Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Es sind Jahr­hun­der­te ver­gan­gen, in de­nen es sich von selbst Ver­stand, daß man un­ter ei­nem Ge­bil­de­ten den Ge­lehr­ten und nur den Ge­lehr­ten be­griff; von den Er­fah­run­gen un­se­rer Zeit aus wür­de man sich schwer­lich zu ei­ner so nai­ven Gleich­stel­lung ver­an­laßt füh­len. Denn jetzt ist die Aus­beu­tung ei­nes Men­schen zu Guns­ten der Wis­sen­schaf­ten die ohne An­stand über­all an­ge­nom­me­ne Voraus­set­zung: wer fragt sich noch, was eine Wis­sen­schaft werth sein mag, die so vam­pyr­ar­tig ihre Ge­schöp­fe ver­braucht? Die Ar­beits­t­hei­lung in der Wis­sen­schaft strebt prak­tisch nach dem glei­chen Zie­le, nach dem hier und da die Re­li­gio­nen mit Be­wußt­sein stre­ben: nach ei­ner Ver­rin­ge­rung der Bil­dung, ja nach ei­ner Ver­nich­tung der­sel­ben. Was aber für ei­ni­ge Re­li­gio­nen, ge­mäß ih­rer Ent­ste­hung und Ge­schich­te, ein durch­aus be­rech­tig­tes Ver­lan­gen ist, dürf­te für die Wis­sen­schaft ir­gend­wann ein­mal eine Selbst­ver­bren­nung her­bei­füh­ren. Jetzt sind wir be­reits auf dem Punk­te, daß in al­len all­ge­mei­nen Fra­gen ernst­haf­ter Na­tur, vor Al­lem in den höchs­ten phi­lo­so­phi­schen Pro­ble­men der wis­sen­schaft­li­che Mensch als sol­cher gar nicht mehr zu Wor­te kommt: wo­hin­ge­gen jene kleb­ri­ge ver­bin­den­de Schicht, die sich jetzt zwi­schen die Wis­sen­schaf­ten ge­legt hat, die Jour­na­lis­tik, hier ihre Auf­ga­be zu er­fül­len glaubt und sie nun ih­rem We­sen ge­mäß aus­führt, das heißt wie der Name sagt, als eine Ta­ge­löh­ne­rei.

In der Jour­na­lis­tik näm­lich flie­ßen die bei­den Rich­tun­gen zu­sam­men: Er­wei­te­rung und Ver­min­de­rung der Bil­dung rei­chen sich hier die Hand; das Jour­nal tritt ge­ra­de­zu an die Stel­le der Bil­dung, und wer, auch als Ge­lehr­ter, jetzt noch Bil­dungs­an­sprü­che macht, pflegt sich an jene kleb­ri­ge Ver­mitt­lungs­schicht an­zu­leh­nen, die zwi­schen al­len Le­bens­for­men, al­len Stän­den, al­len Küns­ten, al­len Wis­sen­schaf­ten die Fu­gen ver­kit­tet und die so fest und zu­ver­läs­sig ist wie eben Jour­nal­pa­pier zu sein pflegt. Im Jour­nal cul­mi­nirt die ei­gent­hüm­li­che Bil­dungs­ab­sicht der Ge­gen­wart: wie eben­so der Jour­na­list, der Die­ner des Au­gen­blicks, an die Stel­le des großen Ge­ni­us, des Füh­rers für alle Zei­ten, des Er­lö­sers vom Au­gen­blick, ge­tre­ten ist. Nun sa­gen Sie mir selbst, mein aus­ge­zeich­ne­ter Meis­ter, was ich mir für Hoff­nun­gen ma­chen soll­te, im Kamp­fe ge­gen eine über­all er­reich­te Ver­keh­rung al­ler ei­gent­li­chen Bil­dungs­be­stre­bun­gen, mit wel­chem Mu­the ich, als ein­zel­ner Leh­rer, auf­tre­ten dürf­te, wenn ich doch weiß, wie über jede eben ge­streu­te Saat wah­rer Bil­dung so­fort scho­nungs­los die zer­mal­men­de Wal­ze die­ser Pseu­do-Bil­dung hin­weg­gehn wür­de? Den­ken Sie sich, wie nutz­los jetzt die an­ge­streng­tes­te Ar­beit des Leh­rers sein muß, der etwa einen Schü­ler in die un­end­lich fer­ne und schwer zu er­grei­fen­de Welt des Hel­le­ni­schen, als in die ei­gent­li­che Bil­dungs­hei­mat zu­rück­füh­ren möch­te: wenn doch der­sel­be Schü­ler in der nächs­ten Stun­de nach ei­ner Zei­tung oder nach ei­nem Zeitroman oder nach ei­nem je­ner ge­bil­de­ten Bü­cher grei­fen wird, de­ren Sti­lis­tik schon das ekel­haf­te Wap­pen der jet­zi­gen Bil­dungs­bar­ba­rei an sich trägt.« – –

»Nun halt ein­mal still!« rief hier der Phi­lo­soph mit star­ker und mit­lei­di­ger Stim­me da­zwi­schen, »ich be­grei­fe dich jetzt bes­ser und hät­te dir vor­her kein so bö­ses Wort sa­gen sol­len. Du hast in Al­lem Recht, nur nicht in dei­ner Muth­lo­sig­keit. Ich will dir jetzt Et­was zu dei­nem Tros­te sa­gen.«

Zwei­ter Vor­trag.

(Ge­hal­ten am 6. Fe­bru­ar 1872.)

Mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer! Die­je­ni­gen un­ter Ih­nen, wel­che ich erst von die­sem Au­gen­bli­cke an als mei­ne Zu­hö­rer be­grü­ßen darf, und die von mei­nem vor drei Wo­chen ge­hal­te­nen Vor­tra­ge viel­leicht nur ge­rücht­wei­se ver­nom­men ha­ben, müs­sen es sich jetzt ge­fal­len las­sen, ohne wei­te­re Vor­be­rei­tun­gen mit­ten in ein erns­tes Zwie­ge­spräch ein­ge­führt zu wer­den, das ich da­mals wie­der­zu­er­zäh­len an­ge­fan­gen habe und an des­sen letz­te Wen­dun­gen ich heu­te erst er­in­nern wer­de. Der jün­ge­re Beglei­ter des Phi­lo­so­phen hat­te so­eben in ehr­lich-ver­trau­li­cher Wei­se sich vor sei­nem be­deu­ten­den Lehr­meis­ter ent­schul­di­gen müs­sen, wes­halb er un­muthig aus sei­ner bis­he­ri­gen Leh­rer­stel­lung aus­ge­schie­den sei und in ei­ner selbst­ge­wähl­ten Ein­sam­keit un­ge­trös­tet sei­ne Tage ver­brin­ge. Am we­nigs­ten sei ein hoch­müthi­ger Dün­kel die Ur­sa­che ei­nes sol­chen Ent­schlus­ses ge­we­sen.

»Zu­viel,« sag­te der recht­schaff­ne Jün­ger, »habe ich von Ih­nen, mein Leh­rer, ge­hört, zu lan­ge bin ich in Ih­rer Nähe ge­we­sen, um mich an un­ser bis­he­ri­ge? Bil­dungs- und Er­zie­hungs­we­sen gläu­big hin­ge­ben zu kön­nen. Ich emp­fin­de zu deut­lich jene heil­lo­sen Irr­t­hü­mer und Miß­stän­de, auf die Sie mit dem Fin­ger zu zei­gen pfleg­ten: und doch mer­ke ich we­nig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tap­fe­rem Kamp­fe, Er­fol­ge ha­ben wür­de, mit der ich die Boll­wer­ke die­ser an­geb­li­chen Bil­dung zer­trüm­mern könn­te. Eine all­ge­mei­ne Muth­lo­sig­keit über­kam mich: die Flucht in die Ein­sam­keit war nicht Hoch­muth, nicht Über­he­bung.« Da­rauf hat­te er, zu sei­ner Ent­schul­di­gung, die all­ge­mei­ne Si­gna­tur die­ses Bil­dungs­we­sens so be­schrie­ben, daß der Phi­lo­soph nicht um­hin konn­te, mit mit­lei­di­ger Stim­me ihm in’s Wort zu fal­len und ihn so zu be­ru­hi­gen.

»Nun, halt ein­mal still, mein ar­mer Freund«, sag­te er; »ich be­grei­fe dich jetzt bes­ser und hät­te dir vor­hin kein so har­tes Wort sa­gen sol­len. Du hast in Al­lem Recht, nur nicht in dei­ner Muth­lo­sig­keit. Ich will dir jetzt Et­was zu dei­nem Tros­te sa­gen. Wie lan­ge glaubst du wohl, daß das auf dir so schwer las­ten­de Bil­dungs­ge­bah­ren in der Schu­le uns­rer Ge­gen­wart noch dau­ern wer­de? Ich will dir mei­nen Glau­ben dar­über nicht vor­ent­hal­ten: sei­ne Zeit ist vor­über, sei­ne Tage sind ge­zählt. Der Ers­te, der es wa­gen wird, auf die­sem Ge­bie­te ganz ehr­lich zu sein, wird den Wie­der­hall sei­ner Ehr­lich­keit aus tau­send muthi­gen See­len zu hö­ren be­kom­men. Denn im Grun­de ist un­ter den ed­ler be­gab­ten und wär­mer füh­len­den Men­schen die­ser Ge­gen­wart ein still­schwei­gen­des Ein­ver­ständ­niß: Je­der von ih­nen weiß, was er von den Bil­dungs­zu­stän­den der Schu­le zu lei­den hat­te. Je­der möch­te sei­ne Nach­kom­men min­des­tens von dem glei­chen Dru­cke er­lö­sen, wenn er sich auch selbst preis­ge­ben müß­te. Daß aber trotz­dem es nir­gends zur vol­len Ehr­lich­keit kommt, hat sei­ne trau­ri­ge Ur­sa­che in der päd­ago­gi­schen Geis­te­s­ar­muth un­se­rer Zeit; es fehlt ge­ra­de hier an wirk­lich er­fin­de­ri­schen Be­ga­bun­gen, es feh­len hier die wahr­haft prak­ti­schen Men­schen, das heißt die­je­ni­gen, wel­che gute und neue Ein­fäl­le ha­ben und wel­che wis­sen, daß die rech­te Ge­nia­li­tät und die rech­te Pra­xis sich nothwen­dig im glei­chen In­di­vi­du­um be­geg­nen müs­sen: wäh­rend den nüch­ter­nen Prak­ti­kern es ge­ra­de an Ein­fäl­len und des­halb wie­der an der rech­ten Pra­xis fehlt.

