Bemerken wir wohl, daß so wie Miltiades untergeht, auch die edelsten griechischen Staaten untergehen, als sie, durch Verdienst und Glück, aus der Rennbahn zum Tempel der Nike gelangt waren. Athen, das die Selbständigkeit seiner Verbündeten vernichtet hatte und mit Strenge die Aufstände der Unterworfenen ahndete, Sparta, welches nach der Schlacht von Ägospotamoi in noch viel härterer und grausamerer Weise sein Übergewicht über Hellas geltend machte, haben auch, nach dem Beispiele des Miltiades, durch Thaten der Hybris ihren Untergang herbeigeführt, zum Beweise dafür, daß ohne Neid, Eifersucht und wettkämpfenden Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos, kurz, er wird »vorhomerisch« – und dann bedarf es nur eines panischen Schreckens, um ihn zum Fall zu bringen und zu zerschmettern. Sparta und Athen liefern sich an Persien aus, wie es Themistokles und Alcibiades gethan haben; sie verrathen das Hellenische, nachdem sie den edelsten hellenischen Grundgedanken, den Wettkampf, aufgegeben haben: und Alexander, die vergröbernde Copie und Abbreviatur der griechischen Geschichte, erfindet nun den Allerwelts-Hellenen und den sogenannten »Hellenismus«. –
(1871/72.)
(1872.)
Der Leser, von dem ich Etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben. Er muß ruhig sein und ohne Hast lesen. Er muß nicht immer sich selbst und seine »Bildung« dazwischen bringen. Er darf endlich nicht, am Schlusse, etwa als Resultat, neue Tabellen erwarten. Tabellen und neue Stundenpläne für Gymnasien und andre Schulen verspreche ich nicht, bewundere vielmehr die überkräftige Natur Jener, welche im Stande sind, den ganzen Weg, von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Culturprobleme und wieder von da hinab in die Niederungen der dürrsten Reglements und des zierlichsten Tabellenwerks zu durchmessen; sondern zufrieden, wenn ich, unter Keuchen, einen ziemlichen Berg erklommen habe und mich oben des freieren Blicks erfreuen darf, werde ich eben in diesem Buche die Tabellenfreunde nie zufriedenstellen können. Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste Menschen, im Dienste einer völlig erneuten und gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung – der Erziehung zu eben jener Bildung – werden; wahrscheinlich müssen sie dann wiederum Tabellen machen; aber wie fern ist die Zeit! Und was wird nicht Alles inzwischen geschehen sein! Vielleicht liegt zwischen ihr und der Gegenwart die Vernichtung des Gymnasiums, vielleicht selbst die Vernichtung der Universität, oder wenigstens eine so totale Umgestaltung der eben genannten Bildungsanstalten, daß deren alte Tabellen sich späteren Augen wie Überreste aus der Pfahlbautenzeit darbieten möchten.
Für die ruhigen Leser ist das Buch bestimmt, für Menschen, welche noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind und noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen daran empfinden, wenn sie sich unter seine Räder werfen, für Menschen also, die noch nicht den Werth jedes Dinges nach der Zeitersparniß oder Zeitversäumniß abzuschätzen sich gewöhnt haben. Das heißt – für sehr wenige Menschen. Diese aber »haben noch Zeit«, diese dürfen, ohne vor sich selbst zu erröthen, die fruchtbarsten und kräftigsten Momente ihres Tages zusammen suchen, um über die Zukunft unserer Bildung nachzudenken, diese dürfen selbst glauben, auf eine recht nutzbringende und würdige Art bis zum Abend zu kommen, nämlich in der meditatio generis futuri. Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimniß, zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene nachdenkt – vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht, um eine Recension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Leichtsinniger Verschwender! Du bist mein Leser, denn du wirst ruhig genug sein, um mit dem Autor einen langen Weg anzutreten, dessen Ziele er nicht sehen kann, an dessen Ziele er ehrlich glauben muß, damit eine spätere, vielleicht ferne Generation mit Augen sehe, wonach wir, blind und nur vom Instinkt geführt, tasten. Wenn der Leser dagegen meinen sollte, es bedürfe nur eines geschwinden Sprungs, einer frohmüthigen That, wenn er etwa mit einer neuen von Staatswegen eingeführten »Organisation« alles Wesentliche für erreicht hielte, so müssen wir fürchten, daß er weder den Autor noch das eigentliche Problem verstanden hat.
