Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Erst durch eine sol­che Zucht be­kommt der jun­ge Mensch je­nen phy­si­schen Ekel vor der so be­lieb­ten und so ge­prie­se­nen »Ele­ganz« des Stils uns­rer Zei­tungs­fa­brik. Ar­bei­ter und Ro­man­schrei­ber, vor der »ge­wähl­ten Dik­ti­on« un­se­rer Lit­te­ra­ten, und ist mit ei­nem Schla­ge und end­gül­tig über eine gan­ze Rei­he von recht ko­mi­schen Fra­gen und Skru­peln hin­aus­ge­ho­ben, zum Bei­spiel ob Au­er­bach oder Gutz­kow wirk­lich Dich­ter sind: man kann sie ein­fach vor Ekel nicht mehr le­sen, da­mit ist die Fra­ge ent­schie­den. Glau­be Nie­mand, daß es leicht ist, sein Ge­fühl bis zu je­nem phy­si­schen Ekel aus­zu­bil­den: aber hof­fe auch Nie­mand auf ei­nem an­de­ren Wege zu ei­nem äs­the­ti­schen Urt­hei­le zu kom­men als auf dem dor­ni­gen Pfa­de der Spra­che, und zwar nicht der sprach­li­chen For­schung, son­dern der sprach­li­chen Selbst­zucht.

Hier muß es je­dem ernst­haft sich Be­mü­hen­den so er­ge­hen, wie Demje­ni­gen, der als er­wach­se­ner Mensch, etwa als Sol­dat, ge­nö­thigt ist ge­hen zu ler­nen, nach­dem er vor­her im Ge­hen ro­her Di­let­tant und Em­pi­ri­ker war. Es sind müh­se­li­ge Mo­na­te: man fürch­tet daß die Seh­nen rei­ßen möch­ten, man ver­liert alle Hoff­nung, daß die künst­lich und be­wußt er­lern­ten Be­we­gun­gen und Stel­lun­gen der Füße je­mals be­quem und leicht aus­ge­führt wer­den: man sieht mit Schre­cken, wie un­ge­schickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürch­tet je­des Ge­hen ver­lernt zu ha­ben und das rech­te Ge­hen nie zu ler­nen. Und plötz­lich wie­der­um merkt man, daß aus den künst­lich ein­ge­üb­ten Be­we­gun­gen be­reits wie­der eine neue Ge­wohn­heit und zwei­te Na­tur ge­wor­den ist, und daß die alte Si­cher­heit und Kraft des Schrit­tes ge­stärkt und selbst mit ei­ni­ger Gra­zie im Ge­fol­ge zu­rück­kehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Ge­hen ist, und darf sich über den ro­hen Em­pi­ri­ker oder über den ele­gant sich ge­bär­den­den Di­let­tan­ten des Ge­hens lus­tig ma­chen. Un­se­re »ele­gant« ge­nann­ten Schrift­stel­ler ha­ben, wie ihr Stil be­weist, nie ge­hen ge­lernt: und an un­sern Gym­na­si­en lernt man, wie un­se­re Schrift­stel­ler be­wei­sen, nicht ge­hen. Mit der rich­ti­gen Gan­gart der Spra­che aber be­ginnt die Bil­dung: wel­che, wenn sie nur recht be­gon­nen ist, nach­her auch ge­gen jene »ele­gan­ten« Schrift­stel­ler eine phy­si­sche Emp­fin­dung er­zeugt, die man »Ekel« nennt.