Man ma­che sich nur ein­mal mit der päd­ago­gi­schen Lit­te­ra­tur die­ser Ge­gen­wart ver­traut; an Dem ist nichts mehr zu ver­der­ben, der bei die­sem Stu­di­um nicht über die al­ler­höchs­te Geis­te­s­ar­muth und über einen wahr­haft täp­pi­schen Cir­kel­tanz erschrickt. Hier muß un­se­re Phi­lo­so­phie nicht mit dem Er­stau­nen, son­dern mit dem Er­schre­cken be­gin­nen: wer es zu ihm nicht zu brin­gen ver­mag, ist ge­be­ten, von den päd­ago­gi­schen Din­gen sei­ne Hän­de zu las­sen. Das Um­ge­kehr­te war frei­lich bis­her die Re­gel; Die­je­ni­gen, wel­che er­schra­ken, lie­fen wie du, mein ar­mer Freund, scheu da­von, und die nüch­ter­nen Uner­schrock­nen leg­ten ihre brei­ten Hän­de recht breit auf die al­lerz­ar­tes­te Tech­nik, die es in ei­ner Kunst ge­ben kann, auf die Tech­nik der Bil­dung. Das wird aber nicht lan­ge mehr mög­lich sein; es mag nur ein­mal der ehr­li­che Mann kom­men, der jene gu­ten und neu­en Ein­fäl­le hat und zu de­ren Ver­wirk­li­chung mit al­lem Vor­han­de­nen zu bre­chen wagt, er mag nur ein­mal an ei­nem groß­ar­ti­gen Bei­spiel es vor­ma­chen, was jene bis­her al­lein thä­ti­gen brei­ten Hän­de nicht nach­zu­ma­chen ver­mö­gen – dann wird man we­nigs­tens über­all an­fan­gen zu un­ter­schei­den, dann wird man we­nigs­tens den Ge­gen­satz spü­ren und über die Ur­sa­chen die­ses Ge­gen­sat­zes nach­den­ken kön­nen, wäh­rend jetzt noch so Vie­le in al­ler Gut­müthig­keit glau­ben, daß die brei­ten Hän­de zum päd­ago­gi­schen Hand­werk ge­hö­ren.«

»Ich möch­te, mein ge­ehr­ter Leh­rer,« sag­te hier der Beglei­ter, »daß Sie mir an ei­nem ein­zel­nen Bei­spie­le selbst zu je­ner Hoff­nung ver­hül­fen, die aus Ih­nen so muthig zu mir re­det. Wir ken­nen Bei­de das Gym­na­si­um; glau­ben Sie zum Bei­spiel auch in Hin­sicht auf die­ses In­sti­tut, daß hier mit Ehr­lich­keit und gu­ten, neu­en Ein­fäl­len die al­ten zä­hen Ge­wohn­hei­ten auf­ge­löst wer­den könn­ten? Hier schützt näm­lich, scheint es mir, nicht eine har­te Mau­er ge­gen die Sturm­bö­cke ei­nes An­griffs, wohl aber die fa­tals­te Zä­hig­keit und Schlüpf­rig­keit al­ler Prin­ci­pi­en. Der An­grei­fen­de hat nicht einen sicht­ba­ren und fes­ten Geg­ner zu zer­mal­men: die­ser Geg­ner ist viel­mehr mas­kirt, ver­mag sich in hun­dert Ge­stal­ten zu ver­wan­deln und in ei­ner der­sel­ben dem pa­cken­den Grif­fe zu ent­glei­ten, um im­mer von Neu­em wie­der durch fei­ges Nach­ge­ben und zä­hes Zu­rück­pral­len den An­grei­fen­den zu ver­wir­ren. Gera­de das Gym­na­si­um hat mich zu ei­ner muth­lo­sen Flucht in die Ein­sam­keit ge­drängt, ge­ra­de weil ich füh­le, daß, wenn hier der Kampf zum Sie­ge führt, alle an­de­ren In­sti­tu­tio­nen der Bil­dung nach­ge­ben müs­sen, und daß, wer hier ver­za­gen muß, über­haupt in den erns­tes­ten päd­ago­gi­schen Din­gen ver­za­gen muß. Also, mein Meis­ter, be­leh­ren Sie mich über das Gym­na­si­um: was dür­fen wir für eine Ver­nich­tung des Gym­na­si­ums, was für eine Neu­ge­burt des­sel­ben hof­fen?«

 

»Auch ich,« sag­te der Phi­lo­soph, »den­ke von der Be­deu­tung des Gy­ma­si­ums so groß als du: an dem Bil­dungs­zie­le, das durch das Gym­na­si­um er­strebt wird, müs­sen sich alle an­de­ren In­sti­tu­te mes­sen, an den Ver­ir­run­gen sei­ner Ten­denz lei­den sie mit, durch die Rei­ni­gung und Er­neue­rung des­sel­ben wer­den sie sich gleich­falls rei­ni­gen und er­neu­ern. Eine sol­che Be­deu­tung als be­we­gen­der Mit­tel­punkt kann jetzt selbst die Uni­ver­si­tät nicht mehr für sich in An­spruch neh­men, die, bei ih­rer jet­zi­gen For­ma­ti­on, we­nigs­tens nach ei­ner wich­ti­gen Sei­te hin nur als Aus­bau der Gym­na­si­al­ten­denz gel­ten darf; wie ich dir dies spä­ter deut­lich ma­chen will. Für jetzt be­trach­ten wir Das mit ein­an­der, was in mir den hoff­nungs­vol­len Ge­gen­satz er­zeugt, daß ent­we­der der bis­her ge­pfleg­te, so bunt­ge­färb­te und schwer zu er­ha­schen­de Geist des Gym­na­si­ums völ­lig in der Luft zer­stie­ben wird oder daß er von Grund aus ge­rei­nigt und er­neu­ert wer­den muß: und da­mit ich dich nicht mit all­ge­mei­nen Sät­zen er­schre­cke, den­ken wir zu­erst an eine je­ner Gym­na­sia­ler­fah­run­gen, die wir Alle ge­macht ha­ben und an de­nen wir Alle lei­den. Was ist jetzt, mit stren­gem Auge be­trach­tet, der deut­sche Un­ter­richt auf dem Gym­na­si­um?

