge­fun­den wird, er­in­nert mich an den lä­cher­li­chen Men­schen, der sich mit sei­nen eig­nen Ar­men in die Luft zu he­ben ver­sucht: was die­ser Narr, und was die Oper nach je­nem Be­grif­fe ver­su­chen, sind rei­ne Un­mög­lich­kei­ten. Je­ner Opern­be­griff for­dert nicht etwa von der Mu­sik einen Miß­brauch, son­dern – wie ich sag­te – eine Un­mög­lich­keit! Die Mu­sik kann nie Mit­tel wer­den, man mag sie sto­ßen, schrau­ben, fol­tern: als Ton, als Trom­mel­wir­bel, auf ih­ren ro­he­s­ten und ein­fachs­ten Stu­fen über­win­det sie noch die Dich­tung und er­nied­rigt sie zu ih­rem Wie­der­schein. Die Oper als Kunst­gat­tung nach je­nem Be­griff ist so­mit nicht so­wohl Ver­ir­rung der Mu­sik, als eine irr­t­hüm­li­che Vor­stel­lung der Äs­the­tik. Wenn ich üb­ri­gens hier­mit das We­sen der Oper für die Äs­the­tik recht­fer­ti­ge, so bin ich na­tür­lich weit ent­fernt, da­mit schlech­te Opern­mu­sik oder schlech­te Opern­dich­tun­gen recht­fer­ti­gen zu wol­len. Die schlech­tes­te Mu­sik kann im­mer noch der bes­ten Dich­tung ge­gen­über den dio­ny­si­schen Welt­un­ter­grund be­deu­ten, und die schlech­tes­te Dich­tung Spie­gel, Ab­bild und Wie­der­schein die­ses Un­ter­grun­des sein, bei der bes­ten Mu­sik: so ge­wiß näm­lich der ein­zel­ne Ton, dem Bild ge­gen­über, be­reits dio­ny­sisch, und das ein­zel­ne Bild, sammt dem Be­griff und Wort der Mu­sik ge­gen­über, be­reits apol­li­nisch ist. Ja selbst schlech­te Mu­sik sammt schlech­ter Poe­sie kann noch über das We­sen der Mu­sik und der Poe­sie be­leh­ren.

Wenn also zum Bei­spiel Scho­pen­hau­er die Nor­ma Bel­li­ni’s als Er­fül­lung der Tra­gö­die, hin­sicht­lich ih­rer Mu­sik und Dich­tung, emp­fand, so war er, in sei­ner dio­ny­sisch-apol­li­ni­schen Er­re­gung und Selbst­ver­ges­sen­heit, dazu völ­lig be­rech­tigt, weil er Mu­sik und Dich­tung in ih­rem all­ge­meins­ten, gleich­sam phi­lo­so­phi­schen Wert­he, als Mu­sik und Dich­tung über­haupt, emp­fand: wäh­rend er mit je­nem Urt­heil einen nur we­nig ge­bil­de­ten, d. h. his­to­risch ver­glei­chen­den Ge­schmack be­wies. Uns, die wir in die­ser Un­ter­su­chung ab­sicht­lich je­der Fra­ge nach dem his­to­ri­schen Wert­he ei­ner Kuns­ter­schei­nung aus dem Wege ge­hen und nur die Er­schei­nung selbst, in ih­rer un­ver­än­der­ten gleich­sam ewi­gen Be­deu­tung, so­mit auch in ih­rem höchs­ten Ty­pus, in’s Auge zu fas­sen uns be­mühn – uns gilt die Kunst­gat­tung der Oper als eben­so be­rech­tigt wie das Volks­lied, in­so­fern wir in bei­den jene Ve­rei­ni­gung des Dio­ny­si­schen und Apol­li­ni­schen vor­fin­den und für die Oper – näm­lich für den höchs­ten Ty­pus der Oper – eine ana­lo­ge Ent­ste­hung vor­aus­set­zen dür­fen wie für das Volks­lied. Nur in­so­fern die uns his­to­risch be­kann­te Oper seit ih­rem An­fang eine völ­lig ver­schie­de­ne Ent­ste­hung hat als das Volks­lied, ver­wer­fen wir die­se »Oper«: als wel­che sich zu je­nem eben von uns vert­hei­dig­ten Gat­tungs­be­griff der Oper ver­hält wie die Ma­rio­net­te zum le­ben­den Men­schen. So ge­wiß auch die Mu­sik nie Mit­tel, im Diens­te des Tex­tes, wer­den kann, son­dern auf je­den Fall den Text über­win­det: so wird sie doch si­cher­lich schlech­te Mu­sik, wenn der Com­po­nist jede in ihm auf­stei­gen­de dio­ny­si­sche Kraft durch einen ängst­li­chen Blick auf die Wor­te und Ges­ten sei­ner Ma­rio­net­ten bricht. Hat ihm der Opern­dich­ter über­haupt nicht mehr als die üb­li­chen sche­ma­ti­sir­ten Fi­gu­ren mit ih­rer ägyp­ti­schen Re­gel­mä­ßig­keit ge­bo­ten, so wird der Werth der Oper um so hö­her sein, je frei­er, un­be­ding­ter, dio­ny­si­scher die Mu­sik sich ent­fal­tet und je mehr sie alle so­ge­nann­ten dra­ma­ti­schen An­for­de­run­gen ver­ach­tet. Die Oper in die­sem Sin­ne ist dann frei­lich im bes­ten Fal­le gute Mu­sik und nur Mu­sik: wäh­rend die da­bei ab­ge­spiel­te Gau­ke­lei gleich­sam nur eine phan­tas­ti­sche Ver­klei­dung des Or­che­s­ters, vor Al­lem sei­ner wich­tigs­ten In­stru­men­te, der Sän­ger, ist, von der der Ein­sich­ti­ge sich la­chend ab­wen­det. Wenn die große Mas­se sich ge­ra­de an ihr er­götzt und die Mu­sik da­bei nur ge­stat­tet: so geht es ihr wie al­len De­nen, die den gol­de­nen Rah­men ei­nes gu­ten Ge­mäl­des hö­her als die­ses selbst schät­zen: Ver­möch­te sol­chen nai­ven Ver­ir­run­gen noch eine ernst­haf­te oder gar pa­the­ti­sche Ab­fer­ti­gung gön­nen?

