Erst durch eine solche Zucht bekommt der junge Mensch jenen physischen Ekel vor der so beliebten und so gepriesenen »Eleganz« des Stils unsrer Zeitungsfabrik. Arbeiter und Romanschreiber, vor der »gewählten Diktion« unserer Litteraten, und ist mit einem Schlage und endgültig über eine ganze Reihe von recht komischen Fragen und Skrupeln hinausgehoben, zum Beispiel ob Auerbach oder Gutzkow wirklich Dichter sind: man kann sie einfach vor Ekel nicht mehr lesen, damit ist die Frage entschieden. Glaube Niemand, daß es leicht ist, sein Gefühl bis zu jenem physischen Ekel auszubilden: aber hoffe auch Niemand auf einem anderen Wege zu einem ästhetischen Urtheile zu kommen als auf dem dornigen Pfade der Sprache, und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht.
Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie Demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat, genöthigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über den elegant sich gebärdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsere »elegant« genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen gelernt: und an unsern Gymnasien lernt man, wie unsere Schriftsteller beweisen, nicht gehen. Mit der richtigen Gangart der Sprache aber beginnt die Bildung: welche, wenn sie nur recht begonnen ist, nachher auch gegen jene »eleganten« Schriftsteller eine physische Empfindung erzeugt, die man »Ekel« nennt.
Hier erkennen wir die verhängnißvollen Consequenzen unseres jetzigen Gymnasiums: dadurch daß es nicht im Stande ist, die rechte und strenge Bildung, die vor Allem Gehorsam und Gewöhnung ist, einzupflanzen, dadurch daß es vielmehr besten Falls in der Erregung und Befruchtung der wissenschaftlichen Triebe überhaupt zu einem Ziele kommt, erklärt sich jenes so häufig anzutreffende Bündniß der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks, der Wissenschaft mit der Journalistik. Man kann heute in ungeheurer Allgemeinheit die Wahrnehmung machen, daß unsere Gelehrten von jener Bildungshöhe abgefallen und heruntergesunken sind, die das deutsche Wesen unter den Bemühungen Goethe’s, Schiller’s, Lessings und Winckelmann’s erreicht hatte: ein Abfall, der sich eben in der gröblichen Art von Mißverständnissen zeigt, denen jene Männer unter uns, bei den Literaturhistorikern ebensowohl – ob sie nun Gervinus oder Julian Schmidt heißen – als in jeder Geselligkeit, ja fast in jedem Gespräch unter Männern und Frauen, ausgesetzt sind. Am meisten aber und am schmerzlichsten zeigt sich gerade dieser Abfall in der pädagogischen, auf das Gymnasium bezüglichen Litteratur. Es kann bezeugt werden, daß der einzige Werth, den jene Männer für eine wahre Bildungsanstalt haben, während eines halben Jahrhunderts und länger nicht einmal ausgesprochen, geschweige denn anerkannt worden ist: der Werth jener Männer als der vorbereitenden Führer und Mystagogen der classischen Bildung, an deren Hand allein der richtige Weg, der zum Alterthum führt, gefunden werden kann.
Jede sogenannte classische Bildung hat nur einen gesunden und natürlichen Ausgangspunkt, die künstlerisch ernste und strenge Gewöhnung im Gebrauch der Muttersprache: für diese aber und für das Geheimniß der Form wird selten Jemand von innen heraus, aus eigner Kraft zu dem rechten Pfade geleitet, während alle Anderen jene großen Führer und Lehrmeister brauchen und sich ihrer Hut anvertrauen müssen. Es giebt aber gar keine classische Bildung, die ohne diesen erschlossenen Sinn für die Form wachsen könnte. Hier, wo allmählich das unterscheidende Gefühl für die Form und für die Barbarei erwacht, regt sich zum ersten Male die Schwinge, die der rechten und einzigen Bildungsheimat, dem griechischen Alterthum zu trägt. Freilich würden wir bei dem Versuche, uns jener unendlich fernen und mit diamantenen Wällen umschlossenen Burg des Hellenischen zunähen, mit alleiniger Hülfe jener Schwinge nicht gerade weit kommen: sondern von Neuem brauchen wir dieselben Führer, dieselben Lehrmeister, unsre deutschen Klassiker, um unter dem Flügelschlage ihrer antiken Bestrebungen selbst mit hinweggerissen zu werden – dem Lande der Sehnsucht zu, nach Griechenland.
