Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Be­mer­ken wir wohl, daß so wie Mil­tia­des un­ter­geht, auch die edels­ten grie­chi­schen Staa­ten un­ter­ge­hen, als sie, durch Ver­dienst und Glück, aus der Renn­bahn zum Tem­pel der Nike ge­langt wa­ren. Athen, das die Selb­stän­dig­keit sei­ner Ver­bün­de­ten ver­nich­tet hat­te und mit Stren­ge die Auf­stän­de der Un­ter­wor­fe­nen ahn­de­te, Spar­ta, wel­ches nach der Schlacht von Ägos­po­ta­moi in noch viel här­te­rer und grau­sa­me­rer Wei­se sein Über­ge­wicht über Hel­las gel­tend mach­te, ha­ben auch, nach dem Bei­spie­le des Mil­tia­des, durch Tha­ten der Hy­bris ih­ren Un­ter­gang her­bei­ge­führt, zum Be­wei­se da­für, daß ohne Neid, Ei­fer­sucht und wett­kämp­fen­den Ehr­geiz der hel­le­ni­sche Staat wie der hel­le­ni­sche Mensch ent­ar­tet. Er wird böse und grau­sam, er wird rach­süch­tig und gott­los, kurz, er wird »vor­ho­me­risch« – und dann be­darf es nur ei­nes pa­ni­schen Schre­ckens, um ihn zum Fall zu brin­gen und zu zer­schmet­tern. Spar­ta und Athen lie­fern sich an Per­si­en aus, wie es The­mi­sto­kles und Al­ci­bia­des gethan ha­ben; sie ver­rat­hen das Hel­le­ni­sche, nach­dem sie den edels­ten hel­le­ni­schen Grund­ge­dan­ken, den Wett­kampf, auf­ge­ge­ben ha­ben: und Alex­an­der, die ver­grö­bern­de Co­pie und Ab­bre­via­tur der grie­chi­schen Ge­schich­te, er­fin­det nun den Al­ler­welts-Hel­le­nen und den so­ge­nann­ten »Hel­le­nis­mus«. –

Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten.

(1871/72.)

I. Vorrede, zu lesen vor den Vorträgen, obwohl sie sich eigentlich nicht auf sie bezieht.

(1872.)

Der Le­ser, von dem ich Et­was er­war­te, muß drei Ei­gen­schaf­ten ha­ben. Er muß ru­hig sein und ohne Hast le­sen. Er muß nicht im­mer sich selbst und sei­ne »Bil­dung« da­zwi­schen brin­gen. Er darf end­lich nicht, am Schlus­se, etwa als Re­sul­tat, neue Ta­bel­len er­war­ten. Ta­bel­len und neue Stun­den­plä­ne für Gym­na­si­en und and­re Schu­len ver­spre­che ich nicht, be­wun­de­re viel­mehr die über­kräf­ti­ge Na­tur Je­ner, wel­che im Stan­de sind, den gan­zen Weg, von der Tie­fe der Em­pi­rie aus bis hin­auf zur Höhe der ei­gent­li­chen Cul­tur­pro­ble­me und wie­der von da hin­ab in die Nie­de­run­gen der dürrs­ten Re­gle­ments und des zier­lichs­ten Ta­bel­len­werks zu durch­mes­sen; son­dern zu­frie­den, wenn ich, un­ter Keu­chen, einen ziem­li­chen Berg er­klom­men habe und mich oben des freie­ren Blicks er­freu­en darf, wer­de ich eben in die­sem Bu­che die Ta­bel­len­freun­de nie zu­frie­den­stel­len kön­nen. Wohl sehe ich eine Zeit kom­men, in der erns­te Men­schen, im Diens­te ei­ner völ­lig er­neu­ten und ge­rei­nig­ten Bil­dung und in ge­mein­sa­mer Ar­beit, auch wie­der zu Ge­setz­ge­bern der all­täg­li­chen Er­zie­hung – der Er­zie­hung zu eben je­ner Bil­dung – wer­den; wahr­schein­lich müs­sen sie dann wie­der­um Ta­bel­len ma­chen; aber wie fern ist die Zeit! Und was wird nicht Al­les in­zwi­schen ge­sche­hen sein! Vi­el­leicht liegt zwi­schen ihr und der Ge­gen­wart die Ver­nich­tung des Gym­na­si­ums, viel­leicht selbst die Ver­nich­tung der Uni­ver­si­tät, oder we­nigs­tens eine so to­ta­le Um­ge­stal­tung der eben ge­nann­ten Bil­dungs­an­stal­ten, daß de­ren alte Ta­bel­len sich spä­te­ren Au­gen wie Über­res­te aus der Pfahl­bau­ten­zeit dar­bie­ten möch­ten.