Was wird aber die Oper als »dra­ma­ti­sche« Mu­sik zu be­deu­ten ha­ben, in ih­rer mög­lichst wei­ten Ent­fer­nung von rei­ner, an sich wir­ken­der, al­lein dio­ny­si­scher Mu­sik? Den­ken wir uns ein bun­tes lei­den­schaft­li­ches und den Zuschau­er fort­rei­ßen­des Dra­ma, das als Ak­ti­on be­reits sei­nes Er­fol­ges si­cher ist: was wird hier »dra­ma­ti­sche« Mu­sik noch hin­zut­hun kön­nen, wenn sie nichts da­von­nimmt? Sie wird aber ers­tens viel da­von­neh­men: denn in je­dem Mo­men­te, wo ein­mal die dio­ny­si­sche Ge­walt der Mu­sik in den Zu­hö­rer ein­schlägt, um­flort sich das Auge, das die Ak­ti­on sieht, das sich in die vor ihm auf­tre­ten­den In­di­vi­du­en ver­senkt hat: der Zu­hö­rer ver­gißt jetzt das Dra­ma und wacht erst wie­der für das­sel­be auf, wenn ihn der dio­ny­si­sche Zau­ber los­ge­las­sen hat. In­so­fern die Mu­sik aber den Zu­hö­rer das Dra­ma ver­ges­sen macht, ist sie noch nicht »dra­ma­ti­sche« Mu­sik: was ist das aber für Mu­sik, die kei­ne dio­ny­si­sche Ge­walt auf den Hö­rer äu­ßern darf? Und wie ist sie mög­lich? Sie ist mög­lich als rein con­ven­tio­nel­le Sym­bo­lik, in der die Con­ven­ti­on alle na­tür­li­che Kraft aus­ge­so­gen hat: als Mu­sik, die sich zu Erin­ne­rungs­zei­chen ab­ge­schwächt hat: und ihre Wir­kung hat dar­in ihr Ziel, den Zuschau­er an Et­was zu mah­nen, was ihn beim An­blick des Dra­mas, zu des­sen Ver­ständ­niß, nicht ent­gehn darf: wie ein Trom­pe­ten­si­gnal für das Pferd eine Auf­for­de­rung zum Tra­be ist. End­lich wäre noch vor Be­ginn des Dra­mas und in Zwi­schen­sce­nen oder in lang­wei­li­gen, für die dra­ma­ti­sche Wir­kung zwei­fel­haf­ten Stel­len, ja selbst in sei­nen höchs­ten Mo­men­ten, eine an­de­re, nicht mehr rein con­ven­tio­nel­le Erin­ne­rungs­mu­sik er­laubt, näm­lich Auf­re­gungs­mu­sik, als Sti­mu­lanz­mit­tel für stump­fe oder ab­ge­spann­te Ner­ven. Die­se bei­den Ele­men­te ver­mag ich al­lein in der so­ge­nann­ten dra­ma­ti­schen Mu­sik zu un­ter­schei­den: eine con­ven­tio­nel­le Rhe­to­rik und Erin­ne­rungs­mu­sik und eine vor Al­lem phy­sisch wir­ken­de Auf­re­gungs­mu­sik: und so schwankt sie zwi­schen Trom­mel­lärm und Si­gnal­horn ein­her, wie die Stim­mung des Krie­gers, der in die Schlacht zieht. Nun aber ver­langt der durch Ver­glei­chung ge­bil­de­te und an rei­ner Mu­sik sich er­la­ben­de Sinn für jene bei­den miß­bräuch­li­chen Ten­den­zen der Mu­sik eine Mas­ke­ra­de; es soll »Erin­ne­rung« und »Auf­re­gung« ge­bla­sen wer­den, aber in gu­ter Mu­sik, die an sich ge­nieß­bar, ja wert­h­voll sein muß: wel­che Verzweif­lung für den dra­ma­ti­schen Mu­si­ker, der die große Trom­mel mas­ki­ren muß durch gute Mu­sik, die aber doch nicht »rein mu­si­ka­lisch« son­dern nur auf­re­gend wir­ken darf! Und nun kommt das große mit tau­send Köp­fen wa­ckeln­de Phi­lis­ter-Pub­li­kum und ge­nießt die­se sich im­mer vor sich selbst schä­men­de »dra­ma­ti­sche Mu­sik« mit Haut und Haar, ohne et­was von ih­rer Scham und Ver­le­gen­heit zu mer­ken. Viel­mehr fühlt es sein Fell an­ge­nehm ge­kit­zelt: ihm wird ja ge­hul­digt in al­len For­men und Wei­sen, ihm dem zer­streu­ungs­süch­ti­gen mat­t­äu­gi­gen Ge­nüß­ling, der Auf­re­gung braucht, ihm dem ein­ge­bil­de­ten Ge­bil­de­ten, der an gu­tes Dra­ma und gute Mu­sik wie an gute Kost sich ge­wöhnt hat, ohne üb­ri­gens viel dar­aus zu ma­chen, ihm dem ver­geß­li­chen und zer­streu­ten Egois­ten, der zum Kunst­wer­ke mit Ge­walt und mit Si­gnal­hör­nern zu­rück­ge­führt wer­den muß, weil fort­wäh­rend ihm ei­gen­süch­ti­ge Plä­ne, auf Ge­winn oder Ge­nuß ge­rich­tet, durch den Kopf kreu­zen. Weh­se­li­ge dra­ma­ti­sche Mu­si­ker! »Be­seht die Gön­ner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.« »Was plagt ihr ar­men Tho­ren viel, zu sol­chem Zweck, die hol­den Mu­sen?« Und daß die­se von ih­nen ge­plagt, ja ge­mar­tert und ge­schun­den wer­den – sie leug­nen es selbst nicht, die Auf­rich­tig-Un­glück­li­chen!