Von diesem allein möglichen Verhältnisse zwischen unseren Klassikern und der classischen Bildung ist freilich kaum ein Laut in die alterthümlichen Mauern des Gymnasiums gedrungen. Die Philologen sind vielmehr unverdrossen bemüht, auf eigne Hand ihren Homer und Sophokles an die jungen Seelen heranzubringen, und nennen das Resultat ohne Weiteres mit einem unbeanstandeten Euphemismus »classische Bildung«. Mag sich jeder an seinen Erfahrungen prüfen, was er von Homer und Sophokles, an der Hand jener unverdrossenen Lehrer, gehabt hat. Hier ist ein Bereich der allerhäufigsten und stärksten Täuschungen und der unabsichtlich verbreiteten Mißverständnisse. Ich habe noch nie in dem deutschen Gymnasium auch nur eine Faser von Dem vorgefunden, was sich wirklich »classische Bildung« nennen dürfte: und dies ist nicht verwunderlich, wenn man denkt, wie sich das Gymnasium von den deutschen Classikern und von der deutschen Sprachzucht emancipirt hat. Mit einem Sprung in’s Blaue kommt Niemand in’s Alterthum: und doch ist die ganze Art, wie man auf den Schulen mit antiken Schriftstellern verkehrt, das redliche Commentiren und Paraphrasiren unserer philologischen Lehrer ein solcher Sprung in’s Blaue.
Das Gefühl für das Classisch-Hellenische ist nämlich ein so seltenes Resultat des angestrengtesten Bildungskampfes und der künstlerischen Begabung, daß nur durch ein grobes Mißverständniß das Gymnasium bereits den Anspruch erheben kann, dies Gefühl zu wecken. In welchem Alter? In einem Alter, das noch blind herumgezogen wird von den buntesten Neigungen des Tages, das noch keine Ahnung davon in sich trägt, daß jenes Gefühl für das Hellenische, wenn es einmal erwacht ist, sofort aggressiv wird und in einem unausgesetzten Kampfe gegen die angebliche Cultur der Gegenwart sich ausdrücken muß. Für den jetzigen Gymnasiasten sind die Hellenen als Hellenen todt: ja, er hat seine Freude am Homer, aber ein Roman von Spielhagen fesselt ihn doch bei weitem stärker: ja, er verschluckt mit einigem Wohlbehagen die griechische Tragödie und Komödie, aber so ein recht modernes Drama, wie die Journalisten von Freytag, berührt ihn doch ganz anders. Ja, er ist, im Hinblick auf alle antiken Autoren, geneigt ähnlich zu reden, wie der Kunstästhetiker Hermann Grimm, der einmal in einem gewundenen Aufsatz über die Venus von Milo sich endlich doch fragt: »Was ist mir diese Gestalt einer Göttin? Was nützen mir die Gedanken, die sie in mir erwachen läßt? Orest und Ödipus, Iphigenie und Antigone, was haben sie gemein mit meinem Herzen?« – Nein, meine Gymnasiasten, die Venus von Milo geht euch nichts an: aber eure Lehrer ebensowenig – und das ist das Unglück, das ist das Geheimniß des jetzigen Gymnasiums. Wer wird euch zur Heimat der Bildung führen, wenn eure Führer blind sind und gar noch als Sehende sich ausgeben! Wer von euch wird zu einem wahren Gefühl für den heiligen Ernst der Kunst kommen, wenn ihr mit Methode verwöhnt werdet, selbständig zu stottern, wo man euch lehren sollte zu sprechen, selbständig zu ästhetisiren, wo man euch anleiten sollte vor dem Kunstwerk andächtig zu sein, selbständig zu philosophiren, wo man euch zwingen sollte, auf große Denker zu hören: Alles mit dem Resultat, daß ihr dem Alterthume ewig fern bleibt und Diener des Tages werdet.