Endlich ergeht die dritte und wichtigste Forderung an ihn, daß er auf keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich selbst und seine »Bildung« unausgesetzt etwa als Maßstab, dazwischen bringe, als ob er damit ein Kriterium aller Dinge besäße. Wir wünschen, er möge gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken. Dann dürfte er wohl am zutraulichsten sich der Führung des Verfassers hingeben, der es gerade nur von dem Nichtwissen und von dem Wissen des Nichtwissens aus wagen durfte, zu ihm zu reden. Nichts Anderes will er vor den Übrigen für sich in Anspruch nehmen, als ein stark erregtes Gefühl für das Specifische unserer gegenwärtigen Barbarei für Das, was uns als die Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts vor anderen Barbaren auszeichnet. Nun sucht er, mit diesem Buche in der Hand, nach Solchen, die von einem ähnlichen Gefühle hin- und hergetrieben werden. Laßt euch finden, ihr Vereinzelten, an deren Dasein ich glaube! Ihr Selbstlosen, die ihr die Leiden der Verderbniß des deutschen Geistes an euch selbst erleidet! Ihr Beschaulichen, deren Auge unvermögend ist, mit hastigem Spähen von einer Oberfläche zur andern zu gleiten! Ihr Hochsinnigen, denen Aristoteles nachrühmt, daß ihr zögernd und thatenlos durch’s Leben geht, außer wo eine große Ehre und ein großes Werk nach euch verlangen! Euch rufe ich auf. Verkriecht euch nur diesmal nicht in die Höhle eurer Abgeschiedenheit und eures Mißtrauens. Denkt euch, dies Buch sei bestimmt, euer Herold zu sein. Wenn ihr erst selbst, in eurer eignen Rüstung, auf dem Kampfplatze erscheint, wen möchte es dann noch gelüsten, nach dem Herolde, der euch rief, zurückzuschauen? – II.
(1871.)
Der Titel, den ich meinen Vorträgen gegeben habe, sollte, wie es die Pflicht jedes Titels ist, so bestimmt, deutlich und eindringlich wie möglich sein, ist aber, was ich jetzt recht wohl merke, aus einem Übermaaß von Bestimmtheit zu kurz ausgefallen und darum wieder undeutlich geworden, so daß ich damit beginnen muß, diesen Titel und damit die Aufgabe dieser Vorträge vor meinen geehrten Zuhörern zu erklären, ja nöthigenfalls zu entschuldigen. Wenn ich also über die Zukunft unserer Bildungsanstalten zu reden versprochen habe, so denke ich dabei zunächst gar nicht an die specielle Zukunft und Weiterentwicklung unsrer baslerischen Institute dieser Art. So häufig es auch scheinen möchte, daß viele meiner allgemeinen Behauptungen sich gerade an unsern einheimischen Erziehungsanstalten exemplificiren ließen, so bin ich es nicht, der diese Exemplifikationen macht und möchte daher ebensowenig die Verantwortung für derartige Nutzanwendungen tragen: gerade aus dem Grunde, weil ich mich für viel zu fremd und unerfahren halte und mich viel zu wenig in den hiesigen Zuständen festgewurzelt fühle, um eine so specielle Configuration der Bildungsverhältnisse richtig zu beurtheilen oder gar um ihre Zukunft mit einiger Sicherheit vorzeichnen zu können. Andrerseits bin ich mir um so mehr bewußt, an welchem Orte ich diese Vorträge zu halten habe, in einer Stadt nämlich, die in einem unverhältnismäßig großartigen Sinne und in einem für größere Staaten gradezu beschämenden Maßstabe die Bildung und Erziehung ihrer Bürger zu fördern sucht: so daß ich gewiß nicht fehlgreife, wenn ich vermuthe, daß dort, wo man um so viel mehr für diese Dinge thut, man auch über sie um so viel mehr denkt. Gerade Das aber muß mein Wunsch, ja meine Voraussetzung sein, mit Zuhörern hier in geistigem Verkehr zu stehen, welche über Erziehungs- und Bildungsfragen ebenso sehr nachgedacht haben, als sie Willens sind, mit der That das als recht Erkannte zu fördern: und nur vor solchen Zuhörern werde ich mich, bei der Größe der Aufgabe und der Kürze der Zeit verständlich machen können – wenn sie nämlich sofort errathen, was nur angedeutet werden konnte, ergänzen, was verschwiegen werden mußte, wenn sie überhaupt nur erinnert zu werden, nicht belehrt zu werden brauchen.