Wir hat­ten ein lei­den­schaft­li­ches den Zu­hö­rer fort­rei­ßen­des Dra­ma vor­aus­ge­setzt, das auch ohne Mu­sik sei­ner Wir­kung ge­wiß sei: ich fürch­te, Das, was an ihm »Dich­tung« und nicht ei­gent­li­che »Hand­lung« ist, wird sich zu wah­rer Dich­tung ähn­lich ver­hal­ten wie die dra­ma­ti­sche Mu­sik zur Mu­sik über­haupt: es wird Erin­ne­rungs- und Auf­re­gungs­dich­tung sein. Die Poe­sie wird als Mit­tel die­nen, um con­ven­ti­ons­mä­ßig an Ge­füh­le und Lei­den­schaf­ten zu er­in­nern, de­ren Aus­druck durch wirk­li­che Dich­ter ge­fun­den und mit ih­nen be­rühmt, ja nor­mal ge­wor­den ist. So­dann wird ihr zu­ge­mu­thet wer­den, der ei­gent­li­chen »Hand­lung«, sei das nun eine cri­mi­na­lis­ti­sche Schre­ckens­ge­schich­te oder eine ver­wand­lungs­tol­le Zau­be­rei, in den ge­fähr­li­chen Mo­men­ten auf­zu­hel­fen und um die Roh­heit der Ak­ti­on selbst einen ver­hül­len­den Schlei­er zu brei­ten. Im Ge­fühl der Scham, daß die Dich­tung nur Mas­ke­ra­de ist, die kein Ta­ges­licht ver­trägt, ver­langt nun eine sol­che »dra­ma­ti­sche« Dich­te­rei nach der »dra­ma­ti­schen« Mu­sik: wie an­der­seits dem Dich­ter­ling sol­cher Dra­men wie­der der dra­ma­ti­sche Mu­si­ker auf drei­vier­tel des Wegs ent­ge­gen­läuft, mit sei­ner Be­ga­bung zur Trom­mel und zum Si­gnal­horn und sei­ner Scheu vor äch­ter, sich ver­trau­en­der und selbst­ge­nug­sa­mer Mu­sik. Und nun sehn sie sich und um­ar­men sich, die­se apol­li­ni­schen und dio­ny­si­schen Ka­ri­ka­tu­ren, die­ses par no­bi­le frat­rum!

 

Homer’s Wettkampf.

Vor­re­de zu ei­nem un­ge­schrie­be­nen Buch.

(1872.)

Wenn man von Hu­ma­ni­tät re­det, so liegt die Vor­stel­lung zu Grun­de, es möge Das sein, was den Men­schen von der Na­tur ab­schei­det und aus­zeich­net. Aber eine sol­che Ab­schei­dung giebt es in Wirk­lich­keit nicht: die »na­tür­li­chen« Ei­gen­schaf­ten und die ei­gent­lich »mensch­lich« ge­nann­ten sind un­trenn­bar ver­wach­sen. Der Mensch, in sei­nen höchs­ten und edels­ten Kräf­ten, ist ganz Na­tur und trägt ih­ren un­heim­li­chen Dop­pel­cha­rak­ter an sich. Sei­ne furcht­ba­ren und als un­mensch­lich gel­ten­den Be­fä­hi­gun­gen sind viel­leicht so­gar der frucht­ba­re Bo­den, aus dem al­lein alle Hu­ma­ni­tät, in Re­gun­gen, Tha­ten und Wer­ten her­vor­wach­sen kann.