Ich will dir zu­erst sa­gen, was er sein soll­te. Von Na­tur spricht und schreibt jetzt je­der Mensch so schlecht und ge­mein sei­ne deut­sche Spra­che, als es eben in ei­nem Zeit­al­ter des Zei­tungs­deut­sches mög­lich ist: des­halb müß­te der her­an­wach­sen­de ed­ler be­gab­te Jüng­ling mit Ge­walt un­ter die Glas­glo­cke des gu­ten Ge­schmacks und der stren­gen sprach­li­chen Zucht ge­setzt wer­den: ist dies nicht mög­lich, nun so zie­he ich nächs­tens wie­der vor La­tei­nisch zu spre­chen, weil ich mich ei­ner so ver­hunz­ten und ge­schän­de­ten Spra­che schä­me.

Was für eine Auf­ga­be hät­te eine hö­he­re Bil­dungs­an­stalt in die­sem Punk­te, wenn nicht ge­ra­de die, auk­to­ri­ta­tiv und mit wür­di­ger Stren­ge die sprach­lich ver­wil­der­ten Jüng­lin­ge zu­recht zu lei­ten und ih­nen zu­zu­ru­fen: »Nehmt eure Spra­che ernst! Wer es hier nicht zu dem Ge­fühl ei­ner hei­li­gen Pf­licht bringt, in dem ist auch nicht ein­mal der Keim für eine hö­he­re Bil­dung vor­han­den. Hier kann sich zei­gen, wie hoch oder wie ge­ring ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr ver­wandt mit der Kunst seid, hier in der Be­hand­lung eu­rer Mut­ter­spra­che. Er­langt ihr nicht so viel von euch, vor ge­wis­sen Wor­ten und Wen­dun­gen un­se­rer jour­na­lis­ti­schen Ge­wöh­nung einen phy­si­schen Ekel zu emp­fin­den, so gebt es nur auf, nach Bil­dung zu stre­ben: denn hier, in der al­ler­nächs­ten Nähe, in je­dem Au­gen­bli­cke eu­res Spre­chens und Schrei­bens habt ihr einen Prüf­stein, wie schwer, wie un­ge­heu­er jetzt die Auf­ga­be des Ge­bil­de­ten ist und wie un­wahr­schein­lich es sein muß, daß Vie­le von euch zur rech­ten Bil­dung kom­men.«

Im Sin­ne ei­ner sol­chen An­re­de hät­te der deut­sche Leh­rer am Gym­na­si­um die Ver­pflich­tung, auf tau­sen­de von Ein­zel­hei­ten sei­ne Schü­ler auf­merk­sam zu ma­chen und ih­nen mit der gan­zen Si­cher­heit ei­nes gu­ten Ge­schmacks den Ge­brauch von sol­chen Wor­ten ge­ra­de­zu zu ver­bie­ten, wie zum Bei­spiel von »be­an­spru­chen«, »ver­ein­nah­men«, »ei­ner Sa­che Rech­nung tra­gen«, »die Ini­tia­ti­ve er­grei­fen«, »selbst­ver­ständ­lich« – und so wei­ter cum ta­edio in in­fi­ni­tum. Der­sel­be Leh­rer wür­de fer­ner an un­se­ren klas­si­schen Au­to­ren von Zei­le zu Zei­le zei­gen müs­sen, wie sorg­sam und streng jede Wen­dung zu neh­men ist, wenn man das rech­te Kunst­ge­fühl im Her­zen und die vol­le Ver­ständ­lich­keit al­les Des­sen, was man schreibt, vor Au­gen hat. Er wird im­mer und im­mer wie­der sei­ne Schü­ler nö­thi­gen, den­sel­ben Ge­dan­ken noch ein­mal und noch bes­ser aus­zu­drücken, und wird kei­ne Gren­ze sei­ner Thä­tig­keit fin­den, be­vor nicht die ge­rin­ger Be­gab­ten in einen hei­li­gen Schreck vor der Spra­che, die Be­gab­te­ren in eine edle Be­geis­te­rung für die­sel­be ge­rat­hen sind.

Nun, hier ist eine Auf­ga­be für die so­ge­nann­te for­mel­le Bil­dung und eine der al­ler­wert­h­volls­ten: und was fin­den wir nun am Gym­na­si­um, an der Stät­te der so­ge­nann­ten for­mel­len Bil­dung? – Wer Das, was er hier ge­fun­den hat, un­ter die rich­ti­gen Ru­bri­ken zu brin­gen ver­steht, wird wis­sen, was er von dem jet­zi­gen Gym­na­si­um als ei­ner an­geb­li­chen Bil­dungs­an­stalt zu hal­ten hat: er wird näm­lich fin­den, daß das Gym­na­si­um nach sei­ner ur­sprüng­li­chen For­ma­ti­on nicht für die Bil­dung, son­dern nur für die Ge­lehr­sam­keit er­zieht, und fer­ner, daß es neu­er­dings die Wen­dung nimmt, als ob es nicht ein­mal mehr für die Ge­lehr­sam­keit, son­dern für die Jour­na­lis­tik er­ziehn wol­le. Dies ist an der Art, wie der deut­sche Un­ter­richt ert­heilt wird, wie an ei­nem recht zu­ver­läs­si­gen Bei­spie­le zu zei­gen.

