Es sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst Verstand, daß man unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung veranlaßt fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zu Gunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer fragt sich noch, was eine Wissenschaft werth sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitstheilung in der Wissenschaft strebt praktisch nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben. Was aber für einige Religionen, gemäß ihrer Entstehung und Geschichte, ein durchaus berechtigtes Verlangen ist, dürfte für die Wissenschaft irgendwann einmal eine Selbstverbrennung herbeiführen. Jetzt sind wir bereits auf dem Punkte, daß in allen allgemeinen Fragen ernsthafter Natur, vor Allem in den höchsten philosophischen Problemen der wissenschaftliche Mensch als solcher gar nicht mehr zu Worte kommt: wohingegen jene klebrige verbindende Schicht, die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt hat, die Journalistik, hier ihre Aufgabe zu erfüllen glaubt und sie nun ihrem Wesen gemäß ausführt, das heißt wie der Name sagt, als eine Tagelöhnerei.
In der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen: Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten, allen Wissenschaften die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. Im Journal culminirt die eigenthümliche Bildungsabsicht der Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, des Führers für alle Zeiten, des Erlösers vom Augenblick, getreten ist. Nun sagen Sie mir selbst, mein ausgezeichneter Meister, was ich mir für Hoffnungen machen sollte, im Kampfe gegen eine überall erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen, mit welchem Muthe ich, als einzelner Lehrer, auftreten dürfte, wenn ich doch weiß, wie über jede eben gestreute Saat wahrer Bildung sofort schonungslos die zermalmende Walze dieser Pseudo-Bildung hinweggehn würde? Denken Sie sich, wie nutzlos jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der etwa einen Schüler in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des Hellenischen, als in die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch derselbe Schüler in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt.« – –
»Nun halt einmal still!« rief hier der Philosoph mit starker und mitleidiger Stimme dazwischen, »ich begreife dich jetzt besser und hätte dir vorher kein so böses Wort sagen sollen. Du hast in Allem Recht, nur nicht in deiner Muthlosigkeit. Ich will dir jetzt Etwas zu deinem Troste sagen.«
Zweiter Vortrag.
(Gehalten am 6. Februar 1872.)
Meine verehrten Zuhörer! Diejenigen unter Ihnen, welche ich erst von diesem Augenblicke an als meine Zuhörer begrüßen darf, und die von meinem vor drei Wochen gehaltenen Vortrage vielleicht nur gerüchtweise vernommen haben, müssen es sich jetzt gefallen lassen, ohne weitere Vorbereitungen mitten in ein ernstes Zwiegespräch eingeführt zu werden, das ich damals wiederzuerzählen angefangen habe und an dessen letzte Wendungen ich heute erst erinnern werde. Der jüngere Begleiter des Philosophen hatte soeben in ehrlich-vertraulicher Weise sich vor seinem bedeutenden Lehrmeister entschuldigen müssen, weshalb er unmuthig aus seiner bisherigen Lehrerstellung ausgeschieden sei und in einer selbstgewählten Einsamkeit ungetröstet seine Tage verbringe. Am wenigsten sei ein hochmüthiger Dünkel die Ursache eines solchen Entschlusses gewesen.
»Zuviel,« sagte der rechtschaffne Jünger, »habe ich von Ihnen, mein Lehrer, gehört, zu lange bin ich in Ihrer Nähe gewesen, um mich an unser bisherige? Bildungs- und Erziehungswesen gläubig hingeben zu können. Ich empfinde zu deutlich jene heillosen Irrthümer und Mißstände, auf die Sie mit dem Finger zu zeigen pflegten: und doch merke ich wenig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tapferem Kampfe, Erfolge haben würde, mit der ich die Bollwerke dieser angeblichen Bildung zertrümmern könnte. Eine allgemeine Muthlosigkeit überkam mich: die Flucht in die Einsamkeit war nicht Hochmuth, nicht Überhebung.« Darauf hatte er, zu seiner Entschuldigung, die allgemeine Signatur dieses Bildungswesens so beschrieben, daß der Philosoph nicht umhin konnte, mit mitleidiger Stimme ihm in’s Wort zu fallen und ihn so zu beruhigen.