Während ich es also durchaus ablehnen muß, als unberufener Rathgeber in baslerischen Schul- und Erziehungsfragen betrachtet zu werden, denke ich noch weniger daran, von dem ganzen Horizont der jetzigen Culturvölker aus auf eine kommende Zukunft der Bildung und der Bildungsmittel zu prophezeien: in dieser ungeheuren Weite des Gesichtskreises erblindet mein Blick, wie er ebenfalls in einer allzugroßen Nähe unsicher wird. Unter unseren Bildungsanstalten verstehe ich demgemäß weder die speciell baslerischen, noch die zahllosen Formen der weitesten, alle Völler umspannenden Gegenwart, sondern meine die deutschen Institutionen dieser Art, deren wir uns ja auch hier zu erfreuen haben. Die Zukunft dieser deutschen Institutionen soll uns beschäftigen, d. h. die Zukunft der deutschen Volksschule, der deutschen Realschule, des deutschen Gymnasiums, der deutschen Universität: wobei wir einstweilen ganz von allen Vergleichungen und Werthabschätzungen absehn und uns besonders vor dem schmeichelnden Wahne hüten, als ob unsre Zustände, im Hinblick auf andere Culturvölker, eben die allgemein mustergültigen und unübertroffnen seien. Genug, es sind unsre Bildungsschulen und nicht zufällig hängen sie mit uns zusammen, nicht umgehängt sind sie uns wie ein Gewand: sondern als lebendige Denkmäler bedeutender Culturbewegungen, in einigen Formationen selbst »Urväterhausrath«, verknüpfen sie uns mit der Vergangenheit des Volkes und sind in wesentlichen Zügen ein so heiliges und ehrwürdiges Vermächtniß, daß ich von der Zukunft unserer Bildungsanstalten nur im Sinne einer höchst möglichen Annäherung an den idealen Geist, aus dem sie geboren sind, zu reden wüßte. Dabei steht es für mich fest, daß die zahlreichen Veränderungen, die sich die Gegenwart an diesen Bildungsanstalten erlaubte, um sie »zeitgemäß« zu machen, zum guten Theil nur verzogene Linien und Abirrungen von der ursprünglichen erhabenen Tendenz ihrer Gründung sind: und was wir in dieser Hinsicht von der Zukunft zu hoffen wagen, ist eine so allgemeine Erneuerung, Erfrischung und Läuterung des deutschen Geistes, daß aus ihm auch diese Anstalten gewissermaßen neugeboren werden und dann, nach dieser Neugeburt, zugleich alt und neu erscheinen: während sie jetzt zu allermeist nur »modern« und »zeitgemäß« zu sein beanspruchen.