So ha­ben die Grie­chen, die hum­an­s­ten Men­schen der al­ten Zeit, einen Zug von Grau­sam­keit, von ti­ger­ar­ti­ger Ver­nich­tungs­lust an sich: ein Zug, der auch in dem in’s Gro­tes­ke ver­grö­ßern­den Spie­gel­bil­de des Hel­le­nen, in Alex­an­der dem Gro­ßen, sehr sicht­bar ist, der aber in ih­rer gan­zen Ge­schich­te, eben­so wie in ih­rer My­tho­lo­gie uns, die wir mit dem weich­li­chen Be­griff der mo­der­nen Hu­ma­ni­tät ih­nen ent­ge­gen­kom­men, in Angst ver­set­zen muß. Wenn Alex­an­der die Füße des tap­fe­ren Vert­hei­di­gers von Gaza, Ba­tis, durch­boh­ren läßt und sei­nen Leib le­bend an sei­nen Wa­gen bin­det, um ihn un­ter dem Hoh­ne sei­ner Sol­da­ten her­um­zu­schlei­fen: so ist dies die Ekel er­re­gen­de Kar­ri­ka­tur des Achil­les, der den Leich­nam des Hek­tor nächt­lich durch ein ähn­li­ches Her­um­schlei­fen miß­han­delt; aber selbst die­ser Zug hat für uns et­was Be­lei­di­gen­des und Grau­sen Ein­flö­ßen­des. Wir se­hen hier in die Ab­grün­de des Has­ses. Mit der­sel­ben Emp­fin­dung ste­hen wir etwa auch vor dem blu­ti­gen und un­er­sätt­li­chen Sich­zer­flei­schen zwei­er grie­chi­scher Par­tei­en, zum Bei­spiel in der korky­räi­schen Re­vo­lu­ti­on. Wenn der Sie­ger, in ei­nem Kampf der Städ­te, nach dem Rech­te des Krie­ges, die ge­samm­te männ­li­che Bür­ger­schaft hin­rich­tet und alle Frau­en und Kin­der in die Skla­ve­rei ver­kauft, so se­hen wir, in der Sank­ti­on ei­nes sol­chen Rech­tes, daß der Grie­che ein vol­les Auss­trö­men­las­sen sei­nes Has­ses als erns­te No­thwen­dig­keit er­ach­te­te; in sol­chen Mo­men­ten er­leich­ter­te sich die zu­sam­men­ge­dräng­te und ge­schwol­le­ne Emp­fin­dung: der Ti­ger schnell­te her­vor, eine wol­lüs­ti­ge Grau­sam­keit blick­te aus sei­nem fürch­ter­li­chen Auge. Wa­rum muß­te der grie­chi­sche Bild­hau­er im­mer wie­der Krieg und Kämp­fe in zahl­lo­sen Wie­der­ho­lun­gen aus­prä­gen, aus­ge­r­eck­te Men­schen­lei­ber, de­ren Seh­nen vom Has­se ge­spannt sind oder vom Über­mu­the des Tri­um­phes, sich krüm­men­de Ver­wun­de­te, aus­rö­cheln­de Ster­ben­de? Wa­rum jauchz­te die gan­ze grie­chi­sche Welt bei den Kampf­bil­dern der Ili­as? Ich fürch­te, daß wir die­se nicht »grie­chisch« ge­nug ver­ste­hen, ja daß wir schau­dern wür­den, wenn wir sie ein­mal grie­chisch ver­stün­den.

Was aber liegt, als der Ge­burts­schoß al­les Hel­le­ni­schen, hin­ter der ho­me­ri­schen Welt? In die­ser wer­den wir be­reits durch die au­ßer­or­dent­li­che künst­le­ri­sche Be­stimmt­heit, Ruhe und Rein­heit der Li­ni­en über die rein stoff­li­che Ver­schmel­zung hin­weg­ge­ho­ben: ihre Far­ben er­schei­nen, durch eine künst­le­ri­sche Täu­schung, lich­ter, mil­der, wär­mer, ihre Men­schen, in die­ser far­bi­gen, war­men Be­leuch­tung, bes­ser und sym­pa­thi­scher – aber wo­hin schau­en wir, wenn wir, von der Hand Ho­mer’s nicht mehr ge­lei­tet und ge­schützt, rück­wärts, in die vor­ho­me­ri­sche Welt hin­ein schrei­ten? Nur in Nacht und Grau­en, in die Er­zeug­nis­se ei­ner an das Gräß­li­che ge­wöhn­ten Phan­ta­sie. Wel­che ir­di­sche Exis­tenz spie­geln die­se wi­der­lich-furcht­ba­ren theo­go­ni­schen Sa­gen wie­der: ein Le­ben, über dem al­lein die Kin­der der Nacht, der Streit, die Lie­bes­be­gier, die Täu­schung, das Al­ter und der Tod wal­ten. Den­ken wir uns die schwer zu ath­men­de Luft des he­siodi­schen Ge­dich­tes noch ver­dich­tet und ver­fins­tert und ohne alle die Mil­de­run­gen und Rei­ni­gun­gen, wel­che, von Del­phi und zahl­rei­chen Göt­ter­sit­zen aus, über Hel­las hin­ström­ten: mi­schen wir die­se ver­dick­te bö­oti­sche Luft mit der fins­te­ren Wol­lüs­tig­keit der Etrus­ker; dann wür­de uns eine sol­che Wirk­lich­keit eine My­then­welt er­pres­sen, in der Ura­nos, Kro­nos und Zeus und die Ti­ta­nen­kämp­fe wie eine Er­leich­te­rung dün­ken müß­ten; der Kampf ist in die­ser brü­ten­den At­mo­sphä­re das Heil, die Ret­tung, die Grau­sam­keit des Sie­ges ist die Spit­ze des Le­bens­ju­bel Und wie sich in Wahr­heit vom Mor­de und der Mord­süh­ne aus der Be­griff des grie­chi­schen Rech­tes ent­wi­ckelt hat, so nimmt auch die ed­le­re Cul­tur ih­ren ers­ten Sie­ge­s­kranz vom Al­tar der Mord­süh­ne. Hin­ter je­nem blu­ti­gen Zeit­al­ter her zieht sich eine Wel­len­fur­che tief hin­ein in die hel­le­ni­sche Ge­schich­te. Die Na­men des Or­pheus, des Mu­sä­us und ih­rer Cul­te ver­rat­hen, zu wel­chen Fol­ge­run­gen der un­aus­ge­setz­te An­blick ei­ner Welt des Kamp­fes und der Grau­sam­keit dräng­te – zum Ekel am Da­sein, zur Auf­fas­sung die­ses Da­seins als ei­ner ab­zu­bü­ßen­den Stra­fe, zum Glau­ben an die Iden­ti­tät von Da­sein und Ver­schul­detsein. Gera­de die­se Fol­ge­run­gen aber sind nicht spe­ci­fisch hel­le­nisch: in ih­nen be­rührt sich Grie­chen­land mit In­di­en und über­haupt mit dem Ori­ent. Der hel­le­ni­sche Ge­ni­us hat­te noch eine an­de­re Ant­wort auf die Fra­ge be­reit »was will ein Le­ben des Kamp­fes und des Sie­ges?« und giebt die­se Ant­wort in der gan­zen Brei­te der grie­chi­schen Ge­schich­te.