»Nun, halt einmal still, mein armer Freund«, sagte er; »ich begreife dich jetzt besser und hätte dir vorhin kein so hartes Wort sagen sollen. Du hast in Allem Recht, nur nicht in deiner Muthlosigkeit. Ich will dir jetzt Etwas zu deinem Troste sagen. Wie lange glaubst du wohl, daß das auf dir so schwer lastende Bildungsgebahren in der Schule unsrer Gegenwart noch dauern werde? Ich will dir meinen Glauben darüber nicht vorenthalten: seine Zeit ist vorüber, seine Tage sind gezählt. Der Erste, der es wagen wird, auf diesem Gebiete ganz ehrlich zu sein, wird den Wiederhall seiner Ehrlichkeit aus tausend muthigen Seelen zu hören bekommen. Denn im Grunde ist unter den edler begabten und wärmer fühlenden Menschen dieser Gegenwart ein stillschweigendes Einverständniß: Jeder von ihnen weiß, was er von den Bildungszuständen der Schule zu leiden hatte. Jeder möchte seine Nachkommen mindestens von dem gleichen Drucke erlösen, wenn er sich auch selbst preisgeben müßte. Daß aber trotzdem es nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmuth unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die wahrhaft praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfälle haben und welche wissen, daß die rechte Genialität und die rechte Praxis sich nothwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfällen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt.
Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Litteratur dieser Gegenwart vertraut; an Dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmuth und über einen wahrhaft täppischen Cirkeltanz erschrickt. Hier muß unsere Philosophie nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen: wer es zu ihm nicht zu bringen vermag, ist gebeten, von den pädagogischen Dingen seine Hände zu lassen. Das Umgekehrte war freilich bisher die Regel; Diejenigen, welche erschraken, liefen wie du, mein armer Freund, scheu davon, und die nüchternen Unerschrocknen legten ihre breiten Hände recht breit auf die allerzarteste Technik, die es in einer Kunst geben kann, auf die Technik der Bildung. Das wird aber nicht lange mehr möglich sein; es mag nur einmal der ehrliche Mann kommen, der jene guten und neuen Einfälle hat und zu deren Verwirklichung mit allem Vorhandenen zu brechen wagt, er mag nur einmal an einem großartigen Beispiel es vormachen, was jene bisher allein thätigen breiten Hände nicht nachzumachen vermögen – dann wird man wenigstens überall anfangen zu unterscheiden, dann wird man wenigstens den Gegensatz spüren und über die Ursachen dieses Gegensatzes nachdenken können, während jetzt noch so Viele in aller Gutmüthigkeit glauben, daß die breiten Hände zum pädagogischen Handwerk gehören.«
»Ich möchte, mein geehrter Lehrer,« sagte hier der Begleiter, »daß Sie mir an einem einzelnen Beispiele selbst zu jener Hoffnung verhülfen, die aus Ihnen so muthig zu mir redet. Wir kennen Beide das Gymnasium; glauben Sie zum Beispiel auch in Hinsicht auf dieses Institut, daß hier mit Ehrlichkeit und guten, neuen Einfällen die alten zähen Gewohnheiten aufgelöst werden könnten? Hier schützt nämlich, scheint es mir, nicht eine harte Mauer gegen die Sturmböcke eines Angriffs, wohl aber die fatalste Zähigkeit und Schlüpfrigkeit aller Principien. Der Angreifende hat nicht einen sichtbaren und festen Gegner zu zermalmen: dieser Gegner ist vielmehr maskirt, vermag sich in hundert Gestalten zu verwandeln und in einer derselben dem packenden Griffe zu entgleiten, um immer von Neuem wieder durch feiges Nachgeben und zähes Zurückprallen den Angreifenden zu verwirren. Gerade das Gymnasium hat mich zu einer muthlosen Flucht in die Einsamkeit gedrängt, gerade weil ich fühle, daß, wenn hier der Kampf zum Siege führt, alle anderen Institutionen der Bildung nachgeben müssen, und daß, wer hier verzagen muß, überhaupt in den ernstesten pädagogischen Dingen verzagen muß. Also, mein Meister, belehren Sie mich über das Gymnasium: was dürfen wir für eine Vernichtung des Gymnasiums, was für eine Neugeburt desselben hoffen?«