Nur im Sinne jener Hoffnung rede ich von einer Zukunft unserer Bildungsanstalten: und dies ist der zweite Punkt, über den ich mich von vornherein, zu meiner Entschuldigung erklären muß. Es ist ja die größte aller Anmaßungen, Prophet sein zu wollen, so daß es bereits lächerlich klingt zu erklären, daß man es nicht sein will. Es dürfte Niemand über die Zukunft unserer Bildung und eine damit im Zusammenhange stehende Zukunft unserer Erziehungsmittel und -methoden sich im Tone der Weissagung vernehmen lassen, wenn er nicht beweisen kann, daß diese zukünftige Bildung in irgend welchem Maße bereits Gegenwart ist und nur in einem viel höheren Maße um sich zu greifen hat, um einen nothwendigen Einfluß auf Schule und Erziehungsinstitute auszuüben. Man gestatte mir nur, aus den Eingeweiden der Gegenwart, gleich einem römischen Haruspex, die Zukunft zu errathen, was in diesem Falle nicht mehr und nicht weniger sagen will als einer schon vorhandenen Bildungstendenz den einstmaligen Sieg zu verheißen, ob sie gleich augenblicklich nicht beliebt, nicht geehrt, nicht verbreitet ist. Sie wird aber siegen, wie ich mit höchstem Vertrauen annehme, weil sie den größten und mächtigsten Bundesgenossen hat, die Natur: wobei wir freilich nicht verschweigen dürfen, daß viele Voraussetzungen unsrer modernen Bildungsmethoden den Charakter des Unnatürlichen an sich tragen und daß die verhängnisvollsten Schwächen unserer Gegenwart gerade mit diesen unnatürlichen Bildungsmethoden zusammenhängen. Wer mit dieser Gegenwart sich durchaus eins fühlt und sie als etwas »Selbstverständliches« nimmt, den beneiden wir weder um diesen Glauben noch um dies skandalös gebildete Modewort »selbstverständlich«: wer aber, auf dem entgegengesetzten Standpunkte angelangt, bereits verzweifelt, der braucht auch nicht mehr zu kämpfen und darf sich nur der Einsamkeit ergeben, um bald allein zu sein. Zwischen diesen »Selbstverständlichen« und den Einsamen stehen aber die Kämpfenden, das heißt die Hoffnungsreichen, als deren edelster und erhabener Ausdruck unser großer Schiller vor unsern Augen steht, so wie ihn uns Goethe in seinem Epilog zur Glocke schildert:
Nun glühte seine Wange roth und röther
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Muth, der, früher oder später,
Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich stets erhöhter
Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit daß Gute wirke, wachse, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.
– Das bisher von mir Gesagte möge von meinen geehrten Zuhörern im Sinne eines Vorwortes aufgenommen werden, dessen Aufgabe nur sein durfte, den Titel meiner Vorträge zu illustriren und ihn gegen mögliche Mißverständnisse und unberechtigte Anforderungen zu schützen. Um nun sofort, am Eingange meiner Betrachtungen, vom Titel zur Sache übergehend, den allgemeinen Gedankenkreis zu umschreiben, von dem aus eine Beurtheilung unserer Bildungsanstalten versucht werden soll, soll, an diesem Eingange, eine deutlich formulirte These als Wappenschild jeden Hinzukommenden erinnern, in wessen Haus und Gehöft er zu treten im Begriff ist: falls er nicht, nach Betrachtung eines solchen Wappenschildes, es vorzieht einem solchen damit gekennzeichneten Haus und Gehöft den Rücken zu kehren. Meine These lautet:
Zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken gleich verderbliche und in ihren Resultaten endlich zusammenfließende Strömungen beherrschen in der Gegenwart unsere ursprünglich auf ganz anderen Fundamenten gegründeten Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach möglichster Erweiterung der Bildung, andererseits der Trieb nach Verminderung und Abschwächung derselben. Dem ersten Triebe gemäß soll die Bildung in immer weitere Kreise getragen werden, im Sinne der anderen Tendenz wird der Bildung zugemuthet, ihre höchsten selbstherrlichen Ansprüche aufzugeben und sich dienend einer anderen Lebensform, nämlich der des Staates unterzuordnen. Im Hinblick auf diese verhängnißvollen Tendenzen der Erweiterung und der Verminderung wäre hoffnungslos zu verzweifeln, wenn es nicht irgendwann einmal möglich ist, zweien entgegengesetzten, wahrhaft deutschen und überhaupt zukunftsreichen Tendenzen zum Siege zu verhelfen, das heißt dem Triebe nach Verengerung und Concentration der Bildung, als dem Gegenstück einer möglichst großen Erweiterung, und dem Triebe nach Stärkung und Selbstgenugsamkeit der Bildung, als dem Gegenstück ihrer Verminderung. Daß wir aber an die Möglichkeit eines Sieges glauben, dazu berechtigt uns die Erkenntniß, daß jene beiden Tendenzen der Erweiterung und Verminderung ebenso den ewig gleichen Absichten der Natur entgegenlaufen als eine Concentration der Bildung auf Wenige ein nothwendiges Gesetz derselben Natur, überhaupt eine Wahrheit ist, während es jenen zwei anderen Trieben nur gelingen möchte, eine erlogene Cultur zu begründen.
Erster Vortrag.
(Gehalten am 16. Januar 1872.)