Für die ru­hi­gen Le­ser ist das Buch be­stimmt, für Men­schen, wel­che noch nicht in die schwin­deln­de Hast un­se­res rol­len­den Zeit­al­ters hin­ein­ge­ris­sen sind und noch nicht ein göt­zen­die­ne­ri­sches Ver­gnü­gen dar­an emp­fin­den, wenn sie sich un­ter sei­ne Rä­der wer­fen, für Men­schen also, die noch nicht den Werth je­des Din­ges nach der Zei­ter­spar­niß oder Zeit­ver­säum­niß ab­zu­schät­zen sich ge­wöhnt ha­ben. Das heißt – für sehr we­ni­ge Men­schen. Die­se aber »ha­ben noch Zeit«, die­se dür­fen, ohne vor sich selbst zu er­rö­then, die frucht­bars­ten und kräf­tigs­ten Mo­men­te ih­res Ta­ges zu­sam­men su­chen, um über die Zu­kunft un­se­rer Bil­dung nach­zu­den­ken, die­se dür­fen selbst glau­ben, auf eine recht nutz­brin­gen­de und wür­di­ge Art bis zum Abend zu kom­men, näm­lich in der me­di­ta­tio ge­ne­ris fu­tu­ri. Ein sol­cher Mensch hat noch nicht ver­lernt zu den­ken, wäh­rend er liest, er ver­steht noch das Ge­heim­niß, zwi­schen den Zei­len zu le­sen, ja er ist so ver­schwen­de­risch ge­ar­tet, daß er gar noch über das Ge­le­se­ne nach­denkt – viel­leicht lan­ge nach­dem er das Buch aus den Hän­den ge­legt hat. Und zwar nicht, um eine Re­cen­si­on oder wie­der ein Buch zu schrei­ben, son­dern nur so, um nach­zu­den­ken! Leicht­sin­ni­ger Ver­schwen­der! Du bist mein Le­ser, denn du wirst ru­hig ge­nug sein, um mit dem Au­tor einen lan­gen Weg an­zu­tre­ten, des­sen Zie­le er nicht se­hen kann, an des­sen Zie­le er ehr­lich glau­ben muß, da­mit eine spä­te­re, viel­leicht fer­ne Ge­ne­ra­ti­on mit Au­gen sehe, wo­nach wir, blind und nur vom In­stinkt ge­führt, tas­ten. Wenn der Le­ser da­ge­gen mei­nen soll­te, es be­dür­fe nur ei­nes ge­schwin­den Sprungs, ei­ner froh­müthi­gen That, wenn er etwa mit ei­ner neu­en von Staats­we­gen ein­ge­führ­ten »Or­ga­ni­sa­ti­on« al­les We­sent­li­che für er­reicht hiel­te, so müs­sen wir fürch­ten, daß er we­der den Au­tor noch das ei­gent­li­che Pro­blem ver­stan­den hat.

End­lich er­geht die drit­te und wich­tigs­te For­de­rung an ihn, daß er auf kei­nen Fall, nach Art des mo­der­nen Men­schen, sich selbst und sei­ne »Bil­dung« un­aus­ge­setzt etwa als Maß­stab, da­zwi­schen brin­ge, als ob er da­mit ein Kri­te­ri­um al­ler Din­ge be­sä­ße. Wir wün­schen, er möge ge­bil­det ge­nug sein, um von sei­ner Bil­dung recht ge­ring, ja ver­ächt­lich zu den­ken. Dann dürf­te er wohl am zu­trau­lichs­ten sich der Füh­rung des Ver­fas­sers hin­ge­ben, der es ge­ra­de nur von dem Nicht­wis­sen und von dem Wis­sen des Nicht­wis­sens aus wa­gen durf­te, zu ihm zu re­den. Nichts An­de­res will er vor den Üb­ri­gen für sich in An­spruch neh­men, als ein stark er­reg­tes Ge­fühl für das Spe­ci­fi­sche un­se­rer ge­gen­wär­ti­gen Bar­ba­rei für Das, was uns als die Bar­ba­ren des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts vor an­de­ren Bar­ba­ren aus­zeich­net. Nun sucht er, mit die­sem Bu­che in der Hand, nach Sol­chen, die von ei­nem ähn­li­chen Ge­füh­le hin- und her­ge­trie­ben wer­den. Laßt euch fin­den, ihr Ve­rein­zel­ten, an de­ren Da­sein ich glau­be! Ihr Selbst­lo­sen, die ihr die Lei­den der Ver­derb­niß des deut­schen Geis­tes an euch selbst er­lei­det! Ihr Be­schau­li­chen, de­ren Auge un­ver­mö­gend ist, mit has­ti­gem Spä­hen von ei­ner Ober­flä­che zur an­dern zu glei­ten! Ihr Hoch­sin­ni­gen, de­nen Ari­sto­te­les nach­rühmt, daß ihr zö­gernd und tha­ten­los durch­’s Le­ben geht, au­ßer wo eine große Ehre und ein großes Werk nach euch ver­lan­gen! Euch rufe ich auf. Ver­kriecht euch nur dies­mal nicht in die Höh­le eu­rer Ab­ge­schie­den­heit und eu­res Miß­trau­ens. Denkt euch, dies Buch sei be­stimmt, euer He­rold zu sein. Wenn ihr erst selbst, in eu­rer eig­nen Rüs­tung, auf dem Kampf­plat­ze er­scheint, wen möch­te es dann noch ge­lüs­ten, nach dem He­rol­de, der euch rief, zu­rück­zu­schau­en? – II.

II. Geplante Einleitung.

(1871.)