»Auch ich,« sagte der Philosoph, »denke von der Bedeutung des Gymasiums so groß als du: an dem Bildungsziele, das durch das Gymnasium erstrebt wird, müssen sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz leiden sie mit, durch die Reinigung und Erneuerung desselben werden sie sich gleichfalls reinigen und erneuern. Eine solche Bedeutung als bewegender Mittelpunkt kann jetzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten darf; wie ich dir dies später deutlich machen will. Für jetzt betrachten wir Das mit einander, was in mir den hoffnungsvollen Gegensatz erzeugt, daß entweder der bisher gepflegte, so buntgefärbte und schwer zu erhaschende Geist des Gymnasiums völlig in der Luft zerstieben wird oder daß er von Grund aus gereinigt und erneuert werden muß: und damit ich dich nicht mit allgemeinen Sätzen erschrecke, denken wir zuerst an eine jener Gymnasialerfahrungen, die wir Alle gemacht haben und an denen wir Alle leiden. Was ist jetzt, mit strengem Auge betrachtet, der deutsche Unterricht auf dem Gymnasium?
Ich will dir zuerst sagen, was er sein sollte. Von Natur spricht und schreibt jetzt jeder Mensch so schlecht und gemein seine deutsche Sprache, als es eben in einem Zeitalter des Zeitungsdeutsches möglich ist: deshalb müßte der heranwachsende edler begabte Jüngling mit Gewalt unter die Glasglocke des guten Geschmacks und der strengen sprachlichen Zucht gesetzt werden: ist dies nicht möglich, nun so ziehe ich nächstens wieder vor Lateinisch zu sprechen, weil ich mich einer so verhunzten und geschändeten Sprache schäme.
Was für eine Aufgabe hätte eine höhere Bildungsanstalt in diesem Punkte, wenn nicht gerade die, auktoritativ und mit würdiger Strenge die sprachlich verwilderten Jünglinge zurecht zu leiten und ihnen zuzurufen: »Nehmt eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist auch nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden. Hier kann sich zeigen, wie hoch oder wie gering ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr verwandt mit der Kunst seid, hier in der Behandlung eurer Muttersprache. Erlangt ihr nicht so viel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnung einen physischen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben: denn hier, in der allernächsten Nähe, in jedem Augenblicke eures Sprechens und Schreibens habt ihr einen Prüfstein, wie schwer, wie ungeheuer jetzt die Aufgabe des Gebildeten ist und wie unwahrscheinlich es sein muß, daß Viele von euch zur rechten Bildung kommen.«
Im Sinne einer solchen Anrede hätte der deutsche Lehrer am Gymnasium die Verpflichtung, auf tausende von Einzelheiten seine Schüler aufmerksam zu machen und ihnen mit der ganzen Sicherheit eines guten Geschmacks den Gebrauch von solchen Worten geradezu zu verbieten, wie zum Beispiel von »beanspruchen«, »vereinnahmen«, »einer Sache Rechnung tragen«, »die Initiative ergreifen«, »selbstverständlich« – und so weiter cum taedio in infinitum. Derselbe Lehrer würde ferner an unseren klassischen Autoren von Zeile zu Zeile zeigen müssen, wie sorgsam und streng jede Wendung zu nehmen ist, wenn man das rechte Kunstgefühl im Herzen und die volle Verständlichkeit alles Dessen, was man schreibt, vor Augen hat. Er wird immer und immer wieder seine Schüler nöthigen, denselben Gedanken noch einmal und noch besser auszudrücken, und wird keine Grenze seiner Thätigkeit finden, bevor nicht die geringer Begabten in einen heiligen Schreck vor der Sprache, die Begabteren in eine edle Begeisterung für dieselbe gerathen sind.