Das Heilsamste, was die jetzige Institution des Gymnasiums in sich birgt, liegt jedenfalls in dem Ernste, mit dem die lateinische und griechische Sprache durch eine ganze Reihe von Jahren hindurch behandelt wird: hier lernt man den Respekt vor einer regelrecht fixirten Sprache, vor Grammatik und Lexikon, hier weiß man noch, was ein Fehler ist, und wird nicht jeden Augenblick durch den Anspruch incommodirt, daß auch grammatische und orthographische Grillen und Unarten, wie in dem deutschen Stil der Gegenwart, sich berechtigt fühlen. Wenn nur dieser Respekt vor der Sprache nicht so in der Luft hängen bliebe, gleichsam als eine theoretische Bürde, von der man sich bei seiner Muttersprache sofort wieder entlastet! Gewöhnlich pflegt vielmehr der lateinische oder griechische Lehrer selbst mit dieser Muttersprache wenig Umstände zu machen, er behandelt sie von vornherein als ein Bereich, auf dem man sich von der strengen Zucht des Lateinischen und des Griechischen wieder erholen darf, auf dem wieder die lässige Gemüthlichkeit erlaubt ist, mit der der Deutsche alles Heimische zu behandeln pflegt. Jene herrlichen Übungen, aus einer Sprache in die andere zu übersetzen, die auf das heilsamste auch den künstlerischen Sinn für die eigne Sprache befruchten können, sind nach der Seite des Deutschen hin niemals mit der gebührenden kategorischen Strenge und Würde durchgeführt wurden, die hier, als bei einer undisciplinirten Sprache, vor Allem noth thut. Neuerdings verschwinden auch diese Übungen immer mehr: man begnügt sich, die fremden klassischen Sprachen zu wissen, man verschmäht es sie zu können.
Hier bricht wieder die gelehrtenhafte Tendenz in der Auffassung des Gymnasiums durch: ein Phänomen, welches auf die in früherer Zeit einmal ernst genommene Humanitätsbildung als Ziel des Gymnasiums ein aufklärendes Licht wirft. Es war die Zeit unserer großen Dichter, das heißt jener wenigen wahrhaft gebildeten Deutschen, als von dem großartigen Friedrich August Wolf der neue, von Griechenland und Rom her durch jene Männer strömende classische Geist auf das Gymnasium geleitet wurde; seinem kühnen Beginnen gelang es, ein neues Bild des Gymnasiums aufzustellen, das von jetzt ab nicht etwa nur noch eine Pflanzstätte der Wissenschaft, sondern vor Allem die eigentliche Weihestätte für allhöhere und edlere Bildung werden sollte.
Von den äußerlich dazu nöthig erscheinenden Maßregeln sind sehr wesentliche mit dauerndem Erfolge auf die moderne Gestaltung des Gymnasiums übergegangen: nur ist gerade das Wichtigste nicht gelungen, die Lehrer selbst mit diesem neuen Geiste zu weihen, so daß sich inzwischen das Ziel des Gymnasiums wieder bedeutend von jener durch Wolf angestrebten Humanitätsbildung entfernt hat. Vielmehr hat die alte, von Wolf selbst überwundene absolute Schätzung der Gelehrsamkeit und der gelehrten Bildung allmählich nach mattem Kampfe die Stelle des eingedrungnen Bildungsprincips eingenommen und behauptet jetzt wieder, wenngleich nicht mit der früheren Offenheit, sondern maskirt, und mit verhülltem Angesicht, ihre alleinige Berechtigung. Und daß es nicht gelingen wollte, das Gymnasium in den großartigen Zug der classischen Bildung zu bringen, lag in dem undeutschen, beinahe ausländischen oder kosmopolitischen Charakter dieser Bildungsbemühungen, in dem Glauben, daß es möglich sei, sich den heimischen Boden unter den Füßen fortzuziehn und dann doch noch feststehen zu können, in dem Wahne, daß man in die entfremdete hellenische Welt durch Verleugnung des deutschen, überhaupt des nationalen Geistes gleichsam direkt und ohne Brücken hineinspringen könne.