Hier er­ken­nen wir die ver­häng­niß­vol­len Con­se­quen­zen un­se­res jet­zi­gen Gym­na­si­ums: da­durch daß es nicht im Stan­de ist, die rech­te und stren­ge Bil­dung, die vor Al­lem Ge­hor­sam und Ge­wöh­nung ist, ein­zu­pflan­zen, da­durch daß es viel­mehr bes­ten Falls in der Er­re­gung und Be­fruch­tung der wis­sen­schaft­li­chen Trie­be über­haupt zu ei­nem Zie­le kommt, er­klärt sich je­nes so häu­fig an­zu­tref­fen­de Bünd­niß der Ge­lehr­sam­keit mit der Bar­ba­rei des Ge­schmacks, der Wis­sen­schaft mit der Jour­na­lis­tik. Man kann heu­te in un­ge­heu­rer All­ge­mein­heit die Wahr­neh­mung ma­chen, daß un­se­re Ge­lehr­ten von je­ner Bil­dungs­hö­he ab­ge­fal­len und her­un­ter­ge­sun­ken sind, die das deut­sche We­sen un­ter den Be­mü­hun­gen Goethe’s, Schil­ler’s, Les­sings und Win­ckel­mann’s er­reicht hat­te: ein Ab­fall, der sich eben in der gröb­li­chen Art von Miß­ver­ständ­nis­sen zeigt, de­nen jene Män­ner un­ter uns, bei den Li­te­ra­tur­his­to­ri­kern eben­so­wohl – ob sie nun Ger­vi­nus oder Ju­li­an Schmidt hei­ßen – als in je­der Ge­sel­lig­keit, ja fast in je­dem Ge­spräch un­ter Män­nern und Frau­en, aus­ge­setzt sind. Am meis­ten aber und am schmerz­lichs­ten zeigt sich ge­ra­de die­ser Ab­fall in der päd­ago­gi­schen, auf das Gym­na­si­um be­züg­li­chen Lit­te­ra­tur. Es kann be­zeugt wer­den, daß der ein­zi­ge Werth, den jene Män­ner für eine wah­re Bil­dungs­an­stalt ha­ben, wäh­rend ei­nes hal­b­en Jahr­hun­derts und län­ger nicht ein­mal aus­ge­spro­chen, ge­schwei­ge denn an­er­kannt wor­den ist: der Werth je­ner Män­ner als der vor­be­rei­ten­den Füh­rer und Mys­t­ago­gen der clas­si­schen Bil­dung, an de­ren Hand al­lein der rich­ti­ge Weg, der zum Al­ter­thum führt, ge­fun­den wer­den kann.

Jede so­ge­nann­te clas­si­sche Bil­dung hat nur einen ge­sun­den und na­tür­li­chen Aus­gangs­punkt, die künst­le­risch erns­te und stren­ge Ge­wöh­nung im Ge­brauch der Mut­ter­spra­che: für die­se aber und für das Ge­heim­niß der Form wird sel­ten Je­mand von in­nen her­aus, aus eig­ner Kraft zu dem rech­ten Pfa­de ge­lei­tet, wäh­rend alle An­de­ren jene großen Füh­rer und Lehr­meis­ter brau­chen und sich ih­rer Hut an­ver­trau­en müs­sen. Es giebt aber gar kei­ne clas­si­sche Bil­dung, die ohne die­sen er­schlos­se­nen Sinn für die Form wach­sen könn­te. Hier, wo all­mäh­lich das un­ter­schei­den­de Ge­fühl für die Form und für die Bar­ba­rei er­wacht, regt sich zum ers­ten Male die Schwin­ge, die der rech­ten und ein­zi­gen Bil­dungs­hei­mat, dem grie­chi­schen Al­ter­thum zu trägt. Frei­lich wür­den wir bei dem Ver­su­che, uns je­ner un­end­lich fer­nen und mit dia­man­te­nen Wäl­len um­schlos­se­nen Burg des Hel­le­ni­schen zunä­hen, mit al­lei­ni­ger Hül­fe je­ner Schwin­ge nicht ge­ra­de weit kom­men: son­dern von Neu­em brau­chen wir die­sel­ben Füh­rer, die­sel­ben Lehr­meis­ter, uns­re deut­schen Klas­si­ker, um un­ter dem Flü­gel­schla­ge ih­rer an­ti­ken Be­stre­bun­gen selbst mit hin­weg­ge­ris­sen zu wer­den – dem Lan­de der Sehn­sucht zu, nach Grie­chen­land.