Nun, hier ist eine Aufgabe für die sogenannte formelle Bildung und eine der allerwerthvollsten: und was finden wir nun am Gymnasium, an der Stätte der sogenannten formellen Bildung? – Wer Das, was er hier gefunden hat, unter die richtigen Rubriken zu bringen versteht, wird wissen, was er von dem jetzigen Gymnasium als einer angeblichen Bildungsanstalt zu halten hat: er wird nämlich finden, daß das Gymnasium nach seiner ursprünglichen Formation nicht für die Bildung, sondern nur für die Gelehrsamkeit erzieht, und ferner, daß es neuerdings die Wendung nimmt, als ob es nicht einmal mehr für die Gelehrsamkeit, sondern für die Journalistik erziehn wolle. Dies ist an der Art, wie der deutsche Unterricht ertheilt wird, wie an einem recht zuverlässigen Beispiele zu zeigen.
An Stelle jener rein praktischen Instruktion, durch die der Lehrer seine Schüler an eine strenge sprachliche Selbsterziehung gewöhnen sollte, finden wir überall die Ansätze zu einer gelehrt-historischen Behandlung der Muttersprache: das heißt, man verfährt mit ihr, als ob sie eine todte Sprache sei, und als ob es für die Gegenwart und Zukunft dieser Sprache keine Verpflichtungen gäbe. Die historische Manier ist unserer Zeit bis zu dem Grade geläufig geworden, daß auch der lebendige Leib der Sprache ihren anatomischen Studien preisgegeben wird: hier aber beginnt gerade die Bildung, daß man versteht das Lebendige als lebendig zu behandeln, hier beginnt gerade die Aufgabe des Bildungslehrers, das überall her sich aufdrängende »historische Interesse« dort zu unterdrücken, wo vor allen Dingen richtig gehandelt, nicht erkannt werden muß. Unsere Muttersprache aber ist ein Gebiet, auf dem der Schüler richtig handeln lernen muß: und ganz allein nach dieser praktischen Seite hin ist der deutsche Unterricht auf unsern Bildungsanstalten nothwendig. Freilich scheint die historische Manier für den Lehrer bedeutend leichter und bequemer zu sein, ebenfalls scheint sie einer weit geringeren Anlage, überhaupt einem niedrigeren Fluge seines gesammten Wollens und Strebens zu entsprechen. Aber diese selbe Wahrnehmung werden wir auf allen Feldern der pädagogischen Wirklichkeit zu machen haben: das Leichtere und Bequemere hüllt sich in den Mantel prunkhafter Ansprüche und stolzer Titel: das eigentlich Praktische, das zur Bildung gehörige Handeln, als das im Grunde Schwerere, erntet die Blicke der Mißgunst und Geringschätzung: weshalb der ehrliche Mensch auch dieses Quidproquo sich und Anderen zur Klarheit bringen muß.
Was pflegt nun der deutsche Lehrer, außer diesen gelehrtenhaften Anregungen zu einem Studium der Sprache, sonst noch zu geben? Wie verbindet er den Geist seiner Bildungsanstalt mit dem Geist der wenigen wahrhaft Gebildeten, die das deutsche Volk hat, mit dem Geiste seiner classischen Dichter und Künstler? Dies ist ein dunkles und bedenkliches Bereich, in das man nicht ohne Schrecken hineinleuchten kann: aber auch hier wollen wir uns nichts verhehlen, weil irgendwann einmal hier Alles neu werden muß. In dem Gymnasium wird die widerwärtige Signatur unserer ästhetischen Journalistik auf die noch ungeformten Geister der Jünglinge geprägt: hier werden von dem Lehrer selbst die Keime zu dem rohen Mißverstehen-wollen unserer Classiker ausgesäet, das sich nachher als ästhetische Kritik geberdet und nichts als vorlaute Barbarei ist. Hier lernen die Schüler von unserm einzigen Schiller mit jener knabenhaften Überlegenheit zu reden, hier gewöhnt man sie, über die edelsten und deutschesten seiner Entwürfe, über den Marquis Posa, über Max und Thella zu lächeln – ein Lächeln, über das der deutsche Genius ergrimmt, über das eine bessere Nachwelt erröthen wird.