Der Ti­tel, den ich mei­nen Vor­trä­gen ge­ge­ben habe, soll­te, wie es die Pf­licht je­des Ti­tels ist, so be­stimmt, deut­lich und ein­dring­lich wie mög­lich sein, ist aber, was ich jetzt recht wohl mer­ke, aus ei­nem Über­maaß von Be­stimmt­heit zu kurz aus­ge­fal­len und dar­um wie­der un­deut­lich ge­wor­den, so daß ich da­mit be­gin­nen muß, die­sen Ti­tel und da­mit die Auf­ga­be die­ser Vor­trä­ge vor mei­nen ge­ehr­ten Zu­hö­rern zu er­klä­ren, ja nö­thi­gen­falls zu ent­schul­di­gen. Wenn ich also über die Zu­kunft un­se­rer Bil­dungs­an­stal­ten zu re­den ver­spro­chen habe, so den­ke ich da­bei zu­nächst gar nicht an die spe­ci­el­le Zu­kunft und Wei­ter­ent­wick­lung uns­rer bas­le­ri­schen In­sti­tu­te die­ser Art. So häu­fig es auch schei­nen möch­te, daß vie­le mei­ner all­ge­mei­nen Be­haup­tun­gen sich ge­ra­de an un­sern ein­hei­mi­schen Er­zie­hungs­an­stal­ten ex­em­pli­fi­ci­ren lie­ßen, so bin ich es nicht, der die­se Exem­pli­fi­ka­tio­nen macht und möch­te da­her eben­so­we­nig die Verant­wor­tung für der­ar­ti­ge Nutz­an­wen­dun­gen tra­gen: ge­ra­de aus dem Grun­de, weil ich mich für viel zu fremd und un­er­fah­ren hal­te und mich viel zu we­nig in den hie­si­gen Zu­stän­den fest­ge­wur­zelt füh­le, um eine so spe­ci­el­le Con­fi­gu­ra­ti­on der Bil­dungs­ver­hält­nis­se rich­tig zu be­urt­hei­len oder gar um ihre Zu­kunft mit ei­ni­ger Si­cher­heit vor­zeich­nen zu kön­nen. And­rer­seits bin ich mir um so mehr be­wußt, an wel­chem Orte ich die­se Vor­trä­ge zu hal­ten habe, in ei­ner Stadt näm­lich, die in ei­nem un­ver­hält­nis­mä­ßig groß­ar­ti­gen Sin­ne und in ei­nem für grö­ße­re Staa­ten gra­de­zu be­schä­men­den Maß­sta­be die Bil­dung und Er­zie­hung ih­rer Bür­ger zu för­dern sucht: so daß ich ge­wiß nicht fehl­grei­fe, wenn ich ver­mu­the, daß dort, wo man um so viel mehr für die­se Din­ge thut, man auch über sie um so viel mehr denkt. Gera­de Das aber muß mein Wunsch, ja mei­ne Voraus­set­zung sein, mit Zu­hö­rern hier in geis­ti­gem Ver­kehr zu ste­hen, wel­che über Er­zie­hungs- und Bil­dungs­fra­gen eben­so sehr nach­ge­dacht ha­ben, als sie Wil­lens sind, mit der That das als recht Er­kann­te zu för­dern: und nur vor sol­chen Zu­hö­rern wer­de ich mich, bei der Grö­ße der Auf­ga­be und der Kür­ze der Zeit ver­ständ­lich ma­chen kön­nen – wenn sie näm­lich so­fort er­rat­hen, was nur an­ge­deu­tet wer­den konn­te, er­gän­zen, was ver­schwie­gen wer­den muß­te, wenn sie über­haupt nur er­in­nert zu wer­den, nicht be­lehrt zu wer­den brau­chen.

Wäh­rend ich es also durch­aus ab­leh­nen muß, als un­be­ru­fe­ner Ra­th­ge­ber in bas­le­ri­schen Schul- und Er­zie­hungs­fra­gen be­trach­tet zu wer­den, den­ke ich noch we­ni­ger dar­an, von dem gan­zen Ho­ri­zont der jet­zi­gen Cul­tur­völ­ker aus auf eine kom­men­de Zu­kunft der Bil­dung und der Bil­dungs­mit­tel zu pro­phe­zei­en: in die­ser un­ge­heu­ren Wei­te des Ge­sichts­krei­ses er­blin­det mein Blick, wie er eben­falls in ei­ner all­zu­großen Nähe un­si­cher wird. Un­ter un­se­ren Bil­dungs­an­stal­ten ver­ste­he ich dem­ge­mäß we­der die spe­ci­ell bas­le­ri­schen, noch die zahl­lo­sen For­men der wei­tes­ten, alle Völ­ler um­span­nen­den Ge­gen­wart, son­dern mei­ne die deut­schen In­sti­tu­tio­nen die­ser Art, de­ren wir uns ja auch hier zu er­freu­en ha­ben. Die Zu­kunft die­ser deut­schen In­sti­tu­tio­nen soll uns be­schäf­ti­gen, d. h. die Zu­kunft der deut­schen Volks­schu­le, der deut­schen Real­schu­le, des deut­schen Gym­na­si­ums, der deut­schen Uni­ver­si­tät: wo­bei wir einst­wei­len ganz von al­len Ver­glei­chun­gen und Wert­hab­schät­zun­gen ab­sehn und uns be­son­ders vor dem schmei­cheln­den Wah­ne hü­ten, als ob uns­re Zu­stän­de, im Hin­blick auf an­de­re Cul­tur­völ­ker, eben die all­ge­mein mus­ter­gül­ti­gen und un­über­troff­nen sei­en. Ge­nug, es sind uns­re Bil­dungs­schu­len und nicht zu­fäl­lig hän­gen sie mit uns zu­sam­men, nicht um­ge­hängt sind sie uns wie ein Ge­wand: son­dern als le­ben­di­ge Denk­mä­ler be­deu­ten­der Cul­tur­be­we­gun­gen, in ei­ni­gen For­ma­tio­nen selbst »Ur­vä­ter­haus­rath«, ver­knüp­fen sie uns mit der Ver­gan­gen­heit des Vol­kes und sind in we­sent­li­chen Zü­gen ein so hei­li­ges und ehr­wür­di­ges Ver­mächt­niß, daß ich von der Zu­kunft un­se­rer Bil­dungs­an­stal­ten nur im Sin­ne ei­ner höchst mög­li­chen An­nä­he­rung an den idea­len Geist, aus dem sie ge­bo­ren sind, zu re­den wüß­te. Da­bei steht es für mich fest, daß die zahl­rei­chen Ver­än­de­run­gen, die sich die Ge­gen­wart an die­sen Bil­dungs­an­stal­ten er­laub­te, um sie »zeit­ge­mäß« zu ma­chen, zum gu­ten Theil nur ver­zo­ge­ne Li­ni­en und Abir­run­gen von der ur­sprüng­li­chen er­ha­be­nen Ten­denz ih­rer Grün­dung sind: und was wir in die­ser Hin­sicht von der Zu­kunft zu hof­fen wa­gen, ist eine so all­ge­mei­ne Er­neue­rung, Er­fri­schung und Läu­te­rung des deut­schen Geis­tes, daß aus ihm auch die­se An­stal­ten ge­wis­ser­ma­ßen neu­ge­bo­ren wer­den und dann, nach die­ser Neu­ge­burt, zu­gleich alt und neu er­schei­nen: wäh­rend sie jetzt zu al­ler­meist nur »mo­dern« und »zeit­ge­mäß« zu sein be­an­spru­chen.