Um sie zu ver­ste­hen, müs­sen wir da­von aus­ge­hen, daß der grie­chi­sche Ge­ni­us den ein­mal so furcht­bar vor­han­de­nen Trieb gel­ten ließ und als be­rech­tigt er­ach­te­te: wäh­rend in der or­phi­schen Wen­dung der Ge­dan­ke lag, daß ein Le­ben, mit ei­nem sol­chen Trieb als Wur­zel, nicht le­bens­werth sei. Der Kampf und die Luft des Sie­ges wur­den an­er­kannt: und nichts schei­det die grie­chi­sche Welt so sehr von der un­se­ren, als die hieraus ab­zu­lei­ten­de Fär­bung ein­zel­ner ethi­scher Be­grif­fe, zum Bei­spiel der Eris und des Nei­des.

Als der Rei­sen­de Pau­sa­ni­as auf sei­ner Wan­der­schaft durch Grie­chen­land den He­li­kon be­such­te, wur­de ihm ein ur­al­tes Exem­plar des ers­ten di­dak­ti­schen Ge­dich­tes der Grie­chen, der »Wer­ke und Tage« He­sio­d’s ge­zeigt, auf Blei­plat­ten ein­ge­schrie­ben und arg durch Zeit und Wet­ter ver­wüs­tet. Doch er­kann­te er so­viel, daß es, im Ge­gen­satz zu den ge­wöhn­li­chen Exem­pla­ren, an sei­ner Spit­ze je­nen klei­nen Hym­nus auf Zeus nicht be­saß, son­dern so­fort mit der Er­klä­rung be­gann, » zwei Eris­göt­tin­nen sind auf Er­den«. Dies ist ei­ner der merk­wür­digs­ten hel­le­ni­schen Ge­dan­ken und werth dem Kom­men­den gleich am Ein­gangst­ho­re der hel­le­ni­schen Ethik ein­ge­prägt zu wer­den. »Die eine Eris möch­te man, wenn man Ver­stand hat, eben­so lo­ben als die an­de­re ta­deln; denn eine ganz ge­trenn­te Ge­müths­art ha­ben die­se bei­den Göt­tin­nen. Denn die eine för­dert den schlim­men Krieg und Ha­der, die Grau­sa­me! Kein Sterb­li­cher mag sie lei­den, son­dern un­ter dem Joch der Noth er­weist man der schwer­las­ten­den Eris Ehre, nach dem Rath­schlus­se der Uns­terb­li­chen. Die­se ge­bar, als die Äl­te­re, die schwar­ze Nacht; die An­de­re aber stell­te Zeus, der hoch­wal­ten­de, hin auf die Wur­zeln der Erde und un­ter die Men­schen, als eine viel bes­se­re. Sie treibt auch den un­ge­schick­ten Mann zur Ar­beit! und schaut Ei­ner, der des Be­sitz­t­hums er­man­gelt, auf den An­de­ren, der reich ist, so eilt er sich in glei­cher Wei­se zu säen und zu pflan­zen und das Haus wohl zu be­stel­len; der Nach­bar wett­ei­fert mit dem Nach­barn, der zum Wohl­stan­de hin­strebt. Gut ist die­se Eris für die Men­schen. Auch der Töp­fer grollt dem Töp­fer und der Zim­mer­mann dem Zim­mer­mann, es nei­det der Bett­ler den Bett­ler und der Sän­ger den Sän­ger.«