Das letzte Bereich, auf dem der deutsche Lehrer am Gymnasium thätig zu sein pflegt, und das nicht selten als die Spitze seiner Thätigkeit, hier und da sogar als die Spitze der Gymnasialbildung betrachtet wird, ist die sogenannte deutsche Arbeit. Daran daß auf diesem Bereiche sich fast immer die begabtesten Schüler mit besonderer Lust tummeln, sollte man erkennen, wie gefährlich-anreizend gerade die hier gestellte Aufgabe sein mag. Die deutsche Arbeit ist ein Appell an das Individuum: und je stärker bereits sich ein Schüler seiner unterscheidenden Eigenschaften bewußt ist, um so persönlicher wird er seine deutsche Arbeit gestalten. Dieses »persönliche Gestalten« wird noch dazu in den meisten Gymnasien schon durch die Wahl der Themata gefordert: wofür mir immer der stärkste Beweis ist, daß man schon in den niedrigeren Klassen das an und für sich unpädagogische Thema stellt, durch welches der Schüler zu einer Beschreibung seines eignen Lebens, seiner eignen Entwicklung veranlaßt wird. Nun mag man nur einmal die Verzeichnisse solcher Themata an einer größeren Anzahl von Gymnasien durchlesen, um zu der Überzeugung zu kommen, daß wahrscheinlich die allermeisten Schüler für ihr Leben an dieser zu früh geforderten Persönlichkeitsarbeit, an dieser unreifen Gedankenerzeugung, ohne ihr Verschulden, zu leiden haben: und wie oft erscheint das ganze spätere litterarische Wirken eines Menschen wie die traurige Folge jener pädagogischen Ursünde wider den Geist!
Man muß nur denken, was in einem solchen Alter, bei der Produktion einer solchen Arbeit, vor sich geht. Es ist die erste eigne Produktion; die noch unentwickelten Kräfte schießen zum ersten Male zu einer Krystallisation zusammen; das taumelnde Gefühl der geforderten Selbständigkeit umkleidet diese Erzeugnisse mit einem allerersten, nie wiederkehrenden berückenden Zauber. Alle Verwegenheiten der Natur sind aus ihrer Tiefe hervorgerufen, alle Eitelkeiten, durch keine mächtigere Schranke zurückgehalten, dürfen zum ersten Male eine litterarische Form annehmen: der junge Mensch empfindet sich von jetzt ab als fertig geworden, als ein zum Sprechen, zum Mitsprechen befähigtes, ja aufgefordertes Wesen. Jene Themata nämlich verpflichten ihn, sein Votum über Dichterwerke abzugeben oder historische Personen in die Form einer Charakterschilderung zusammenzudrängen oder ernsthafte ethische Probleme selbständig darzustellen oder gar, mit umgekehrter Leuchte, sein eignes Werden sich aufzuhellen und über sich selbst einen kritischen Bericht abzugeben: kurz, eine ganze Welt der nachdenklichsten Aufgaben breitet sich vor dem überraschten, bis jetzt fast unbewußten jungen Menschen aus und ist seiner Entscheidung preisgegeben.
Nun vergegenwärtigen wir uns, diesen so einflußreichen ersten Originalleistungen gegenüber, die gewöhnliche Thätigkeit des Lehrers. Was erscheint ihm an diesen Arbeiten als tadelnswerth? Worauf macht er seine Schüler aufmerksam? Auf alle Excesse der Form und des Gedankens, das heißt auf alles Das, was in diesem Alter überhaupt charakteristisch und individuell ist. Das eigentlich Selbständige, das sich, bei dieser allzufrühzeitigen Erregung, eben nur und ganz allein in Ungeschicklichkeiten, in Schärfen und grotesken Zügen äußern kann, also gerade das Individuum wird gerügt und vom Lehrer zu Gunsten einer unoriginalen Durchschnittsanständigkeit verworfen. Dagegen bekommt die uniformirte Mittelmäßigkeit das verdrossen gespendete Lob: denn gerade bei ihr pflegt sich der Lehrer aus guten Gründen sehr zu langweilen.