 

Nur im Sin­ne je­ner Hoff­nung rede ich von ei­ner Zu­kunft un­se­rer Bil­dungs­an­stal­ten: und dies ist der zwei­te Punkt, über den ich mich von vorn­her­ein, zu mei­ner Ent­schul­di­gung er­klä­ren muß. Es ist ja die größ­te al­ler An­ma­ßun­gen, Pro­phet sein zu wol­len, so daß es be­reits lä­cher­lich klingt zu er­klä­ren, daß man es nicht sein will. Es dürf­te Nie­mand über die Zu­kunft un­se­rer Bil­dung und eine da­mit im Zu­sam­men­hange ste­hen­de Zu­kunft un­se­rer Er­zie­hungs­mit­tel und -me­tho­den sich im Tone der Weis­sa­gung ver­neh­men las­sen, wenn er nicht be­wei­sen kann, daß die­se zu­künf­ti­ge Bil­dung in ir­gend wel­chem Maße be­reits Ge­gen­wart ist und nur in ei­nem viel hö­he­ren Maße um sich zu grei­fen hat, um einen nothwen­di­gen Ein­fluß auf Schu­le und Er­zie­hungs­in­sti­tu­te aus­zuü­ben. Man ge­stat­te mir nur, aus den Ein­ge­wei­den der Ge­gen­wart, gleich ei­nem rö­mi­schen Ha­rus­pex, die Zu­kunft zu er­rat­hen, was in die­sem Fal­le nicht mehr und nicht we­ni­ger sa­gen will als ei­ner schon vor­han­de­nen Bil­dungs­ten­denz den einst­ma­li­gen Sieg zu ver­hei­ßen, ob sie gleich au­gen­blick­lich nicht be­liebt, nicht ge­ehrt, nicht ver­brei­tet ist. Sie wird aber sie­gen, wie ich mit höchs­tem Ver­trau­en an­neh­me, weil sie den größ­ten und mäch­tigs­ten Bun­des­ge­nos­sen hat, die Na­tur: wo­bei wir frei­lich nicht ver­schwei­gen dür­fen, daß vie­le Voraus­set­zun­gen uns­rer mo­der­nen Bil­dungs­me­tho­den den Cha­rak­ter des Un­na­tür­li­chen an sich tra­gen und daß die ver­häng­nis­volls­ten Schwä­chen un­se­rer Ge­gen­wart ge­ra­de mit die­sen un­na­tür­li­chen Bil­dungs­me­tho­den zu­sam­men­hän­gen. Wer mit die­ser Ge­gen­wart sich durch­aus eins fühlt und sie als et­was »Selbst­ver­ständ­li­ches« nimmt, den be­nei­den wir we­der um die­sen Glau­ben noch um dies skan­da­lös ge­bil­de­te Mo­de­wort »selbst­ver­ständ­lich«: wer aber, auf dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Stand­punk­te an­ge­langt, be­reits ver­zwei­felt, der braucht auch nicht mehr zu kämp­fen und darf sich nur der Ein­sam­keit er­ge­ben, um bald al­lein zu sein. Zwi­schen die­sen »Selbst­ver­ständ­li­chen« und den Ein­sa­men ste­hen aber die Kämp­fen­den, das heißt die Hoff­nungs­rei­chen, als de­ren edels­ter und er­ha­be­ner Aus­druck un­ser großer Schil­ler vor un­sern Au­gen steht, so wie ihn uns Goe­the in sei­nem Epi­log zur Glo­cke schil­dert:

Nun glüh­te sei­ne Wan­ge roth und rö­ther

Von je­ner Ju­gend, die uns nie ent­fliegt,

Von je­nem Muth, der, frü­her oder spä­ter,

Den Wi­der­stand der stump­fen Welt be­siegt,

Von je­nem Glau­ben, der sich stets er­höh­ter

Bald kühn her­vor­drängt, bald ge­dul­dig schmiegt,

Da­mit daß Gute wir­ke, wach­se, from­me,

Da­mit der Tag dem Ed­len end­lich kom­me.