Freilich muß man verstehn, diesen deutschen Geist erst in seinen Verstecken, unter modischen Überkleidungen oder unter Trümmerhaufen, aufzusuchen, man muß ihn so lieben, um sich auch seiner verkümmerten Form nicht zu schämen, man muß vor Allem sich hüten, ihn nicht mit Dem zu verwechseln, was sich jetzt mit stolzer Gebärde als »deutsche Cultur der Jetztzeit« bezeichnet. Mit dieser ist vielmehr jener Geist innerlich verfeindet: und gerade in den Sphären, über deren Mangel an Cultur jene »Jetztzeit« zu klagen pflegt, hat sich oftmals gerade jener ächte deutsche Geist, wenngleich nicht in anmuthender Form und unter rohen Äußerlichkeiten erhalten. Was dagegen sich jetzt mit besonderem Dünkel »deutsche Cultur« nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im tiefsten Fundamente ungermanische Civilisation der Franzosen, die talentlos und mit unsicherstem Geschmack nachgeahmt wird und in dieser Nachahmung der deutschen Gesellschaft und Presse, Kunst und Stilistik eine gleißnerische Form giebt. Freilich bringt es diese Copie nirgends zu einer so künstlerisch abgeschlossenen Wirkung, wie sie jene originale, aus dem Wesen des Romanischen hervorgewachsene Civilisation fast bis auf unsre Tage in Frankreich hervorbringt. Um diesen Gegensatz nachzuempfinden, vergleiche man unsere namhaftesten deutschen Romanschreiber mit jedem auch weniger namhaften französischen oder italiänischen: auf beiden Seiten dieselben zweifelhaften Tendenzen und Ziele, dieselben noch zweifelhafteren Mittel, aber dort mit künstlerischem Ernst, mindestens mit sprachlicher Correktheit, oft mit Schönheit verbunden, überall der Wiederklang einer entsprechenden gesellschaftlichen Cultur, hier Alles unoriginal, schlotterig, im Hausrocke des Gedankens und des Ausdrucks oder unangenehm gespreizt, dazu ohne jeden Hintergrund einer wirklichen gesellschaftlichen Form, höchstens durch gelehrte Manieren und Kenntnisse daran erinnernd, daß in Deutschland der verdorbene Gelehrte, in den romanischen Ländern der künstlerisch gebildete Mensch zum Journalisten wird. Mit dieser angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Cultur darf der Deutsche sich nirgends Siege versprechen: in ihr beschämt ihn der Franzose und der Italiäner und, was die geschickte Nachahmung einer fremden Cultur betrifft, vor Allem der Russe.
Um so fester halten wir an dem deutschen Geiste fest, der sich in der deutschen Reformation und in der deutschen Musik offenbart hat und der in der ungeheuren Tapferkeit und Strenge der deutschen Philosophie und in der neuerdings erprobten Treue des deutschen Soldaten jene nachhaltige, allem Scheine abgeneigte Kraft bewiesen hat, von der wir auch einen Sieg über jene modische Pseudocultur der »Jetztzeit« erwarten dürfen. In diesen Kampf die wahre Bildungsschule hineinzuziehn und besonders im Gymnasium die heranwachsende neue Generation für Das zu entzünden, was wahrhaft deutsch ist, ist die von uns gehoffte Zukunftstlosigkeit der Schule: in welcher auch endlich die sogenannte classische Bildung wieder ihren natürlichen Boden und ihren einzigen Ausgangspunkt erhalten wird.
Eine wahre Erneuerung und Reinigung des Gymnasiums wird nur aus einer tiefen und gewaltigen Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes hervorgehn. Sehr geheimnißvoll und schwer zu erfassen ist das Band, welches wirklich zwischen dem innersten deutschen Wesen und dem griechischen Genius sich knüpft. Bevor aber nicht das edelste Bedürfnis; des ächten deutschen Geistes nach der Hand dieses griechischen Genius, wie nach einer festen Stütze im Strome der Barbarei hascht, bevor aus diesem deutschen Geiste nicht eine verzehrende Sehnsucht nach den Griechen hervorbricht, bevor nicht die mühsam errungene Fernsicht in die griechische Heimat, an der Schiller und Goethe sich erlabten, zur Wallfahrtsstätte der besten und begabtesten Menschen geworden ist, wird das classische Bildungsziel des Gymnasiums haltlos in der Luft hin- und herflattern: und Diejenigen werden wenigstens nicht zu tadeln sein, welche eine noch so beschränkte Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit im Gymnasium heranziehn wollen, um doch ein wirkliches, festes und immerhin ideales Ziel im Auge zu haben und ihre Schüler vor den Verführungen jenes glitzernden Phantoms zu retten, das sich jetzt »Cultur« und »Bildung« nennen läßt. Das ist die traurige Lage des jetzigen Gymnasiums: die beschränktesten Standpunkte sind gewissermaßen im Recht, weil Niemand im Stande ist, den Ort zu erreichen oder wenigstens zu bezeichnen, wo alle diese Standpunkte zum Unrecht werden.«
»Niemand?« fragte der Schüler den Philosophen mit einer gewissen Rührung in der Stimme: und beide verstummten.