Die zwei letz­ten Ver­se, die vom o­di­um fi­gu­li­num han­deln, er­schei­nen un­se­ren Ge­lehr­ten an die­ser Stel­le un­be­greif­lich. Nach ih­rem Urt­hei­le pas­sen die Prä­di­ka­te »Groll« und »Neid« nur zum We­sen der schlim­men Eris; wes­halb sie kei­nen An­stand neh­men, die Ver­se als un­echt oder durch Zu­fall an die­sen Ort ver­schla­gen zu be­zeich­nen. Hier­zu aber muß sie un­ver­merkt eine an­de­re Ethik, als die hel­le­ni­sche ist, in­spir­irt ha­ben: denn Ari­sto­te­les emp­fin­det in der Be­zie­hung die­ser Ver­se auf die gute Eris kei­nen An­stoß. Und nicht Ari­sto­te­les al­lein, son­dern das ge­samm­te grie­chi­sche Al­ter­thum denkt an­ders über Groll und Neid als wir und ur­teilt wie He­siod, der ein­mal eine Eris als böse be­zeich­net, die­je­ni­ge näm­lich, wel­che die Men­schen zum feind­se­li­gen Ver­nich­tungs­kamp­fe ge­gen ein­an­der führt, und dann wie­der eine and­re Eris als gute preist, die als Ei­fer­sucht, Groll, Neid die Men­schen zur That reizt, aber nicht zur That des Ver­nich­tungs­kamp­fes, son­dern zur That des Wett­kamp­fes. Der Grie­che ist nei­disch und emp­fin­det die­se Ei­gen­schaft nicht als Ma­kel, son­dern als Wir­kung ei­ner wohlt­hä­ti­gen Gott­heit: wel­che Kluft des ethi­schen Urt­heils zwi­schen uns und ihm! Weil er nei­disch ist, fühlt er auch, bei je­dem Über­maaß von Ehre, Reicht­hum, Glanz und Glück, das nei­di­sche Auge ei­nes Got­tes auf sich ru­hen und er fürch­tet die­sen Neid; in die­sem Fal­le mahnt er ihn an das Ver­gäng­li­che je­des Men­schen­loo­ses, ihm graut vor sei­nem Glücke und das Bes­te da­von op­fernd beugt er sich vor dem gött­li­chen Nei­de. Die­se Vor­stel­lung ent­frem­det ihm nicht etwa sei­ne Göt­ter: de­ren Be­deu­tung im Ge­gent­heil da­mit um­schrie­ben ist, daß mit ih­nen der Mensch nie den Wett­kampf wa­gen darf, er, des­sen See­le ge­gen je­des and­re le­ben­de We­sen ei­fer­süch­tig er­glüht. Im Kamp­fe des Tha­my­ris mit den Mu­sen, des Mar­syas mit Apoll, im er­grei­fen­den Schick­sa­le der Nio­be er­schi­en das schreck­li­che Ge­gen­ein­an­der der zwei Mäch­te, die nie mit ein­an­der kämp­fen dür­fen, von Mensch und Gott.

Je grö­ßer und er­ha­be­ner aber ein grie­chi­scher Mensch ist, um so hel­ler bricht aus ihm die ehr­gei­zi­ge Flam­me her­aus, Je­den ver­zeh­rend, der mit ihm auf glei­cher Bahn läuft. Ari­sto­te­les hat ein­mal eine Lis­te von sol­chen feind­se­li­gen Wett­kämp­fen im großen Sti­le ge­macht: dar­un­ter ist das auf­fallends­te Bei­spiel, daß selbst ein Tod­ter einen Le­ben­den noch zu ver­zeh­ren­der Ei­fer­sucht rei­zen kann. So näm­lich be­zeich­net Ari­sto­te­les das Ver­hält­niß des Ko­lo­pho­niers Xe­no­pha­nes zu Ho­mer. Wir ver­ste­hen die­sen An­griff auf den na­tio­na­len He­ros der Dicht­kunst nicht in sei­ner Stär­ke, wenn wir nicht, wie spä­ter auch bei Pla­to, die un­ge­heu­re Be­gier­de als Wur­zel die­ses An­griffs uns den­ken, selbst an die Stel­le des ge­stürz­ten Dich­ters zu tre­ten und des­sen Ruhm zu er­ben. Je­der große Hel­le­ne giebt die Fa­ckel des Wett­kamp­fes wei­ter; an je­der großen Tu­gend ent­zün­det sich eine neue Grö­ße. Wenn der jun­ge The­mi­sto­kles im Ge­dan­ken an die Lor­beern des Mil­tia­des nicht schla­fen konn­te, so ent­fes­sel­te sich sein früh­ge­weck­ter Trieb erst im lan­gen Wett­ei­fer mit Aris­ti­des zu je­ner ein­zig merk­wür­di­gen rein in­stink­ti­ven Ge­nia­li­tät sei­nes po­li­ti­schen Han­delns, die uns Thu­ky­di­des be­schreibt. Wie cha­rak­te­ris­tisch ist Fra­ge und Ant­wort, wenn ein nam­haf­ter Geg­ner des Pe­ri­kles ge­fragt wird, ob er oder Pe­ri­kles der bes­te Rin­ger in der Stadt sei, und die Ant­wort giebt: »selbst wenn ich ihn nie­der­wer­fe, leug­net er, daß er ge­fal­len sei, er­reicht sei­ne Ab­sicht und über­re­det Die, wel­che ihn fal­len sa­hen.«