– Das bis­her von mir Ge­sag­te möge von mei­nen ge­ehr­ten Zu­hö­rern im Sin­ne ei­nes Vor­wor­tes auf­ge­nom­men wer­den, des­sen Auf­ga­be nur sein durf­te, den Ti­tel mei­ner Vor­trä­ge zu il­lus­tri­ren und ihn ge­gen mög­li­che Miß­ver­ständ­nis­se und un­be­rech­tig­te An­for­de­run­gen zu schüt­zen. Um nun so­fort, am Ein­gan­ge mei­ner Be­trach­tun­gen, vom Ti­tel zur Sa­che über­ge­hend, den all­ge­mei­nen Ge­dan­ken­kreis zu um­schrei­ben, von dem aus eine Beurt­hei­lung un­se­rer Bil­dungs­an­stal­ten ver­sucht wer­den soll, soll, an die­sem Ein­gan­ge, eine deut­lich for­mu­lir­te The­se als Wap­pen­schild je­den Hin­zu­kom­men­den er­in­nern, in wes­sen Haus und Ge­höft er zu tre­ten im Be­griff ist: falls er nicht, nach Be­trach­tung ei­nes sol­chen Wap­pen­schil­des, es vor­zieht ei­nem sol­chen da­mit ge­kenn­zeich­ne­ten Haus und Ge­höft den Rücken zu keh­ren. Mei­ne The­se lau­tet:

Zwei schein­bar ent­ge­gen­ge­setz­te, in ih­rem Wir­ken gleich ver­derb­li­che und in ih­ren Re­sul­ta­ten end­lich zu­sam­men­flie­ßen­de Strö­mun­gen be­herr­schen in der Ge­gen­wart un­se­re ur­sprüng­lich auf ganz an­de­ren Fun­da­men­ten ge­grün­de­ten Bil­dungs­an­stal­ten: ein­mal der Trieb nach mög­lichs­ter Er­wei­te­rung der Bil­dung, an­de­rer­seits der Trieb nach Ver­min­de­rung und Ab­schwä­chung der­sel­ben. Dem ers­ten Trie­be ge­mäß soll die Bil­dung in im­mer wei­te­re Krei­se ge­tra­gen wer­den, im Sin­ne der an­de­ren Ten­denz wird der Bil­dung zu­ge­mu­thet, ihre höchs­ten selbst­herr­li­chen An­sprü­che auf­zu­ge­ben und sich die­nend ei­ner an­de­ren Le­bens­form, näm­lich der des Staa­tes un­ter­zu­ord­nen. Im Hin­blick auf die­se ver­häng­niß­vol­len Ten­den­zen der Er­wei­te­rung und der Ver­min­de­rung wäre hoff­nungs­los zu ver­zwei­feln, wenn es nicht ir­gend­wann ein­mal mög­lich ist, zwei­en ent­ge­gen­ge­setz­ten, wahr­haft deut­schen und über­haupt zu­kunfts­rei­chen Ten­den­zen zum Sie­ge zu ver­hel­fen, das heißt dem Trie­be nach Ve­ren­ge­rung und Con­cen­tra­ti­on der Bil­dung, als dem Ge­gen­stück ei­ner mög­lichst großen Er­wei­te­rung, und dem Trie­be nach Stär­kung und Selbst­ge­nug­sam­keit der Bil­dung, als dem Ge­gen­stück ih­rer Ver­min­de­rung. Daß wir aber an die Mög­lich­keit ei­nes Sie­ges glau­ben, dazu be­rech­tigt uns die Er­kennt­niß, daß jene bei­den Ten­den­zen der Er­wei­te­rung und Ver­min­de­rung eben­so den ewig glei­chen Ab­sich­ten der Na­tur ent­ge­gen­lau­fen als eine Con­cen­tra­ti­on der Bil­dung auf We­ni­ge ein nothwen­di­ges Ge­setz der­sel­ben Na­tur, über­haupt eine Wahr­heit ist, wäh­rend es je­nen zwei an­de­ren Trie­ben nur ge­lin­gen möch­te, eine er­lo­ge­ne Cul­tur zu be­grün­den.

III. – Vorträge

Ers­ter Vor­trag.

(Ge­hal­ten am 16. Ja­nu­ar 1872.)

Mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer,

das The­ma, über das Sie ge­son­nen sind, mit mir nach­zu­den­ken, ist so ernst­haft und wich­tig und in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne so be­un­ru­hi­gend, daß auch ich, gleich Ih­nen, zu je­dem Be­lie­bi­gen ge­hen wür­de, der über das­sel­be et­was zu leh­ren ver­sprä­che, soll­te der­sel­be auch noch so jung sein, soll­te es an sich so­gar recht un­wahr­schein­lich dün­ken, daß er von sich aus, aus eig­nen Kräf­ten, et­was Zu­rei­chen­des und ei­ner sol­chen Auf­ga­be Ent­spre­chen­des leis­ten wer­de. Es wäre doch noch mög­lich, daß er et­was Rech­tes über die be­un­ru­hi­gen­de Fra­ge nach der Zu­kunft un­se­rer Bil­dungs­an­stal­ten ge­hört habe, das er Ih­nen nun wie­der er­zäh­len woll­te, es wäre mög­lich, daß er be­deu­ten­de Lehr­meis­ter ge­habt habe, de­nen es schon mehr ge­zie­men möch­te, auf die Zu­kunft zu pro­phe­zei­en und zwar, ähn­lich wie die rö­mi­schen ha­ru­spi­ces, aus den Ein­ge­wei­den der Ge­gen­wart her­aus.