An Stel­le je­ner rein prak­ti­schen In­struk­ti­on, durch die der Leh­rer sei­ne Schü­ler an eine stren­ge sprach­li­che Selbs­t­er­zie­hung ge­wöh­nen soll­te, fin­den wir über­all die An­sät­ze zu ei­ner ge­lehrt-his­to­ri­schen Be­hand­lung der Mut­ter­spra­che: das heißt, man ver­fährt mit ihr, als ob sie eine tod­te Spra­che sei, und als ob es für die Ge­gen­wart und Zu­kunft die­ser Spra­che kei­ne Ver­pflich­tun­gen gäbe. Die his­to­ri­sche Ma­nier ist un­se­rer Zeit bis zu dem Gra­de ge­läu­fig ge­wor­den, daß auch der le­ben­di­ge Leib der Spra­che ih­ren ana­to­mi­schen Stu­di­en preis­ge­ge­ben wird: hier aber be­ginnt ge­ra­de die Bil­dung, daß man ver­steht das Le­ben­di­ge als le­ben­dig zu be­han­deln, hier be­ginnt ge­ra­de die Auf­ga­be des Bil­dungs­leh­rers, das über­all her sich auf­drän­gen­de »his­to­ri­sche In­ter­es­se« dort zu un­ter­drücken, wo vor al­len Din­gen rich­tig ge­han­delt, nicht er­kannt wer­den muß. Un­se­re Mut­ter­spra­che aber ist ein Ge­biet, auf dem der Schü­ler rich­tig han­deln ler­nen muß: und ganz al­lein nach die­ser prak­ti­schen Sei­te hin ist der deut­sche Un­ter­richt auf un­sern Bil­dungs­an­stal­ten nothwen­dig. Frei­lich scheint die his­to­ri­sche Ma­nier für den Leh­rer be­deu­tend leich­ter und be­que­mer zu sein, eben­falls scheint sie ei­ner weit ge­rin­ge­ren An­la­ge, über­haupt ei­nem nied­ri­ge­ren Flu­ge sei­nes ge­samm­ten Wol­lens und Stre­bens zu ent­spre­chen. Aber die­se sel­be Wahr­neh­mung wer­den wir auf al­len Fel­dern der päd­ago­gi­schen Wirk­lich­keit zu ma­chen ha­ben: das Leich­te­re und Be­que­me­re hüllt sich in den Man­tel prunk­haf­ter An­sprü­che und stol­zer Ti­tel: das ei­gent­lich Prak­ti­sche, das zur Bil­dung ge­hö­ri­ge Han­deln, als das im Grun­de Schwe­re­re, ern­tet die Bli­cke der Miß­gunst und Ge­ring­schät­zung: wes­halb der ehr­li­che Mensch auch die­ses Quid­pro­quo sich und An­de­ren zur Klar­heit brin­gen muß.

Was pflegt nun der deut­sche Leh­rer, au­ßer die­sen ge­lehr­ten­haf­ten An­re­gun­gen zu ei­nem Stu­di­um der Spra­che, sonst noch zu ge­ben? Wie ver­bin­det er den Geist sei­ner Bil­dungs­an­stalt mit dem Geist der we­ni­gen wahr­haft Ge­bil­de­ten, die das deut­sche Volk hat, mit dem Geis­te sei­ner clas­si­schen Dich­ter und Künst­ler? Dies ist ein dunkles und be­denk­li­ches Be­reich, in das man nicht ohne Schre­cken hin­ein­leuch­ten kann: aber auch hier wol­len wir uns nichts ver­heh­len, weil ir­gend­wann ein­mal hier Al­les neu wer­den muß. In dem Gym­na­si­um wird die wi­der­wär­ti­ge Si­gna­tur un­se­rer äs­the­ti­schen Jour­na­lis­tik auf die noch un­ge­form­ten Geis­ter der Jüng­lin­ge ge­prägt: hier wer­den von dem Leh­rer selbst die Kei­me zu dem ro­hen Miß­ver­ste­hen-wol­len un­se­rer Clas­si­ker aus­ge­sä­et, das sich nach­her als äs­the­ti­sche Kri­tik ge­ber­det und nichts als vor­lau­te Bar­ba­rei ist. Hier ler­nen die Schü­ler von un­serm ein­zi­gen Schil­ler mit je­ner kna­ben­haf­ten Über­le­gen­heit zu re­den, hier ge­wöhnt man sie, über die edels­ten und deut­sche­s­ten sei­ner Ent­wür­fe, über den Mar­quis Posa, über Max und Thel­la zu lä­cheln – ein Lä­cheln, über das der deut­sche Ge­ni­us er­grimmt, über das eine bes­se­re Nach­welt er­rö­then wird.

Das letz­te Be­reich, auf dem der deut­sche Leh­rer am Gym­na­si­um thä­tig zu sein pflegt, und das nicht sel­ten als die Spit­ze sei­ner Thä­tig­keit, hier und da so­gar als die Spit­ze der Gym­na­si­al­bil­dung be­trach­tet wird, ist die so­ge­nann­te deut­sche Ar­beit. Da­ran daß auf die­sem Be­rei­che sich fast im­mer die be­gab­tes­ten Schü­ler mit be­son­de­rer Lust tum­meln, soll­te man er­ken­nen, wie ge­fähr­lich-an­rei­zend ge­ra­de die hier ge­stell­te Auf­ga­be sein mag. Die deut­sche Ar­beit ist ein Ap­pell an das In­di­vi­du­um: und je stär­ker be­reits sich ein Schü­ler sei­ner un­ter­schei­den­den Ei­gen­schaf­ten be­wußt ist, um so per­sön­li­cher wird er sei­ne deut­sche Ar­beit ge­stal­ten. Die­ses »per­sön­li­che Ge­stal­ten« wird noch dazu in den meis­ten Gym­na­si­en schon durch die Wahl der The­ma­ta ge­for­dert: wo­für mir im­mer der stärks­te Be­weis ist, daß man schon in den nied­ri­ge­ren Klas­sen das an und für sich un­päd­ago­gi­sche The­ma stellt, durch wel­ches der Schü­ler zu ei­ner Be­schrei­bung sei­nes eig­nen Le­bens, sei­ner eig­nen Ent­wick­lung ver­an­laßt wird. Nun mag man nur ein­mal die Ver­zeich­nis­se sol­cher The­ma­ta an ei­ner grö­ße­ren An­zahl von Gym­na­si­en durch­le­sen, um zu der Über­zeu­gung zu kom­men, daß wahr­schein­lich die al­ler­meis­ten Schü­ler für ihr Le­ben an die­ser zu früh ge­for­der­ten Per­sön­lich­keits­ar­beit, an die­ser un­rei­fen Ge­dan­ken­er­zeu­gung, ohne ihr Ver­schul­den, zu lei­den ha­ben: und wie oft er­scheint das gan­ze spä­te­re lit­te­ra­ri­sche Wir­ken ei­nes Men­schen wie die trau­ri­ge Fol­ge je­ner päd­ago­gi­schen Ur­sün­de wi­der den Geist!