Von die­sem al­lein mög­li­chen Ver­hält­nis­se zwi­schen un­se­ren Klas­si­kern und der clas­si­schen Bil­dung ist frei­lich kaum ein Laut in die al­tert­hüm­li­chen Mau­ern des Gym­na­si­ums ge­drun­gen. Die Phi­lo­lo­gen sind viel­mehr un­ver­dros­sen be­müht, auf eig­ne Hand ih­ren Ho­mer und So­pho­kles an die jun­gen See­len her­an­zu­brin­gen, und nen­nen das Re­sul­tat ohne Wei­te­res mit ei­nem un­be­an­stan­de­ten Eu­phe­mis­mus »clas­si­sche Bil­dung«. Mag sich je­der an sei­nen Er­fah­run­gen prü­fen, was er von Ho­mer und So­pho­kles, an der Hand je­ner un­ver­dros­se­nen Leh­rer, ge­habt hat. Hier ist ein Be­reich der al­ler­häu­figs­ten und stärks­ten Täu­schun­gen und der un­ab­sicht­lich ver­brei­te­ten Miß­ver­ständ­nis­se. Ich habe noch nie in dem deut­schen Gym­na­si­um auch nur eine Fa­ser von Dem vor­ge­fun­den, was sich wirk­lich »clas­si­sche Bil­dung« nen­nen dürf­te: und dies ist nicht ver­wun­der­lich, wenn man denkt, wie sich das Gym­na­si­um von den deut­schen Clas­si­kern und von der deut­schen Sprach­zucht eman­ci­pirt hat. Mit ei­nem Sprung in’s Blaue kommt Nie­mand in’s Al­ter­thum: und doch ist die gan­ze Art, wie man auf den Schu­len mit an­ti­ken Schrift­stel­lern ver­kehrt, das red­li­che Com­men­ti­ren und Pa­ra­phra­si­ren un­se­rer phi­lo­lo­gi­schen Leh­rer ein sol­cher Sprung in’s Blaue.

Das Ge­fühl für das Clas­sisch-Hel­le­ni­sche ist näm­lich ein so sel­te­nes Re­sul­tat des an­ge­streng­tes­ten Bil­dungs­kamp­fes und der künst­le­ri­schen Be­ga­bung, daß nur durch ein gro­bes Miß­ver­ständ­niß das Gym­na­si­um be­reits den An­spruch er­he­ben kann, dies Ge­fühl zu we­cken. In wel­chem Al­ter? In ei­nem Al­ter, das noch blind her­um­ge­zo­gen wird von den bun­tes­ten Nei­gun­gen des Ta­ges, das noch kei­ne Ah­nung da­von in sich trägt, daß je­nes Ge­fühl für das Hel­le­ni­sche, wenn es ein­mal er­wacht ist, so­fort ag­gres­siv wird und in ei­nem un­aus­ge­setz­ten Kamp­fe ge­gen die an­geb­li­che Cul­tur der Ge­gen­wart sich aus­drücken muß. Für den jet­zi­gen Gym­na­sias­ten sind die Hel­le­nen als Hel­le­nen todt: ja, er hat sei­ne Freu­de am Ho­mer, aber ein Ro­man von Spiel­ha­gen fes­selt ihn doch bei wei­tem stär­ker: ja, er ver­schluckt mit ei­ni­gem Wohl­be­ha­gen die grie­chi­sche Tra­gö­die und Ko­mö­die, aber so ein recht mo­der­nes Dra­ma, wie die Jour­na­lis­ten von Frey­tag, be­rührt ihn doch ganz an­ders. Ja, er ist, im Hin­blick auf alle an­ti­ken Au­to­ren, ge­neigt ähn­lich zu re­den, wie der Kun­stäs­the­ti­ker Her­mann Grimm, der ein­mal in ei­nem ge­wun­de­nen Auf­satz über die Ve­nus von Milo sich end­lich doch fragt: »Was ist mir die­se Ge­stalt ei­ner Göt­tin? Was nüt­zen mir die Ge­dan­ken, die sie in mir er­wa­chen läßt? Orest und Ödi­pus, Iphi­ge­nie und An­ti­go­ne, was ha­ben sie ge­mein mit mei­nem Her­zen?« – Nein, mei­ne Gym­na­sias­ten, die Ve­nus von Milo geht euch nichts an: aber eure Leh­rer eben­so­we­nig – und das ist das Un­glück, das ist das Ge­heim­niß des jet­zi­gen Gym­na­si­ums. Wer wird euch zur Hei­mat der Bil­dung füh­ren, wenn eure Füh­rer blind sind und gar noch als Se­hen­de sich aus­ge­ben! Wer von euch wird zu ei­nem wah­ren Ge­fühl für den hei­li­gen Ernst der Kunst kom­men, wenn ihr mit Metho­de ver­wöhnt wer­det, selb­stän­dig zu stot­tern, wo man euch leh­ren soll­te zu spre­chen, selb­stän­dig zu äs­the­ti­si­ren, wo man euch an­lei­ten soll­te vor dem Kunst­werk an­däch­tig zu sein, selb­stän­dig zu phi­lo­so­phi­ren, wo man euch zwin­gen soll­te, auf große Den­ker zu hö­ren: Al­les mit dem Re­sul­tat, daß ihr dem Al­ter­thu­me ewig fern bleibt und Die­ner des Ta­ges wer­det.