In der That ha­ben Sie et­was der­ar­ti­ges zu ge­wär­ti­gen. Ich bin ein­mal durch selt­sa­me, im Grun­de recht harm­lo­se Um­stän­de Ohren­zeu­ge ei­nes Ge­sprächs ge­we­sen, wel­ches merk­wür­di­ge Män­ner über eben je­nes The­ma führ­ten, und habe die Haupt­punk­te ih­rer Be­trach­tun­gen und die gan­ze Art und Wei­se, wie sie die­se Fra­ge an­faß­ten, viel zu fest mei­nem Ge­dächt­niß ein­ge­prägt, um nicht selbst im­mer, wenn ich über ähn­li­che Din­ge nach­den­ke, in das­sel­be Ge­lei­se zu ge­rat­hen: nur daß ich mit­un­ter den zu­ver­sicht­li­chen Muth nicht habe, den jene Män­ner so­wohl im küh­nen Aus­spre­chen ver­bo­te­ner Wahr­hei­ten als in dem noch küh­ne­ren Auf­bau ih­rer eig­nen Hoff­nun­gen da­mals vor mei­nen Ohren und zu mei­nem Er­stau­nen be­währ­ten. Um so mehr schi­en es nur nütz­lich, ein sol­ches Ge­spräch end­lich ein­mal schrift­lich zu fi­xi­ren, um auch An­de­re noch zum Urt­heil über so auf­fal­len­de An­sich­ten und Auss­prü­che auf­zu­rei­zen: – und hier­zu glaub­te ich aus be­son­de­ren Grün­den ge­ra­de die Ge­le­gen­heit die­ser öf­fent­li­chen Vor­trä­ge be­nut­zen zu dür­fen.

Ich bin mir näm­lich wohl be­wußt, an wel­chem Orte ich je­nes Ge­spräch ei­nem all­ge­mei­nen Nach­den­ken und Über­le­gen an­emp­feh­le, in ei­ner Stadt näm­lich, die in ei­nem un­ver­hält­niß­mä­ßig groß­ar­ti­gen Sin­ne die Bil­dung und Er­zie­hung ih­rer Bür­ger zu för­dern sucht, in ei­nem Maß­sta­be, der für grö­ße­re Staa­ten ge­ra­de­zu et­was Be­schä­men­des ha­ben muß: so daß ich hier ge­wiß auch mit die­ser Ver­mut­hung nicht fehl­grei­fe, daß dort, wo man um so viel mehr für die­se Din­ge thut, man auch über sie um so viel mehr denkt. Gera­de nur sol­chen Zu­hö­rern aber wer­de ich, bei der Wie­der­er­zäh­lung je­nes Ge­sprächs, völ­lig ver­ständ­lich wer­den kön­nen – sol­chen, die so­fort er­rat­hen, was nur an­ge­deu­tet wer­den konn­te, er­gän­zen, was ver­schwie­gen wer­den muß­te, die über­haupt nur er­in­nert, nicht be­lehrt zu wer­den brau­chen.

Nun ver­neh­men Sie, mei­ne ge­ehr­ten Zu­hö­rer, mein harm­lo­ses Er­leb­niß und das min­der harm­lo­se Ge­spräch je­ner bis­her nicht ge­nann­ten Män­ner.

Wir ver­set­zen uns mit­ten in den Zu­stand ei­nes jun­gen Stu­den­ten hin­ein, das heißt in einen Zu­stand, der, in der rast­lo­sen und hef­ti­gen Be­we­gung der Ge­gen­wart, ge­ra­de­zu et­was Un­glaub­wür­di­ges ist, und den man er­lebt ha­ben muß, um ein sol­ches un­be­küm­mer­tes Sich-Wie­gen, ein sol­ches dem Au­gen­blick ab­ge­run­ge­nes gleich­sam zeit­lo­ses Be­ha­gen über­haupt für mög­lich zu hal­ten. In die­sem Zu­stan­de ver­leb­te ich, zu­gleich mit ei­nem gleich­al­te­ri­gen Freun­de, ein Jahr in der Uni­ver­si­täts­stadt Bonn am Rhein: ein Jahr, wel­ches durch die Ab­we­sen­heit al­ler Plä­ne und Zwe­cke, los­ge­löst von al­len Zu­kunfts­ab­sich­ten, für mei­ne jet­zi­ge Emp­fin­dung fast et­was Traumar­ti­ges an sich trägt, wäh­rend das­sel­be zu bei­den Sei­ten, vor­her und nach­her, durch Zeiträu­me des Wach­seins ein­ge­rahmt ist. Wir Bei­de blie­ben un­ge­stört, ob wir gleich mit ei­ner zahl­rei­chen und im Grun­de an­ders er­reg­ten und stre­ben­den Ver­bin­dung zu­sam­men leb­ten; mit­un­ter hat­ten wir Mühe, die et­was zu leb­haf­ten Zu­mut­hun­gen die­ser un­se­rer Al­ters­ge­nos­sen zu be­frie­di­gen oder zu­rück­zu­wei­sen. Aber selbst die­ses Spiel mit ei­nem wi­der­stre­ben­den Ele­men­te hat jetzt, wenn ich es mir vor die See­le stel­le, im­mer noch einen ähn­li­chen Cha­rak­ter, wie man­cher­lei Hem­mun­gen, die ein Je­der im Traum er­lebt, etwa wenn man glaubt flie­gen zu kön­nen, aber durch un­er­klär­li­che Hin­der­nis­se sich zu­rück­ge­zo­gen fühlt.