Man muß nur den­ken, was in ei­nem sol­chen Al­ter, bei der Pro­duk­ti­on ei­ner sol­chen Ar­beit, vor sich geht. Es ist die ers­te eig­ne Pro­duk­ti­on; die noch un­ent­wi­ckel­ten Kräf­te schie­ßen zum ers­ten Male zu ei­ner Kry­stal­li­sa­ti­on zu­sam­men; das tau­meln­de Ge­fühl der ge­for­der­ten Selb­stän­dig­keit um­klei­det die­se Er­zeug­nis­se mit ei­nem al­ler­ers­ten, nie wie­der­keh­ren­den be­rücken­den Zau­ber. Alle Ver­we­gen­hei­ten der Na­tur sind aus ih­rer Tie­fe her­vor­ge­ru­fen, alle Ei­tel­kei­ten, durch kei­ne mäch­ti­ge­re Schran­ke zu­rück­ge­hal­ten, dür­fen zum ers­ten Male eine lit­te­ra­ri­sche Form an­neh­men: der jun­ge Mensch emp­fin­det sich von jetzt ab als fer­tig ge­wor­den, als ein zum Spre­chen, zum Mit­spre­chen be­fä­hig­tes, ja auf­ge­for­der­tes We­sen. Jene The­ma­ta näm­lich ver­pflich­ten ihn, sein Vo­tum über Dich­ter­wer­ke ab­zu­ge­ben oder his­to­ri­sche Per­so­nen in die Form ei­ner Cha­rak­ter­schil­de­rung zu­sam­men­zu­drän­gen oder ernst­haf­te ethi­sche Pro­ble­me selb­stän­dig dar­zu­stel­len oder gar, mit um­ge­kehr­ter Leuch­te, sein eig­nes Wer­den sich auf­zu­hel­len und über sich selbst einen kri­ti­schen Be­richt ab­zu­ge­ben: kurz, eine gan­ze Welt der nach­denk­lichs­ten Auf­ga­ben brei­tet sich vor dem über­rasch­ten, bis jetzt fast un­be­wuß­ten jun­gen Men­schen aus und ist sei­ner Ent­schei­dung preis­ge­ge­ben.

Nun ver­ge­gen­wär­ti­gen wir uns, die­sen so ein­fluß­rei­chen ers­ten Ori­gi­nal­leis­tun­gen ge­gen­über, die ge­wöhn­li­che Thä­tig­keit des Leh­rers. Was er­scheint ihm an die­sen Ar­bei­ten als ta­delns­werth? Worauf macht er sei­ne Schü­ler auf­merk­sam? Auf alle Ex­ces­se der Form und des Ge­dan­kens, das heißt auf al­les Das, was in die­sem Al­ter über­haupt cha­rak­te­ris­tisch und in­di­vi­du­ell ist. Das ei­gent­lich Selb­stän­di­ge, das sich, bei die­ser all­zu­früh­zei­ti­gen Er­re­gung, eben nur und ganz al­lein in Un­ge­schick­lich­kei­ten, in Schär­fen und gro­tes­ken Zü­gen äu­ßern kann, also ge­ra­de das In­di­vi­du­um wird ge­rügt und vom Leh­rer zu Guns­ten ei­ner un­o­ri­gi­na­len Durch­schnitts­an­stän­dig­keit ver­wor­fen. Da­ge­gen be­kommt die uni­for­mir­te Mit­tel­mä­ßig­keit das ver­dros­sen ge­spen­de­te Lob: denn ge­ra­de bei ihr pflegt sich der Leh­rer aus gu­ten Grün­den sehr zu lang­wei­len.