Das Heil­sams­te, was die jet­zi­ge In­sti­tu­ti­on des Gym­na­si­ums in sich birgt, liegt je­den­falls in dem Erns­te, mit dem die la­tei­ni­sche und grie­chi­sche Spra­che durch eine gan­ze Rei­he von Jah­ren hin­durch be­han­delt wird: hier lernt man den Re­spekt vor ei­ner re­gel­recht fi­xir­ten Spra­che, vor Gram­ma­tik und Le­xi­kon, hier weiß man noch, was ein Feh­ler ist, und wird nicht je­den Au­gen­blick durch den An­spruch in­com­mo­dirt, daß auch gram­ma­ti­sche und or­tho­gra­phi­sche Gril­len und Un­ar­ten, wie in dem deut­schen Stil der Ge­gen­wart, sich be­rech­tigt füh­len. Wenn nur die­ser Re­spekt vor der Spra­che nicht so in der Luft hän­gen blie­be, gleich­sam als eine theo­re­ti­sche Bür­de, von der man sich bei sei­ner Mut­ter­spra­che so­fort wie­der ent­las­tet! Ge­wöhn­lich pflegt viel­mehr der la­tei­ni­sche oder grie­chi­sche Leh­rer selbst mit die­ser Mut­ter­spra­che we­nig Um­stän­de zu ma­chen, er be­han­delt sie von vorn­her­ein als ein Be­reich, auf dem man sich von der stren­gen Zucht des La­tei­ni­schen und des Grie­chi­schen wie­der er­ho­len darf, auf dem wie­der die läs­si­ge Ge­müth­lich­keit er­laubt ist, mit der der Deut­sche al­les Hei­mi­sche zu be­han­deln pflegt. Jene herr­li­chen Übun­gen, aus ei­ner Spra­che in die an­de­re zu über­set­zen, die auf das heil­sams­te auch den künst­le­ri­schen Sinn für die eig­ne Spra­che be­fruch­ten kön­nen, sind nach der Sei­te des Deut­schen hin nie­mals mit der ge­büh­ren­den ka­te­go­ri­schen Stren­ge und Wür­de durch­ge­führt wur­den, die hier, als bei ei­ner un­dis­ci­pli­nir­ten Spra­che, vor Al­lem noth thut. Neu­er­dings ver­schwin­den auch die­se Übun­gen im­mer mehr: man be­gnügt sich, die frem­den klas­si­schen Spra­chen zu wis­sen, man ver­schmäht es sie zu kön­nen.