Ich hat­te mit mei­nem Freun­de zahl­rei­che Erin­ne­run­gen aus der frü­he­ren Pe­ri­ode des Wach­seins, aus un­se­rer Gym­na­sias­ten­zeit, ge­mein, und eine der­sel­ben muß ich nä­her be­zeich­nen, weil sie den Über­gang zu mei­nem harm­lo­sen Er­leb­niß bil­det. Mit je­nem Freun­de zu­sam­men hat­te ich bei ei­ner frü­he­ren Rhein­rei­se, die im Spät­som­mer un­ter­nom­men wor­den war, einen Plan fast zu glei­cher Zeit und an glei­chem Orte – und doch Je­der für sich – aus­ge­dacht, so daß wir uns ge­ra­de durch dies un­ge­wöhn­li­che Zu­sam­men­tref­fen ge­zwun­gen fühl­ten, ihn durch­zu­füh­ren. Wir be­schlos­sen da­mals eine klei­ne Ve­rei­ni­gung von we­nig Ka­me­ra­den zu stif­ten, mit der Ab­sicht, für un­se­re pro­duk­ti­ven Nei­gun­gen in Kunst und Lit­te­ra­tur eine fes­te und ver­pflich­ten­de Or­ga­ni­sa­ti­on zu fin­den: das heißt schlich­ter aus­ge­drückt: es muß­te sich ein Je­der von uns ver­bind­lich ma­chen, von Mo­nat zu Mo­nat ein eig­nes Pro­dukt, sei es eine Dich­tung oder eine Ab­hand­lung oder ein ar­chi­tek­to­ni­scher Ent­wurf oder eine mu­si­ka­li­sche Pro­duk­ti­on, ein­zu­sen­den, über wel­ches Pro­dukt nun ein Je­der der An­de­ren mit der un­be­grenz­ten Of­fen­heit freund­schaft­li­cher Kri­tik zu rich­ten be­fugt war. So glaub­ten wir un­se­re Bil­dungs­trie­be durch ge­gen­sei­ti­ges Über­wa­chen eben­so zu rei­zen, als im Zau­me zu hal­ten: und wirk­lich war auch der Er­folg der­art, daß wir im­mer eine dank­ba­re, ja fei­er­li­che Emp­fin­dung für je­nen Mo­ment und je­nen Ort zu­rück­be­hal­ten mutz­ten, die uns je­nen Ein­fall ein­ge­ge­ben hat­ten.

 

Für die­se Emp­fin­dung fand sich bald die rech­te Form, in­dem wir uns ge­gen­sei­tig ver­pflich­te­ten, wenn es ir­gend mög­lich sei, an je­nem Tage, in je­dem Jah­re die ein­sa­me Stät­te bei Ro­land­seck auf­zu­su­chen, an der wir da­mals, im Spät­som­mer, in Ge­dan­ken ne­ben ein­an­der sit­zend, uns plötz­lich zu dem glei­chen Ent­schlüs­se be­geis­tert fühl­ten. Genau ge­nom­men, ist die­se Ver­pflich­tung doch nicht streng ge­nug ein­ge­hal­ten wor­den; aber ge­ra­de des­halb, weil wir man­che Un­ter­las­sungs­sün­de auf dem Ge­wis­sen hat­ten, wur­de von uns Bei­den in je­nem Bon­ner Stu­den­ten­jahr, als wir end­lich wie­der dau­ernd am Rhei­ne wohn­ten, mit größ­ter Fes­tig­keit be­schlos­sen, dies­mal nicht nur un­se­rem Ge­setz, son­dern auch un­se­rem Ge­fühl, un­se­rer dank­ba­ren Er­re­gung zu ge­nü­gen und am rech­ten Tage die Stät­te bei Ro­land­seck in wei­he­vol­ler Wei­se heim­zu­su­chen.

Es wur­de uns nicht leicht ge­macht: denn ge­ra­de an die­sem Tage mach­te uns die zahl­rei­che und mun­te­re Stu­den­ten­ver­bin­dung, die uns am Flie­gen hin­der­te, recht zu schaf­fen und zog mit al­len Kräf­ten an al­len Fä­den, die uns nie­der­hal­ten konn­ten. Un­se­re Ver­bin­dung hat­te für die­sen Zeit­punkt eine große fest­li­che Aus­fahrt nach Ro­land­seck be­schlos­sen, um am Schlüs­se des Som­mer» Halb­jahrs sich noch ein­mal ih­rer sämmt­li­chen Mit­glie­der zu ver­si­chern und sie mit den bes­ten Ab­schied­ser­in­ne­run­gen nach­her in die Hei­math zu schi­cken.

Es war ei­ner je­ner voll­komm­nen Tage, wie sie, in un­se­rem Kli­ma we­nigs­tens, nur eben die­se Spät­som­mer­zeit zu er­zeu­gen ver­mag: Him­mel und Erde im Ein­klang ru­hig ne­ben ein­an­der hin­strö­mend, wun­der­bar aus Son­nen­wär­me, Herbst­fri­sche und blau­er Unend­lich­keit ge­mischt. Wir be­stie­gen in dem bun­tes­ten phan­tas­ti­schen Auf­zu­ge, an dem sich, bei der Trüb­sin­nig­keit al­ler sons­ti­gen Trach­ten, al­lein noch der Stu­dent er­göt­zen darf, ein Dampf­schiff, das zu un­se­ren Ehren fest­lich be­wim­pelt war, und pflanz­ten un­se­re Ver­bin­dungs­fah­nen auf sei­nem Ver­de­cke auf. Von bei­den Ufern des Rhei­nes er­tön­te von Zeit zu Zeit ein Si­gnal­schuß, durch den, nach un­se­rer An­ord­nung, eben­so die Rhein­an­woh­ner als vor Al­lem un­ser Wirth in Ro­land­seck über un­ser Heran­kom­men be­nach­rich­tigt wur­de. Ich er­zäh­le nun nichts von dem lär­men­den Ein­zü­ge, vom Lan­dungs­plat­ze aus, durch den auf­ge­regt-neu­gie­ri­gen Ort hin­durch, eben­so we­nig von den nicht für Je­der­mann ver­ständ­li­chen Freu­den und Scher­zen, die wir uns un­ter ein­an­der ge­stat­te­ten; ich über­ge­he ein all­mäh­lich be­weg­ter, ja wild wer­den­des Fes­tes­sen und eine un­glaub­li­che mu­si­ka­li­sche Pro­duk­ti­on, an der sich, bald durch Ein­zel­vor­trä­ge, bald durch Ge­sammt­leis­tun­gen die gan­ze Ta­fel­ge­sell­schaft bet­hei­li­gen muß­te, und die ich, als mu­si­ka­li­scher Be­rat­her un­se­rer Ver­bin­dung, frü­her ein­zu­stu­die­ren und jetzt zu di­ri­gi­ren hat­te. Wäh­rend des et­was wüs­ten und im­mer schnel­ler wer­den­den Fina­le hat­te ich be­reits mei­nem Freun­de einen Wink ge­ge­ben, und un­mit­tel­bar nach dem ge­heu­l­ähn­li­chen Schluß­ac­cord ver­schwan­den wir Bei­de durch die Thü­re: hin­ter uns klapp­te ge­wis­ser­ma­ßen ein brül­len­der Ab­grund zu.