Vielleicht giebt es noch Menschen, die in dieser ganzen Komödie der deutschen Arbeit auf dem Gymnasium nicht nur das allerabsurdeste, sondern auch das allergefährlichste Element des jetzigen Gymnasiums sehen. Hier wird Originalität verlangt, aber die in jenem Alter einzig mögliche wiederum verworfen: hier wird eine formale Bildung vorausgesetzt, zu der jetzt überhaupt nur die allerwenigsten Menschen im reifen Alter kommen. Hier wird Jeder ohne Weiteres als ein litteraturfähiges Wesen betrachtet, das über die ernstesten Dinge und Personen eigne Meinungen haben dürfte, während eine rechte Erziehung gerade nur darauf hin mit allem Eifer streben wird, den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urtheils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Scepter des Genius zu gewöhnen. Hier wird eine Form der Darstellung in größerem Rahmen vorausgesetzt, in einem Alter, in dem jeder gesprochne oder geschriebene Satz eine Barbarei ist. Nun denken wir uns noch die Gefahr hinzu, die in der leicht erregten Selbstgefälligkeit jener Jahre liegt, denken wir an die eitle Empfindung, mit der der Jüngling jetzt zum ersten Male sein literarisches Bild im Spiegel sieht – wer möchte, alle diese Wirkungen mit einem Blick erfassend, daran zweifeln, daß alle Schäden unserer litterarisch-künstlerischen Öffentlichkeit hier dem heranwachsenden Geschlecht immer wieder von Neuem aufgeprägt werden, die hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die vollendete Stillosigkeit, das Ungegohrene und Charakterlose oder Kläglich-Gespreizte im Ausdruck, der Verlust jedes ästhetischen Kanons, die Wollust der Anarchie und des Chaos, kurz die litterarischen Züge unsrer Journalistik ebenso wie unseres Gelehrtenthums.
Davon wissen jetzt die Wenigsten etwas, daß vielleicht unter vielen Tausenden kaum Einer berechtigt ist, sich schriftstellerisch vernehmen zu lassen, und daß alle Anderen, die es auf ihre Gefahr versuchen, unter wahrhaft urtheilsfähigen Menschen als Lohn für jeden gedruckten Satz ein homerisches Gelächter verdienen – denn es ist wirklich ein Schauspiel für Götter, einen litterarischen Hephäst heranhinken zu sehn, der uns nun gar Etwas credenzen will. Auf diesem Bereiche zu ernsten und unerbittlichen Gewöhnungen und Anschauungen zu erziehn, das ist eine der höchsten Aufgaben der formellen Bildung, während das allseitige Gewährenlassen der sogenannten »freien Persönlichkeit« wohl nichts Anderes als das Kennzeichen der Barbarei sein möchte. Daß aber wenigstens bei dem deutschen Unterricht nicht an Bildung, sondern an etwas Anderes gedacht wird, nämlich an die besagte »freie Persönlichkeit«, dürfte aus dem bis jetzt Berichteten wohl deutlich geworden sein. Und so lange die deutschen Gymnasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorarbeiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen, als ob sie nur ein nothwendiges Übel oder ein todter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Institutionen wahrer Bildung.