Vi­el­leicht giebt es noch Men­schen, die in die­ser gan­zen Ko­mö­die der deut­schen Ar­beit auf dem Gym­na­si­um nicht nur das al­ler­ab­sur­des­te, son­dern auch das all­er­ge­fähr­lichs­te Ele­ment des jet­zi­gen Gym­na­si­ums se­hen. Hier wird Ori­gi­na­li­tät ver­langt, aber die in je­nem Al­ter ein­zig mög­li­che wie­der­um ver­wor­fen: hier wird eine for­ma­le Bil­dung vor­aus­ge­setzt, zu der jetzt über­haupt nur die al­ler­we­nigs­ten Men­schen im rei­fen Al­ter kom­men. Hier wird Je­der ohne Wei­te­res als ein lit­te­ra­tur­fä­hi­ges We­sen be­trach­tet, das über die erns­tes­ten Din­ge und Per­so­nen eig­ne Mei­nun­gen ha­ben dürf­te, wäh­rend eine rech­te Er­zie­hung ge­ra­de nur dar­auf hin mit al­lem Ei­fer stre­ben wird, den lä­cher­li­chen An­spruch auf Selb­stän­dig­keit des Urt­heils zu un­ter­drücken und den jun­gen Men­schen an einen stren­gen Ge­hor­sam un­ter dem Scep­ter des Ge­ni­us zu ge­wöh­nen. Hier wird eine Form der Dar­stel­lung in grö­ße­rem Rah­men vor­aus­ge­setzt, in ei­nem Al­ter, in dem je­der ge­sproch­ne oder ge­schrie­be­ne Satz eine Bar­ba­rei ist. Nun den­ken wir uns noch die Ge­fahr hin­zu, die in der leicht er­reg­ten Selbst­ge­fäl­lig­keit je­ner Jah­re liegt, den­ken wir an die eit­le Emp­fin­dung, mit der der Jüng­ling jetzt zum ers­ten Male sein li­te­ra­ri­sches Bild im Spie­gel sieht – wer möch­te, alle die­se Wir­kun­gen mit ei­nem Blick er­fas­send, dar­an zwei­feln, daß alle Schä­den un­se­rer lit­te­ra­risch-künst­le­ri­schen Öf­fent­lich­keit hier dem her­an­wach­sen­den Ge­schlecht im­mer wie­der von Neu­em auf­ge­prägt wer­den, die has­ti­ge und eit­le Pro­duk­ti­on, die schmäh­li­che Buch­ma­che­rei, die vollen­de­te Stil­lo­sig­keit, das Un­geg­oh­re­ne und Cha­rak­ter­lo­se oder Kläg­lich-Ge­spreiz­te im Aus­druck, der Ver­lust je­des äs­the­ti­schen Ka­n­ons, die Wol­lust der An­ar­chie und des Cha­os, kurz die lit­te­ra­ri­schen Züge uns­rer Jour­na­lis­tik eben­so wie un­se­res Ge­lehr­tent­hums.

 

Da­von wis­sen jetzt die We­nigs­ten et­was, daß viel­leicht un­ter vie­len Tau­sen­den kaum Ei­ner be­rech­tigt ist, sich schrift­stel­le­risch ver­neh­men zu las­sen, und daß alle An­de­ren, die es auf ihre Ge­fahr ver­su­chen, un­ter wahr­haft urt­heils­fä­hi­gen Men­schen als Lohn für je­den ge­druck­ten Satz ein ho­me­ri­sches Ge­läch­ter ver­die­nen – denn es ist wirk­lich ein Schau­spiel für Göt­ter, einen lit­te­ra­ri­schen He­phäst her­an­hin­ken zu sehn, der uns nun gar Et­was cre­den­zen will. Auf die­sem Be­rei­che zu erns­ten und un­er­bitt­li­chen Ge­wöh­nun­gen und An­schau­un­gen zu er­ziehn, das ist eine der höchs­ten Auf­ga­ben der for­mel­len Bil­dung, wäh­rend das all­sei­ti­ge Ge­wäh­ren­las­sen der so­ge­nann­ten »frei­en Per­sön­lich­keit« wohl nichts An­de­res als das Kenn­zei­chen der Bar­ba­rei sein möch­te. Daß aber we­nigs­tens bei dem deut­schen Un­ter­richt nicht an Bil­dung, son­dern an et­was An­de­res ge­dacht wird, näm­lich an die be­sag­te »freie Per­sön­lich­keit«, dürf­te aus dem bis jetzt Be­rich­te­ten wohl deut­lich ge­wor­den sein. Und so lan­ge die deut­schen Gym­na­si­en in der Pfle­ge der deut­schen Ar­beit der ab­scheu­li­chen ge­wis­sen­lo­sen Viel­schrei­be­rei vor­ar­bei­ten, so lan­ge sie die al­ler­nächs­te prak­ti­sche Zucht in Wort und Schrift nicht als hei­li­ge Pf­licht neh­men, so lan­ge sie mit der Mut­ter­spra­che um­ge­hen, als ob sie nur ein nothwen­di­ges Übel oder ein tod­ter Leib sei, rech­ne ich die­se An­stal­ten nicht zu den In­sti­tu­tio­nen wah­rer Bil­dung.