Meine verehrten Zuhörer,
das Thema, über das Sie gesonnen sind, mit mir nachzudenken, ist so ernsthaft und wichtig und in einem gewissen Sinne so beunruhigend, daß auch ich, gleich Ihnen, zu jedem Beliebigen gehen würde, der über dasselbe etwas zu lehren verspräche, sollte derselbe auch noch so jung sein, sollte es an sich sogar recht unwahrscheinlich dünken, daß er von sich aus, aus eignen Kräften, etwas Zureichendes und einer solchen Aufgabe Entsprechendes leisten werde. Es wäre doch noch möglich, daß er etwas Rechtes über die beunruhigende Frage nach der Zukunft unserer Bildungsanstalten gehört habe, das er Ihnen nun wieder erzählen wollte, es wäre möglich, daß er bedeutende Lehrmeister gehabt habe, denen es schon mehr geziemen möchte, auf die Zukunft zu prophezeien und zwar, ähnlich wie die römischen haruspices, aus den Eingeweiden der Gegenwart heraus.
In der That haben Sie etwas derartiges zu gewärtigen. Ich bin einmal durch seltsame, im Grunde recht harmlose Umstände Ohrenzeuge eines Gesprächs gewesen, welches merkwürdige Männer über eben jenes Thema führten, und habe die Hauptpunkte ihrer Betrachtungen und die ganze Art und Weise, wie sie diese Frage anfaßten, viel zu fest meinem Gedächtniß eingeprägt, um nicht selbst immer, wenn ich über ähnliche Dinge nachdenke, in dasselbe Geleise zu gerathen: nur daß ich mitunter den zuversichtlichen Muth nicht habe, den jene Männer sowohl im kühnen Aussprechen verbotener Wahrheiten als in dem noch kühneren Aufbau ihrer eignen Hoffnungen damals vor meinen Ohren und zu meinem Erstaunen bewährten. Um so mehr schien es nur nützlich, ein solches Gespräch endlich einmal schriftlich zu fixiren, um auch Andere noch zum Urtheil über so auffallende Ansichten und Aussprüche aufzureizen: – und hierzu glaubte ich aus besonderen Gründen gerade die Gelegenheit dieser öffentlichen Vorträge benutzen zu dürfen.
Ich bin mir nämlich wohl bewußt, an welchem Orte ich jenes Gespräch einem allgemeinen Nachdenken und Überlegen anempfehle, in einer Stadt nämlich, die in einem unverhältnißmäßig großartigen Sinne die Bildung und Erziehung ihrer Bürger zu fördern sucht, in einem Maßstabe, der für größere Staaten geradezu etwas Beschämendes haben muß: so daß ich hier gewiß auch mit dieser Vermuthung nicht fehlgreife, daß dort, wo man um so viel mehr für diese Dinge thut, man auch über sie um so viel mehr denkt. Gerade nur solchen Zuhörern aber werde ich, bei der Wiedererzählung jenes Gesprächs, völlig verständlich werden können – solchen, die sofort errathen, was nur angedeutet werden konnte, ergänzen, was verschwiegen werden mußte, die überhaupt nur erinnert, nicht belehrt zu werden brauchen.
Nun vernehmen Sie, meine geehrten Zuhörer, mein harmloses Erlebniß und das minder harmlose Gespräch jener bisher nicht genannten Männer.
Wir versetzen uns mitten in den Zustand eines jungen Studenten hinein, das heißt in einen Zustand, der, in der rastlosen und heftigen Bewegung der Gegenwart, geradezu etwas Unglaubwürdiges ist, und den man erlebt haben muß, um ein solches unbekümmertes Sich-Wiegen, ein solches dem Augenblick abgerungenes gleichsam zeitloses Behagen überhaupt für möglich zu halten. In diesem Zustande verlebte ich, zugleich mit einem gleichalterigen Freunde, ein Jahr in der Universitätsstadt Bonn am Rhein: ein Jahr, welches durch die Abwesenheit aller Pläne und Zwecke, losgelöst von allen Zukunftsabsichten, für meine jetzige Empfindung fast etwas Traumartiges an sich trägt, während dasselbe zu beiden Seiten, vorher und nachher, durch Zeiträume des Wachseins eingerahmt ist. Wir Beide blieben ungestört, ob wir gleich mit einer zahlreichen und im Grunde anders erregten und strebenden Verbindung zusammen lebten; mitunter hatten wir Mühe, die etwas zu lebhaften Zumuthungen dieser unserer Altersgenossen zu befriedigen oder zurückzuweisen. Aber selbst dieses Spiel mit einem widerstrebenden Elemente hat jetzt, wenn ich es mir vor die Seele stelle, immer noch einen ähnlichen Charakter, wie mancherlei Hemmungen, die ein Jeder im Traum erlebt, etwa wenn man glaubt fliegen zu können, aber durch unerklärliche Hindernisse sich zurückgezogen fühlt.