Will man recht un­ver­hüllt je­nes Ge­fühl in sei­nen nai­ven Äu­ße­run­gen se­hen, das Ge­fühl von der No­thwen­dig­keit des Wett­kamp­fes, wenn an­ders das Heil des Staa­tes be­ste­hen soll, so den­ke man an den ur­sprüng­li­chen Sinn des Ostra­kis­mos: wie ihn zum Bei­spiel die Ephe­sier bei der Ver­ban­nung des Her­mo­dor aus­spre­chen. »Un­ter uns soll Nie­mand der Bes­te sein; ist Je­mand es aber, so sei er an­ders­wo und bei An­de­ren«. Denn wes­halb soll Nie­mand der Bes­te sein? Weil da­mit der Wett­kampf ver­sie­gen wür­de und der ewi­ge Le­bens­grund des hel­le­ni­schen Staa­tes ge­fähr­det wäre. Spä­ter be­kommt der Ostra­kis­mos eine an­de­re Stel­lung zum Wett­kamp­fe: er wird an­ge­wen­det, wenn die Ge­fahr of­fen­kun­dig ist, daß ei­ner der großen um die Wet­te kämp­fen­den Po­li­ti­ker und Par­teihäup­ter zu schäd­li­chen und zer­stö­ren­den Mit­teln und zu be­denk­li­chen Staats­s­trei­chen, in der Hit­ze des Kamp­fes, sich ge­reizt fühlt. Der ur­sprüng­li­che Sinn die­ser son­der­ba­ren Ein­rich­tung ist aber nicht der ei­nes Ven­tils, son­dern der ei­nes Sti­mu­lanz­mit­tels: man be­sei­tigt den über­ra­gen­den Ein­zel­nen, da­mit nun wie­der das Wett­spiel der Kräf­te er­wa­che: ein Ge­dan­ke, der der »Ex­klu­si­vi­tät« des Ge­ni­us im mo­der­nen Sin­ne feind­lich ist, aber vor­aus­setzt, daß, in ei­ner na­tür­li­chen Ord­nung der Din­ge, es im­mer meh­re­re Ge­nies giebt, die sich ge­gen­sei­tig zur That rei­zen, wie sie sich auch ge­gen­sei­tig in der Gren­ze des Maa­ßes hal­ten. Das ist der Kern der hel­le­ni­schen Wett­kampf-Vor­stel­lung: sie ver­ab­scheut die Al­lein­herr­schaft und fürch­tet ihre Ge­fah­ren, sie be­gehrt, als Schutz­mit­tel ge­gen das Ge­nie – ein zwei­tes Ge­nie.

 

Jede Be­ga­bung muß sich kämp­fend ent­fal­ten, so ge­bie­tet die hel­le­ni­sche Volks­päd­ago­gik: wäh­rend die neue­ren Er­zie­her vor Nichts eine so große Scheu ha­ben als vor der Ent­fes­se­lung des so­ge­nann­ten Ehr­gei­zes. Hier fürch­tet man die Selbst­sucht als das »Böse an sich« – mit Aus­nah­me der Je­sui­ten, die wie die Al­ten dar­in ge­sinnt sind und des­halb wohl die wirk­sams­ten Er­zie­her un­se­rer Zeit sein mö­gen. Sie schei­nen zu glau­ben, daß die Selbst­sucht d. h. das In­di­vi­du­el­le nur das kräf­tigs­te a­gens ist, sei­nen Cha­rak­ter aber als »gut« und »böse« we­sent­lich von den Zie­len be­kommt, nach de­nen es sich aus­reckt. Für die Al­ten aber war das Ziel der ago­na­len Er­zie­hung die Wohl­fahrt des Gan­zen, der staat­li­chen Ge­sell­schaft. Je­der Athe­ner z. B. soll­te sein Selbst im Wett­kamp­fe so weit ent­wi­ckeln, als es Athen vom höchs­ten Nut­zen sei und am we­nigs­ten Scha­den brin­ge. Es war kein Ehr­geiz in’s Un­ge­mes­se­ne und Un­zu­mes­sen­de, wie meis­tens der mo­der­ne Ehr­geiz: an das Wohl sei­ner Mut­ter­stadt dach­te der Jüng­ling, wenn er um die Wet­te lief oder warf oder sang; ih­ren Ruhm woll­te er in dem sei­ni­gen meh­ren; sei­nen Stadt­göt­tern weih­te er die Krän­ze, die die Kampf­rich­ter eh­rend auf sein Haupt setz­ten. Je­der Grie­che emp­fand in sich von Kind­heit an den bren­nen­den Wunsch, im Wett­kampf der Städ­te ein Werk­zeug zum Hei­le sei­ner Stadt zu sein: dar­in war sei­ne Selbst­sucht ent­flammt, dar­in war sie ge­zü­gelt und um­schränkt. Des­halb wa­ren die In­di­vi­du­en im Al­ter­thu­me frei­er, weil ihre Zie­le nä­her und greif­ba­rer wa­ren. Der mo­der­ne Mensch ist da­ge­gen über­all ge­kreuzt von der Unend­lich­keit, wie der schnell­fü­ßi­ge Achill im Gleich­nis­se des Elea­ten Zeno: die Unend­lich­keit hemmt ihn, er holt nicht ein­mal die Schild­krö­te ein.