Am we­nigs­ten wohl merkt man, in Hin­sicht der Spra­che, et­was von dem Ein­flus­se des clas­si­schen Vor­bil­des: wes­halb mir schon von die­ser einen Er­wä­gung aus die so­ge­nann­te »clas­si­sche Bil­dung«, die von un­se­rem Gym­na­si­um aus­gehn soll, als et­was sehr Zwei­fel­haf­tes und Miß­ver­ständ­li­ches er­scheint. Denn wie könn­te man, bei ei­nem Bli­cke auf je­nes Vor­bild, den un­ge­heu­ren Ernst über­sehn, mit dem der Grie­che und Rö­mer sei­ne Spra­che von den Jüng­lings­jah­ren an be­trach­tet und be­han­delt, – wie könn­te man sein Vor­bild in ei­nem sol­chen Punk­te ver­ken­nen, wenn an­ders wirk­lich noch die clas­sisch-hel­le­ni­sche und rö­mi­sche Welt als höchs­tes be­leh­ren­des Mus­ter dem Er­zie­hungs­plan un­se­rer Gym­na­si­en vor­schweb­te: wor­an ich we­nigs­tens zweifle. Viel­mehr scheint es sich, bei dem An­spru­che des Gym­na­si­ums, »clas­si­sche Bil­dung« zu pfle­gen, nur um eine ver­le­ge­ne Aus­re­de zu han­deln, wel­che dann an­ge­wen­det wird, wenn von ir­gend ei­ner Sei­te her dem Gym­na­si­um die Be­fä­hi­gung, zur Bil­dung zu er­zie­hen, ab­ge­spro­chen wird. Clas­si­sche Bil­dung! Es klingt so wür­de­voll! Es be­schämt den An­grei­fen­den, es ver­zö­gert den An­griff – denn wer ver­mag gleich die­ser ver­wir­ren­den For­mel bis auf den Grund zu sehn! Und das ist die längst ge­wohn­te Tak­tik des Gym­na­si­ums: je nach der Sei­te, von der aus der Ruf zum Kamp­fe er­schallt, schreibt es auf sein nicht ge­ra­de mit Ehren­zei­chen ge­schmück­tes Schild ei­nes je­ner ver­wir­ren­den Schlag­worts »clas­si­sche Bil­dung« »for­ma­le Bil­dung« oder »Bil­dung zur Wis­sen­schaft«: drei glo­rio­se Din­ges die nur lei­der theils in sich, theils un­ter ein­an­der im Wi­der­spru­che sind und die, wenn sie ge­walt­sam zu­sam­men­ge­bracht wür­den, nur einen Bil­dungs­tra­ge­laph her­vor­brin­gen müß­ten. Denn eine wahr­haf­te »clas­si­sche Bil­dung« ist et­was so un­er­hört Schwe­res und Sel­te­nes und for­dert eine so com­pli­cir­te Be­ga­bung, daß es nur der Nai­ve­tät oder der Un­ver­schämt­heit vor­be­hal­ten ist, die­se als er­reich­ba­res Ziel des Gym­na­si­ums zu ver­spre­chen. Die Be­zeich­nung »for­ma­le Bil­dung« ge­hört un­ter die rohe un­phi­lo­so­phi­sche Phra­seo­lo­gie, de­ren man sich mög­lichst ent­schla­gen muß: denn es giebt kei­ne »ma­te­ri­el­le Bil­dung«. Und wer die »Bil­dung zur Wis­sen­schaft« als das Ziel des Gym­na­si­ums auf­stellt, giebt da­mit die »clas­si­sche Bil­dung« und die so­ge­nann­te »for­ma­le Bil­dung«, über­haupt das gan­ze Bil­dungs­ziel des Gym­na­si­ums preis: denn der wis­sen­schaft­li­che Mensch und der ge­bil­de­te Mensch ge­hö­ren zwei ver­schie­de­nen Sphä­ren an, die hier und da sich in ei­nem In­di­vi­du­um be­rüh­ren, nie aber mit ein­an­der zu­sam­men­fal­len.

Ver­glei­chen wir die­se drei an­geb­li­chen Zie­le des Gym­na­si­ums mit der Wirk­lich­keit, die wir in Be­treff des deut­schen Un­ter­rich­tes be­ob­ach­te­ten, so er­ken­nen wir, was die­se Zie­le zu­meist im ge­wöhn­li­chen Ge­brau­che sind: Ver­le­gen­heits­aus­flüch­te, für den Kampf und Krieg er­dacht und wirk­lich auch zur Be­täu­bung des Geg­ners oft ge­nug ge­eig­net. Denn wir ver­moch­ten am deut­schen Un­ter­richt Nichts zu er­ken­nen, was ir­gend­wie an das clas­sisch-an­ti­ke Vor­bild, an die an­ti­ke Groß­ar­tig­keit der sprach­li­chen Er­zie­hung er­in­ner­te: die »for­ma­le Bil­dung« aber, die durch den be­sag­ten deut­schen Un­ter­richt er­reicht wird, er­wies sich als das ab­so­lu­te Be­lie­ben der »frei­en Per­sön­lich­keit«, das heißt als Bar­ba­rei und An­ar­chie; und was die Heran­bil­dung zur Wis­sen­schaft als Fol­ge je­nes Un­ter­rich­tes be­trifft, so wer­den uns­re Ger­ma­nis­ten mit Bil­lig­keit ab­zu­schät­zen ha­ben, wie we­nig zur Blü­the ih­rer Wis­sen­schaft ge­ra­de jene ge­lehr­ten­haf­ten An­fän­ge auf dem Gym­na­si­um, wie viel die Per­sön­lich­keit ein­zel­ner Uni­ver­si­täts­leh­rer bei­ge­tra­gen hat. – In Sum­ma: das Gym­na­si­um ver­säumt bis jetzt das al­ler­ers­te und nächs­te Ob­jekt, an dem die wah­re Bil­dung be­ginnt, die Mut­ter­spra­che: da­mit aber fehlt ihm der na­tür­li­che frucht­ba­re Bo­den für alle wei­te­ren Bil­dungs­be­mü­hun­gen. Denn erst auf Grund ei­ner stren­gen, künst­le­risch sorg­fäl­ti­gen sprach­li­chen Zucht und Sit­te er­starkt das rich­ti­ge Ge­fühl für die Grö­ße un­se­rer Clas­si­ker, de­ren Aner­ken­nung von Sei­ten des Gym­na­si­ums bis jetzt fast nur auf zwei­fel­haf­ten äs­the­ti­si­ren­den Lieb­ha­be­rei­en ein­zel­ner Leh­rer oder auf der rein stoff­li­chen Wir­kung ge­wis­ser Tra­gö­di­en und Ro­ma­ne ruht: man muß aber selbst aus Er­fah­rung wis­sen, wie schwer die Spra­che ist, man muß nach lan­gem Su­chen und Rin­gen auf die Bahn ge­lan­gen, auf der uns­re großen Dich­ter schrit­ten, um nach­zu­füh­len wie leicht und schön sie auf ihr schrit­ten, und wie un­ge­lenk oder ge­spreizt die An­dern hin­ter ih­nen dre­in­fol­gen.