Ich hatte mit meinem Freunde zahlreiche Erinnerungen aus der früheren Periode des Wachseins, aus unserer Gymnasiastenzeit, gemein, und eine derselben muß ich näher bezeichnen, weil sie den Übergang zu meinem harmlosen Erlebniß bildet. Mit jenem Freunde zusammen hatte ich bei einer früheren Rheinreise, die im Spätsommer unternommen worden war, einen Plan fast zu gleicher Zeit und an gleichem Orte – und doch Jeder für sich – ausgedacht, so daß wir uns gerade durch dies ungewöhnliche Zusammentreffen gezwungen fühlten, ihn durchzuführen. Wir beschlossen damals eine kleine Vereinigung von wenig Kameraden zu stiften, mit der Absicht, für unsere produktiven Neigungen in Kunst und Litteratur eine feste und verpflichtende Organisation zu finden: das heißt schlichter ausgedrückt: es mußte sich ein Jeder von uns verbindlich machen, von Monat zu Monat ein eignes Produkt, sei es eine Dichtung oder eine Abhandlung oder ein architektonischer Entwurf oder eine musikalische Produktion, einzusenden, über welches Produkt nun ein Jeder der Anderen mit der unbegrenzten Offenheit freundschaftlicher Kritik zu richten befugt war. So glaubten wir unsere Bildungstriebe durch gegenseitiges Überwachen ebenso zu reizen, als im Zaume zu halten: und wirklich war auch der Erfolg derart, daß wir immer eine dankbare, ja feierliche Empfindung für jenen Moment und jenen Ort zurückbehalten mutzten, die uns jenen Einfall eingegeben hatten.
Für diese Empfindung fand sich bald die rechte Form, indem wir uns gegenseitig verpflichteten, wenn es irgend möglich sei, an jenem Tage, in jedem Jahre die einsame Stätte bei Rolandseck aufzusuchen, an der wir damals, im Spätsommer, in Gedanken neben einander sitzend, uns plötzlich zu dem gleichen Entschlüsse begeistert fühlten. Genau genommen, ist diese Verpflichtung doch nicht streng genug eingehalten worden; aber gerade deshalb, weil wir manche Unterlassungssünde auf dem Gewissen hatten, wurde von uns Beiden in jenem Bonner Studentenjahr, als wir endlich wieder dauernd am Rheine wohnten, mit größter Festigkeit beschlossen, diesmal nicht nur unserem Gesetz, sondern auch unserem Gefühl, unserer dankbaren Erregung zu genügen und am rechten Tage die Stätte bei Rolandseck in weihevoller Weise heimzusuchen.
Es wurde uns nicht leicht gemacht: denn gerade an diesem Tage machte uns die zahlreiche und muntere Studentenverbindung, die uns am Fliegen hinderte, recht zu schaffen und zog mit allen Kräften an allen Fäden, die uns niederhalten konnten. Unsere Verbindung hatte für diesen Zeitpunkt eine große festliche Ausfahrt nach Rolandseck beschlossen, um am Schlüsse des Sommer» Halbjahrs sich noch einmal ihrer sämmtlichen Mitglieder zu versichern und sie mit den besten Abschiedserinnerungen nachher in die Heimath zu schicken.