*
Dritter Vortrag.
(Gehalten am 27. Februar 1872.)
Verehrte Anwesende! Das Gespräch, dessen Zuhörer ich einst war und dessen Grundzüge ich hier vor Ihnen aus lebhafter Erinnerung nachzuzeichnen versuche, war an dem Punkte, wo ich das letzte Mal meine Erzählung beschloß, durch eine ernste und lange Pause unterbrochen worden. Der Philosoph sowohl wie sein Begleiter saßen in trübsinniges Schweigen versunken da: Jedem von ihnen lag der eben besprochne seltsame Nothstand der wichtigsten Bildungsanstalt, des Gymnasiums, auf der Seele, als eine Last, zu deren Beseitigung der gutgesinnte Einzelne zu schwach und die Masse nicht gutgesinnt genug ist.
Zweierlei besonders betrübte unsre einsamen Denker: einmal die deutliche Einsicht, wie Das, was mit Recht »classische Bildung« zu nennen wäre, jetzt nur ein in freier Luft schwebendes Bildungsideal ist, das aus dem Boden unserer Erziehungsapparate gar nicht hervorzuwachsen vermöge, wie Das hingegen, was mit einem landläufigen und nicht beanstandeten Euphemismus jetzt als »classische Bildung« bezeichnet wird, eben nur den Werth einer anspruchsvollen Illusion hat: deren beste Wirkung noch darin besteht, daß das Wort selbst »classische Bildung« doch noch weiter lebt und seinen pathetischen Klang noch nicht verloren hat. An dem deutschen Unterricht sodann hatten sich die ehrlichen Männer miteinander deutlich gemacht, daß bereits der richtige Ausgangspunkt für eine höhere, an den Pfeilern des Alterthums aufzurichtende Bildung bis jetzt nicht gefunden sei: die Verwilderung der sprachlichen Unterweisung, das Hereindringen gelehrtenhafter historischer Richtungen an Stelle einer praktischen Zucht und Gewöhnung, die Verknüpfung gewisser, in den Gymnasien geforderten Übungen mit dem bedenklichen Geiste unserer journalistischen Öffentlichkeit – alle diese am deutschen Unterrichte wahrnehmbaren Phänomene gaben die traurige Gewißheit, daß die heilsamsten vom classischen Alterthume ausgehenden Kräfte noch nicht einmal in unsern Gymnasien geahnt werden, jene Kräfte nämlich, welche zum Kampfe mit der Barbarei der Gegenwart vorbereiten, und welche vielleicht noch einmal die Gymnasien in die Zeughäuser und Werkstätten dieses Kampfes umwandeln werden.
Inzwischen schien es im Gegentheil, als ob recht grundsätzlich der Geist des Alterthums bereits an der Schwelle des Gymnasiums weggetrieben werden sollte, und als ob man auch hier dem durch Schmeicheleien verwöhnten Wesen unserer jetzigen angeblichen »deutschen Cultur« die Thore so weit als möglich öffnen wolle. Und wenn es für unsere einsamen Unterredner eine Hoffnung zu geben schien, so war es die, daß es noch schlimmer kommen müsse, daß Das, was von Wenigen bisher errathen wurde, bald Vielen zudringlich deutlich sein werde, und daß dann die Zeit der Ehrlichen und der Entschlossenen auch für das ernste Bereich der Volkserziehung nicht mehr ferne sei.