 

Hier bricht wie­der die ge­lehr­ten­haf­te Ten­denz in der Auf­fas­sung des Gym­na­si­ums durch: ein Phä­no­men, wel­ches auf die in frü­he­rer Zeit ein­mal ernst ge­nom­me­ne Hu­ma­ni­täts­bil­dung als Ziel des Gym­na­si­ums ein auf­klä­ren­des Licht wirft. Es war die Zeit un­se­rer großen Dich­ter, das heißt je­ner we­ni­gen wahr­haft ge­bil­de­ten Deut­schen, als von dem groß­ar­ti­gen Fried­rich Au­gust Wolf der neue, von Grie­chen­land und Rom her durch jene Män­ner strö­men­de clas­si­sche Geist auf das Gym­na­si­um ge­lei­tet wur­de; sei­nem küh­nen Be­gin­nen ge­lang es, ein neu­es Bild des Gym­na­si­ums auf­zu­stel­len, das von jetzt ab nicht etwa nur noch eine Pflanz­stät­te der Wis­sen­schaft, son­dern vor Al­lem die ei­gent­li­che Wei­he­stät­te für all­hö­he­re und ed­le­re Bil­dung wer­den soll­te.

Von den äu­ßer­lich dazu nö­thig er­schei­nen­den Maß­re­geln sind sehr we­sent­li­che mit dau­ern­dem Er­fol­ge auf die mo­der­ne Ge­stal­tung des Gym­na­si­ums über­ge­gan­gen: nur ist ge­ra­de das Wich­tigs­te nicht ge­lun­gen, die Leh­rer selbst mit die­sem neu­en Geis­te zu wei­hen, so daß sich in­zwi­schen das Ziel des Gym­na­si­ums wie­der be­deu­tend von je­ner durch Wolf an­ge­streb­ten Hu­ma­ni­täts­bil­dung ent­fernt hat. Viel­mehr hat die alte, von Wolf selbst über­wun­de­ne ab­so­lu­te Schät­zung der Ge­lehr­sam­keit und der ge­lehr­ten Bil­dung all­mäh­lich nach mat­tem Kamp­fe die Stel­le des ein­ge­drung­nen Bil­dungs­prin­cips ein­ge­nom­men und be­haup­tet jetzt wie­der, wenn­gleich nicht mit der frü­he­ren Of­fen­heit, son­dern mas­kirt, und mit ver­hüll­tem An­ge­sicht, ihre al­lei­ni­ge Be­rech­ti­gung. Und daß es nicht ge­lin­gen woll­te, das Gym­na­si­um in den groß­ar­ti­gen Zug der clas­si­schen Bil­dung zu brin­gen, lag in dem un­deut­schen, bei­na­he aus­län­di­schen oder kos­mo­po­li­ti­schen Cha­rak­ter die­ser Bil­dungs­be­mü­hun­gen, in dem Glau­ben, daß es mög­lich sei, sich den hei­mi­schen Bo­den un­ter den Fü­ßen fort­zu­ziehn und dann doch noch fest­ste­hen zu kön­nen, in dem Wah­ne, daß man in die ent­frem­de­te hel­le­ni­sche Welt durch Ver­leug­nung des deut­schen, über­haupt des na­tio­na­len Geis­tes gleich­sam di­rekt und ohne Brücken hin­ein­sprin­gen kön­ne.