Es war einer jener vollkommnen Tage, wie sie, in unserem Klima wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde im Einklang ruhig neben einander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme, Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen in dem buntesten phantastischen Aufzuge, an dem sich, bei der Trübsinnigkeit aller sonstigen Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfahnen auf seinem Verdecke auf. Von beiden Ufern des Rheines ertönte von Zeit zu Zeit ein Signalschuß, durch den, nach unserer Anordnung, ebenso die Rheinanwohner als vor Allem unser Wirth in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun nichts von dem lärmenden Einzüge, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen Ort hindurch, ebenso wenig von den nicht für Jedermann verständlichen Freuden und Scherzen, die wir uns unter einander gestatteten; ich übergehe ein allmählich bewegter, ja wild werdendes Festessen und eine unglaubliche musikalische Produktion, an der sich, bald durch Einzelvorträge, bald durch Gesammtleistungen die ganze Tafelgesellschaft betheiligen mußte, und die ich, als musikalischer Berather unserer Verbindung, früher einzustudieren und jetzt zu dirigiren hatte. Während des etwas wüsten und immer schneller werdenden Finale hatte ich bereits meinem Freunde einen Wink gegeben, und unmittelbar nach dem geheulähnlichen Schlußaccord verschwanden wir Beide durch die Thüre: hinter uns klappte gewissermaßen ein brüllender Abgrund zu.
Plötzlich erquickende, athemlose Naturstille. Die Schatten lagen schon etwas breiter, die Sonne glühte unbeweglich, aber schon niedergesenkt, und von den grünlichen glitzernden Wellen des Rheines her wehte ein leichter Hauch über unsere heißen Gesichter. Unsere Erinnerungsweihe verpflichtete uns nur erst für die späteren Stunden des Tags, und daher hatten wir daran gedacht, die letzten hellen Momente des Tags mit einer unserer einsamen Liebhabereien auszufüllen, an denen wir damals so reich waren.
Wir pflegten damals mit Passion Pistolen zu schießen, und einem Jeden von uns ist diese Technik in einer späteren militärischen Laufbahn von großem Nutzen gewesen. Der Diener unserer Verbindung kannte unseren etwas entfernt und hochgelegenen Schießplatz und hatte uns dorthin unsere Pistolen vorangetragen. Dieser Platz befand sich am oberen Saume des Waldes, der die niedrigen Höhenzüge hinter Rolandseck bedeckt, auf einem kleinen unebnen Plateau, und zwar ganz in der Nähe unserer Stiftungs- und Weihestätte. Am bewaldeten Abhang, seitwärts von unserem Schießplatz, gab es eine kleine baumfreie, zum Niedersitzen einladende Stelle, die einen Durchblick über Bäume und Gestrüpp hinweg nach dem Rheine zu gestattete, so daß gerade die schön gewundenen Linien des Siebengebirgs und vor Allem der Drachenfels den Horizont gegen die Baumgruppen abgrenzten, während den Mittelpunkt dieses gerundeten Ausschnitts der glitzernde Rhein selbst, die Insel Nonnenwörth im Arme haltend, bildete. Dies war unsere, durch gemeinsame Träume und Pläne geweihte Stätte, zu der wir uns in späterer Abendstunde zurückziehn wollten, ja sogar mußten, falls wir im Sinne unseres Gesetzes den Tag beschließen mochten.
Seitwärts davon, auf jenem kleinen unebenen Plateau, stand unweit ein mächtiger Stumpf einer Eiche, einsam sich von der sonst baum- und strauchlosen Fläche und den niedrigen wellenartigen Erhöhungen abhebend. An diesem Stumpf hatten wir einst, mit vereinter Kraft, ein deutliches Pentagramm eingeschnitten, das in Wetter und Sturm der letzten Jahre noch mehr aufgeborsten war und eine willkommne Zielscheibe für unsere Pistolenkünste darbot. Es war bereits eine spätere Nachmittagsstunde, als wir auf unserem Schießplatz anlangten, und von unserem Eichenstumpf aus lehnte sich ein breiter und zugespitzter Schatten über die dürftige Haide hin. Es war sehr still: durch die höheren Bäume zu unseren Füßen waren wir verhindert, nach dem Rhein zu in die Tiefe zu sehen. Um so erschütternder klang in diese Einsamkeit bald der widerhallende scharfe Laut unserer Pistolenschüsse – und eben hatte ich die zweite Kugel nach dem Pentagramm ausgeschickt, als ich mich heftig am Arme gefaßt fühlte und zugleich auch meinen Freund in einer ähnlichen Weise im Laden unterbrochen sah.