Nach einiger Zeit schweigsamer Überlegung wendete sich der Begleiter an den Philosophen und sagte ihm: »Sie wollten mir Hoffnungen machen, mein Lehrer; aber Sie haben mir meine Einsicht, und dadurch meine Kraft, meinen Muth vermehrt: wirklich sehe ich jetzt kühner auf das Kampffeld hin, wirklich mißbillige ich bereits meine allzuschnelle Flucht. Wir wollen ja nichts für uns; und auch das darf uns nicht kümmern, wie viele Individuen in diesem Kampfe zu Grunde gehn, und ob wir selbst etwa unter den Giften fallen. Gerade weil wir es ernst nehmen, sollten wir unsre armen Individuen nicht so ernst nehmen; im Augenblick, wo wir sinken, wird wohl ein Anderer die Fahne fassen, an deren Ehrenzeichen wir glauben. Selbst darüber will ich nicht nachdenken, ob ich kräftig genug zu einem solchen Kampfe bin, ob ich lange widerstehen werde; es mag wohl selbst ein ehrenvoller Tod sein, unter dem spöttischen Gelächter solcher Feinde zu fallen, deren Ernsthaftigkeit uns so häufig als etwas Lächerliches erschienen ist. Denke ich an die Art, wie sich meine Altersgenossen zu dem gleichen Berufe, wie ich, zu dem höchsten Lehrerberufe, vorbereiteten, so weiß ich, wie oft wir gerade über das Entgegengesetzte lachten, über das Verschiedenste ernst wurden –«
»Nun, mein Freund«, unterbrach ihn lachend der Philosoph, »du sprichst, wie Einer, der in’s Wasser springen will, ohne schwimmen zu können, und mehr als das Ertrinken dabei fürchtet, nicht zu ertrinken und ausgelacht zu werden. Das Ausgelachtwerden soll aber unsre letzte Befürchtung sein; denn wir sind hier auf einem Gebiete, wo es so viel Wahrheiten zu sagen giebt, so viel erschreckliche peinliche unverzeihliche Wahrheiten, daß der aufrichtigste Haß uns nicht fehlen wird, und nur die Wuth es hier und da einmal zu einem verlegnen Lachen bringen möchte. Denke dir nur einmal die unabsehbaren Schaaren der Lehrer, die im besten Glauben das bisherige Erziehungssystem in sich aufgenommen haben, um es nun guten Muths und ohne ernstliche Bedenken weiter zu tragen – wie meinst du wohl, daß es diesen vorkommen muß, wenn sie von Plänen hören, von denen sie ausgeschlossen sind und zwar beneficio naturae, von Forderungen, die weit über ihre mittleren Befähigungen hinausfliegen, von Hoffnungen, die in ihnen ohne Wiederhall bleiben, von Kämpfen, deren Schlachtruf sie nicht einmal verstehen, und in denen sie nur als dumpfe widerstrebende bleierne Masse in Betracht kommen. Das aber wird wohl ohne Übertreibung die nothwendige Stellung der allermeisten Lehrer an höheren Bildungsanstalten sein müssen: ja, wer erwägt, wie jetzt ein solcher Lehrer zumeist entsteht, wie er zu diesem höheren Bildungslehrer wird, der wird sich über eine solche Stellung nicht einmal wundern. Es existirt jetzt fast überall eine so übertrieben große Anzahl von höheren Bildungsanstalten, daß fortwährend unendlich viel mehr Lehrer für dieselben gebraucht werden, als die Natur eines Volkes, auch bei reicher Anlage, zu erzeugen vermöchte; und so kommt ein Übermaaß von Unberufnen in diese Anstalten, die aber allmählich, durch ihre überwiegende Kopfzahl und mit dem Instinkt des »similis simili gaudet«, den Geist jener Anstalten bestimmen. Diejenigen mögen nur von den pädagogischen Dingen hoffnungslos ferne bleiben, welche vermeinen, es ließe sich die augenscheinliche, in der Zahl bestehende Ubertät unserer Gymnasien und Lehrer durch irgendwelche Gesetze und Vorschriften in eine wirkliche Ubertät, in eine ubertas ingenii, ohne Verminderung jener Zahl, verwandeln. Sondern darüber müssen wir einmüthig sein, daß von der Natur selbst nur unendlich seltne Menschen zu einem wahren Bildungsgange ausgeschickt werden, und daß zu deren glücklicher Entfaltung auch eine weit geringere Anzahl von höheren Bildungsanstalten ausreicht, daß aber in den gegenwärtigen auf breite Massen angelegten Bildungsanstalten gerade Diejenigen am wenigsten sich gefördert fühlen müssen, für die etwas Derartiges zu gründen überhaupt erst einen Sinn hat.