Wie aber die zu er­zie­hen­den Jüng­lin­ge mit ein­an­der wett­kämp­fend er­zo­gen wur­den, so wa­ren wie­der­um ihre Er­zie­her un­ter sich im Wett­ei­fer. Miß­trau­isch-ei­fer­süch­tig tra­ten die großen mu­si­ka­li­schen Meis­ter, Pin­dar und Si­mo­ni­des, ne­ben­ein­an­der hin; wett­ei­fernd be­geg­net der So­phist, der hö­he­re Leh­rer des Al­ter­thums, dem an­de­ren So­phis­ten; selbst die all­ge­meins­te Art der Be­leh­rung, durch das Dra­ma, wur­de dem Vol­ke nur ert­heilt un­ter der Form ei­nes un­ge­heu­ren Rin­gens der großen mu­si­ka­li­schen und dra­ma­ti­schen Künst­ler. Wie wun­der­bar! »Auch der Künst­ler grollt dem Künst­ler!« Und der mo­der­ne Mensch fürch­tet nichts so sehr an ei­nem Künst­ler als die per­sön­li­che Kampfre­gung, wäh­rend der Grie­che den Künst­ler nur im per­sön­li­chen Kamp­fe kennt. Dort wo der mo­der­ne Mensch die Schwä­che des Kunst­werks wit­tert, sucht der Hel­le­ne die Quel­le sei­ner höchs­ten Kraft! Das, was zum Bei­spiel bei Pla­to von be­son­de­rer künst­le­ri­scher Be­deu­tung an sei­nen Dia­lo­gen ist, ist meis­tens das Re­sul­tat ei­nes Wett­ei­fers mit der Kunst der Red­ner, der So­phis­ten, der Dra­ma­ti­ker sei­ner Zeit, zu dem Zweck er­fun­den, daß er zu­letzt sa­gen konn­te: »Seht, ich kann Das auch, was mei­ne großen Ne­ben­buh­ler kön­nen; ja, ich kann es bes­ser als sie. Kein Pro­ta­go­ras hat so schö­ne My­then ge­dich­tet wie ich, kein Dra­ma­ti­ker ein so be­leb­tes und fes­seln­des Gan­ze, wie das Sym­po­si­on, kein Red­ner sol­che Rede ver­faßt, wie ich sie im Gor­gi­as hin­stel­le – und nun ver­wer­fe ich das Al­les zu­sam­men und ver­urt­hei­le alle nach­bil­den­de Kunst! Nur der Wett­kampf mach­te mich zum Dich­ter, zum So­phis­ten, zum Red­ner!« Wel­ches Pro­blem er­schließt sich uns da, wenn wir nach dem Ver­hält­niß des Wett­kamp­fes zur Con­cep­ti­on des Kunst­wer­kes fra­gen! –

Neh­men wir da­ge­gen den Wett­kampf aus dem grie­chi­schen Le­ben hin­weg, so se­hen wir so­fort in je­nen vor­ho­me­ri­schen Ab­grund ei­ner grau­en­haf­ten Wild­heit des Has­ses und der Ver­nich­tungs­lust. Dies Phä­no­men zeigt sich lei­der so häu­fig, wenn eine große Per­sön­lich­keit durch eine un­ge­heu­re glän­zen­de That plötz­lich dem Wett­kamp­fe ent­rückt wur­de und hors de con­cour­s, nach sei­nem und sei­ner Mit­bür­ger Urt­heil war. Die Wir­kung ist, fast ohne Aus­nah­me, eine ent­setz­li­che; und wenn man ge­wöhn­lich aus die­sen Wir­kun­gen den Schluß zieht, daß der Grie­che un­ver­mö­gend ge­we­sen sei Ruhm und Glück zu er­tra­gen: so soll­te man ge­nau­er re­den, daß er den Ruhm ohne wei­te­ren Wett­kampf, das Glück am Schlus­se des Wett­kamp­fes nicht zu tra­gen ver­moch­te. Es giebt kein deut­li­che­res Bei­spiel als die letz­ten Schick­sa­le des Mil­tia­des. Durch den un­ver­gleich­li­chen Er­folg bei Ma­ra­thon auf einen ein­sa­men Gip­fel ge­stellt und weit hin­aus über je­den Mit­kämp­fen­den ge­ho­ben: fühlt er in sich ein nied­ri­ges rach­süch­ti­ges Ge­lüst er­wa­chen, ge­gen einen pa­ri­schen Bür­ger, mit dem er vor Al­ters eine Feind­schaft hat­te. Dies Ge­lüst zu be­frie­di­gen miß­braucht er Ruf, Staats­ver­mö­gen, Bür­ger­eh­re und ent­ehrt sich selbst. Im Ge­fühl des Miß­lin­gens ver­fällt er auf un­wür­di­ge Ma­chi­na­tio­nen. Er tritt mir der De­me­ter­pries­te­rin Timo in eine heim­li­che und gott­lo­se Ver­bin­dung und be­tritt Nachts den hei­li­gen Tem­pel, aus dem je­der Mann aus­ge­schlos­sen war. Als er die Mau­er über­sprun­gen hat und dem Hei­ligt­hum der Göt­tin im­mer nä­her kommt, über­fällt ihn plötz­lich das furcht­ba­re Grau­en ei­nes pa­ni­schen Schre­ckens: fast zu­sam­men­bre­chend und ohne Be­sin­nung fühlt er sich zu­rück­ge­trie­ben und über die Mau­er zu­rück­sprin­gend stürzt er ge­lähmt und schwer ver­letzt nie­der. Die Be­la­ge­rung muß auf­ge­ho­ben wer­den, das Volks­ge­richt er­war­tet ihn, und ein schmäh­li­cher Tod drückt sein Sie­gel auf eine glän­zen­de Hel­den­lauf­bahn, um sie für alle Nach­welt zu ver­dun­keln. Nach der Schlacht bei Ma­ra­thon hat ihn der Neid der Himm­li­schen er­grif­fen. Und die­ser gött­li­che Neid ent­zün­det sich, wenn er den Men­schen ohne je­den Wett­kämp­fer geg­ner­los auf ein­sa­mer Ruh­mes­hö­he er­blickt. Nur die Göt­ter hat er jetzt ne­ben sich – und des­halb hat er sie ge­gen sich. Die­se aber ver­lei­ten ihn zu ei­ner That der Hy­bris, und un­ter ihr bricht er zu­sam­men.