Plötz­lich er­qui­cken­de, athem­lo­se Na­tur­stil­le. Die Schat­ten la­gen schon et­was brei­ter, die Son­ne glüh­te un­be­weg­lich, aber schon nie­der­ge­senkt, und von den grün­li­chen glit­zern­den Wel­len des Rhei­nes her weh­te ein leich­ter Hauch über un­se­re hei­ßen Ge­sich­ter. Un­se­re Erin­ne­rungs­wei­he ver­pflich­te­te uns nur erst für die spä­te­ren Stun­den des Tags, und da­her hat­ten wir dar­an ge­dacht, die letz­ten hel­len Mo­men­te des Tags mit ei­ner un­se­rer ein­sa­men Lieb­ha­be­rei­en aus­zu­fül­len, an de­nen wir da­mals so reich wa­ren.

Wir pfleg­ten da­mals mit Pas­si­on Pis­to­len zu schie­ßen, und ei­nem Je­den von uns ist die­se Tech­nik in ei­ner spä­te­ren mi­li­tä­ri­schen Lauf­bahn von großem Nut­zen ge­we­sen. Der Die­ner un­se­rer Ver­bin­dung kann­te un­se­ren et­was ent­fernt und hoch­ge­le­ge­nen Schieß­platz und hat­te uns dort­hin un­se­re Pis­to­len vor­an­ge­tra­gen. Die­ser Platz be­fand sich am obe­ren Sau­me des Wal­des, der die nied­ri­gen Hö­hen­zü­ge hin­ter Ro­land­seck be­deckt, auf ei­nem klei­nen un­eb­nen Pla­teau, und zwar ganz in der Nähe un­se­rer Stif­tungs- und Wei­he­stät­te. Am be­wal­de­ten Ab­hang, seit­wärts von un­se­rem Schieß­platz, gab es eine klei­ne baum­freie, zum Nie­der­sit­zen ein­la­den­de Stel­le, die einen Durch­blick über Bäu­me und Ge­strüpp hin­weg nach dem Rhei­ne zu ge­stat­te­te, so daß ge­ra­de die schön ge­wun­de­nen Li­ni­en des Sie­ben­ge­birgs und vor Al­lem der Dra­chen­fels den Ho­ri­zont ge­gen die Baum­grup­pen ab­grenz­ten, wäh­rend den Mit­tel­punkt die­ses ge­run­de­ten Aus­schnitts der glit­zern­de Rhein selbst, die In­sel Non­nen­wörth im Arme hal­tend, bil­de­te. Dies war un­se­re, durch ge­mein­sa­me Träu­me und Plä­ne ge­weih­te Stät­te, zu der wir uns in spä­te­rer Abend­stun­de zu­rück­ziehn woll­ten, ja so­gar muß­ten, falls wir im Sin­ne un­se­res Ge­set­zes den Tag be­schlie­ßen moch­ten.

Seit­wärts da­von, auf je­nem klei­nen un­ebe­nen Pla­teau, stand un­weit ein mäch­ti­ger Stumpf ei­ner Ei­che, ein­sam sich von der sonst baum- und strauch­lo­sen Flä­che und den nied­ri­gen wel­len­ar­ti­gen Er­hö­hun­gen ab­he­bend. An die­sem Stumpf hat­ten wir einst, mit ver­ein­ter Kraft, ein deut­li­ches Pen­ta­gramm ein­ge­schnit­ten, das in Wet­ter und Sturm der letz­ten Jah­re noch mehr auf­ge­bors­ten war und eine will­komm­ne Ziel­schei­be für un­se­re Pis­to­len­küns­te dar­bot. Es war be­reits eine spä­te­re Nach­mit­tags­stun­de, als wir auf un­se­rem Schieß­platz an­lang­ten, und von un­se­rem Ei­chen­stumpf aus lehn­te sich ein brei­ter und zu­ge­spitz­ter Schat­ten über die dürf­ti­ge Hai­de hin. Es war sehr still: durch die hö­he­ren Bäu­me zu un­se­ren Fü­ßen wa­ren wir ver­hin­dert, nach dem Rhein zu in die Tie­fe zu se­hen. Um so er­schüt­tern­der klang in die­se Ein­sam­keit bald der wi­der­hal­len­de schar­fe Laut un­se­rer Pis­to­len­schüs­se – und eben hat­te ich die zwei­te Ku­gel nach dem Pen­ta­gramm aus­ge­schickt, als ich mich hef­tig am Arme ge­faßt fühl­te und zu­gleich auch mei­nen Freund in ei­ner ähn­li­chen Wei­se im La­den un­ter­bro­chen sah.