Das Gleiche gilt nun in Betreff der Lehrer. Gerade die besten, diejenigen, die überhaupt nach einem höheren Maßstäbe, dieses Ehrennamens werth sind, eignen sich jetzt, bei dem gegenwärtigen Stande des Gymnasiums, vielleicht am wenigsten zur Erziehung dieser unausgelesenen zusammengewürfelten Jugend, sondern müssen das Beste, was sie geben könnten, gewissermaßen vor ihr geheim halten; und die ungeheuere Mehrzahl der Lehrer fühlt sich wiederum, diesen Anstalten gegenüber, im Recht, weil ihre Begabungen zu dem niedrigen Fluge und der Dürftigkeit ihrer Schüler in einem gewissen harmonischen Verhältnisse stehen. Von dieser Mehrzahl aus erschallt der Ruf nach immer neuen Gründungen von Gymnasien und höheren Lehranstalten: wir leben in einer Zeit, die durch diesen immerfort und mit betäubendem Wechsel erschallenden Ruf allerdings den Eindruck erweckt, als ob ein ungeheures Bildungsbedürfniß in ihr nach Befriedigung dürstete. Aber gerade hier muß man recht zu hören verstehen, gerade hier muß man, durch den tönenden Effekt der Bildungsworte unbeirrt, Denen in’s Antlitz sehen, die so unermüdlich von dem Bildungsbedürfnisse ihrer Zeit reden. Dann wird man eine sonderbare Enttäuschung erleben, dieselbe, die wir, mein guter Freund, so oft erlebt haben: jene lauten Herolde des Bildungsbedürfnisses verwandeln sich plötzlich, bei einer ernsten Besichtigung aus der Nähe, in eifrige, ja fanatische Gegner der wahren Bildung, das heißt derjenigen, welche an der aristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im Grunde meinen sie, als ihr Ziel, die Emancipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen, im Grunde streben sie darnach, die heiligste Ordnung im Reiche des Intellektes umzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ihren Instinkt der Treue unter dem Scepter des Genius.
Ich habe mich längst daran gewöhnt, alle Diejenigen vorsichtig anzusehn, welche eifrig für die sogenannte »Volksbildung«, wie sie gemeinhin verstanden wird, sprechen: denn zumeist wollen sie, bewußt oder unbewußt, bei den allgemeinen Saturnalien der Barbarei, für sich selbst die fessellose Freiheit, die ihnen jene heilige Naturordnung nie gewähren wird; sie sind zum Dienen, zum Gehorchen geboren, und jeder Augenblick, in dem ihre kriechenden oder stelzfüßigen oder flügellahmen Gedanken in Thätigkeit sind, bestätigt, aus welchem Thone die Natur sie formte und welches Fabrikzeichen sie diesem Thone aufgebrannt hat. Also, nicht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werte ausgerüsteten Menschen: wir wissen nun einmal, daß eine gerechte Nachwelt den gesammten Bildungsstand eines Volkes nur ganz allein nach jenen großen, einsam schreitenden Helden einer Zeit beurtheilen und je nach der Art, wie dieselben erkannt, gefördert, geehrt, oder sekretirt, mißhandelt, zerstört worden sind, ihre Stimme abgeben wird. Dem, was man Volksbildung nennt, ist auf direktem Wege, etwa durch allseitig erzwungenen Elementarunterricht, nur ganz äußerlich und roh beizukommen: die eigentlichen, tieferen Regionen, in denen sich überhaupt die große Masse mit der Bildung berührt, dort wo das Volk seine religiösen Instinkte hegt wo es an seinen mythischen Bildern weiterdichtet, wo es seiner Sitte, seinem Recht, seinem Heimathsboden, seiner Sprache Treue bewahrt, alle diese Regionen sind auf direktem Wege kaum und jedenfalls nur durch zerstörende Gewaltsamkeiten zu erreichen: und in diesen ernsten Dingen die Volksbildung wahrhaft fördern heißt eben nur soviel, als diese zerstörenden Gewaltsamkeiten abzuwehren und jenes heilsame Unbewußtsein, jenes Sich-gesund-schlafen des Volkes zu unterhalten, ohne welche Gegenwirkung, ohne welches Heilmittel keine Cultur, bei der aufzehrenden Spannung und Erregung ihrer Wirkungen, bestehen kann.