Am wenigsten wohl merkt man, in Hinsicht der Sprache, etwas von dem Einflusse des classischen Vorbildes: weshalb mir schon von dieser einen Erwägung aus die sogenannte »classische Bildung«, die von unserem Gymnasium ausgehn soll, als etwas sehr Zweifelhaftes und Mißverständliches erscheint. Denn wie könnte man, bei einem Blicke auf jenes Vorbild, den ungeheuren Ernst übersehn, mit dem der Grieche und Römer seine Sprache von den Jünglingsjahren an betrachtet und behandelt, – wie könnte man sein Vorbild in einem solchen Punkte verkennen, wenn anders wirklich noch die classisch-hellenische und römische Welt als höchstes belehrendes Muster dem Erziehungsplan unserer Gymnasien vorschwebte: woran ich wenigstens zweifle. Vielmehr scheint es sich, bei dem Anspruche des Gymnasiums, »classische Bildung« zu pflegen, nur um eine verlegene Ausrede zu handeln, welche dann angewendet wird, wenn von irgend einer Seite her dem Gymnasium die Befähigung, zur Bildung zu erziehen, abgesprochen wird. Classische Bildung! Es klingt so würdevoll! Es beschämt den Angreifenden, es verzögert den Angriff – denn wer vermag gleich dieser verwirrenden Formel bis auf den Grund zu sehn! Und das ist die längst gewohnte Taktik des Gymnasiums: je nach der Seite, von der aus der Ruf zum Kampfe erschallt, schreibt es auf sein nicht gerade mit Ehrenzeichen geschmücktes Schild eines jener verwirrenden Schlagworts »classische Bildung« »formale Bildung« oder »Bildung zur Wissenschaft«: drei gloriose Dinges die nur leider theils in sich, theils unter einander im Widerspruche sind und die, wenn sie gewaltsam zusammengebracht würden, nur einen Bildungstragelaph hervorbringen müßten. Denn eine wahrhafte »classische Bildung« ist etwas so unerhört Schweres und Seltenes und fordert eine so complicirte Begabung, daß es nur der Naivetät oder der Unverschämtheit vorbehalten ist, diese als erreichbares Ziel des Gymnasiums zu versprechen. Die Bezeichnung »formale Bildung« gehört unter die rohe unphilosophische Phraseologie, deren man sich möglichst entschlagen muß: denn es giebt keine »materielle Bildung«. Und wer die »Bildung zur Wissenschaft« als das Ziel des Gymnasiums aufstellt, giebt damit die »classische Bildung« und die sogenannte »formale Bildung«, überhaupt das ganze Bildungsziel des Gymnasiums preis: denn der wissenschaftliche Mensch und der gebildete Mensch gehören zwei verschiedenen Sphären an, die hier und da sich in einem Individuum berühren, nie aber mit einander zusammenfallen.
Vergleichen wir diese drei angeblichen Ziele des Gymnasiums mit der Wirklichkeit, die wir in Betreff des deutschen Unterrichtes beobachteten, so erkennen wir, was diese Ziele zumeist im gewöhnlichen Gebrauche sind: Verlegenheitsausflüchte, für den Kampf und Krieg erdacht und wirklich auch zur Betäubung des Gegners oft genug geeignet. Denn wir vermochten am deutschen Unterricht Nichts zu erkennen, was irgendwie an das classisch-antike Vorbild, an die antike Großartigkeit der sprachlichen Erziehung erinnerte: die »formale Bildung« aber, die durch den besagten deutschen Unterricht erreicht wird, erwies sich als das absolute Belieben der »freien Persönlichkeit«, das heißt als Barbarei und Anarchie; und was die Heranbildung zur Wissenschaft als Folge jenes Unterrichtes betrifft, so werden unsre Germanisten mit Billigkeit abzuschätzen haben, wie wenig zur Blüthe ihrer Wissenschaft gerade jene gelehrtenhaften Anfänge auf dem Gymnasium, wie viel die Persönlichkeit einzelner Universitätslehrer beigetragen hat. – In Summa: das Gymnasium versäumt bis jetzt das allererste und nächste Objekt, an dem die wahre Bildung beginnt, die Muttersprache: damit aber fehlt ihm der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bildungsbemühungen. Denn erst auf Grund einer strengen, künstlerisch sorgfältigen sprachlichen Zucht und Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe unserer Classiker, deren Anerkennung von Seiten des Gymnasiums bis jetzt fast nur auf zweifelhaften ästhetisirenden Liebhabereien einzelner Lehrer oder auf der rein stofflichen Wirkung gewisser Tragödien und Romane ruht: man muß aber selbst aus Erfahrung wissen, wie schwer die Sprache ist, man muß nach langem Suchen und Ringen auf die Bahn gelangen, auf der unsre großen Dichter schritten, um nachzufühlen wie leicht und schön sie auf ihr schritten, und wie ungelenk oder gespreizt die Andern hinter ihnen dreinfolgen.