Frei­lich muß man ver­stehn, die­sen deut­schen Geist erst in sei­nen Ver­ste­cken, un­ter mo­di­schen Über­klei­dun­gen oder un­ter Trüm­mer­hau­fen, auf­zu­su­chen, man muß ihn so lie­ben, um sich auch sei­ner ver­küm­mer­ten Form nicht zu schä­men, man muß vor Al­lem sich hü­ten, ihn nicht mit Dem zu ver­wech­seln, was sich jetzt mit stol­zer Ge­bär­de als »deut­sche Cul­tur der Jetzt­zeit« be­zeich­net. Mit die­ser ist viel­mehr je­ner Geist in­ner­lich ver­fein­det: und ge­ra­de in den Sphä­ren, über de­ren Man­gel an Cul­tur jene »Jetzt­zeit« zu kla­gen pflegt, hat sich oft­mals ge­ra­de je­ner äch­te deut­sche Geist, wenn­gleich nicht in an­muthen­der Form und un­ter ro­hen Äu­ßer­lich­kei­ten er­hal­ten. Was da­ge­gen sich jetzt mit be­son­de­rem Dün­kel »deut­sche Cul­tur« nennt, ist ein kos­mo­po­li­ti­sches Ag­gre­gat, das sich zum deut­schen Geis­te ver­hält, wie der Jour­na­list zu Schil­ler, wie Meyer­beer zu Beetho­ven: hier übt den stärks­ten Ein­fluß die im tiefs­ten Fun­da­men­te un­ger­ma­ni­sche Ci­vi­li­sa­ti­on der Fran­zo­sen, die ta­lent­los und mit un­si­chers­tem Ge­schmack nach­ge­ahmt wird und in die­ser Nach­ah­mung der deut­schen Ge­sell­schaft und Pres­se, Kunst und Sti­lis­tik eine gleiß­ne­ri­sche Form giebt. Frei­lich bringt es die­se Co­pie nir­gends zu ei­ner so künst­le­risch ab­ge­schlos­se­nen Wir­kung, wie sie jene ori­gi­na­le, aus dem We­sen des Ro­ma­ni­schen her­vor­ge­wach­se­ne Ci­vi­li­sa­ti­on fast bis auf uns­re Tage in Frank­reich her­vor­bringt. Um die­sen Ge­gen­satz nach­zu­emp­fin­den, ver­glei­che man un­se­re nam­haf­tes­ten deut­schen Ro­man­schrei­ber mit je­dem auch we­ni­ger nam­haf­ten fran­zö­si­schen oder ita­liä­ni­schen: auf bei­den Sei­ten die­sel­ben zwei­fel­haf­ten Ten­den­zen und Zie­le, die­sel­ben noch zwei­fel­haf­te­ren Mit­tel, aber dort mit künst­le­ri­schem Ernst, min­des­tens mit sprach­li­cher Cor­rekt­heit, oft mit Schön­heit ver­bun­den, über­all der Wie­der­klang ei­ner ent­spre­chen­den ge­sell­schaft­li­chen Cul­tur, hier Al­les un­o­ri­gi­nal, schlot­te­rig, im Haus­ro­cke des Ge­dan­kens und des Aus­drucks oder un­an­ge­nehm ge­spreizt, dazu ohne je­den Hin­ter­grund ei­ner wirk­li­chen ge­sell­schaft­li­chen Form, höchs­tens durch ge­lehr­te Ma­nie­ren und Kennt­nis­se dar­an er­in­nernd, daß in Deutsch­land der ver­dor­be­ne Ge­lehr­te, in den ro­ma­ni­schen Län­dern der künst­le­risch ge­bil­de­te Mensch zum Jour­na­lis­ten wird. Mit die­ser an­geb­lich deut­schen, im Grun­de un­o­ri­gi­na­len Cul­tur darf der Deut­sche sich nir­gends Sie­ge ver­spre­chen: in ihr be­schämt ihn der Fran­zo­se und der Ita­liä­ner und, was die ge­schick­te Nach­ah­mung ei­ner frem­den Cul­tur be­trifft, vor Al­lem der Rus­se.

Um so fes­ter hal­ten wir an dem deut­schen Geis­te fest, der sich in der deut­schen Re­for­ma­ti­on und in der deut­schen Mu­sik of­fen­bart hat und der in der un­ge­heu­ren Tap­fer­keit und Stren­ge der deut­schen Phi­lo­so­phie und in der neu­er­dings er­prob­ten Treue des deut­schen Sol­da­ten jene nach­hal­ti­ge, al­lem Schei­ne ab­ge­neig­te Kraft be­wie­sen hat, von der wir auch einen Sieg über jene mo­di­sche Pseu­do­cul­tur der »Jetzt­zeit« er­war­ten dür­fen. In die­sen Kampf die wah­re Bil­dungs­schu­le hin­ein­zu­ziehn und be­son­ders im Gym­na­si­um die her­an­wach­sen­de neue Ge­ne­ra­ti­on für Das zu ent­zün­den, was wahr­haft deutsch ist, ist die von uns ge­hoff­te Zu­kunfts­t­lo­sig­keit der Schu­le: in wel­cher auch end­lich die so­ge­nann­te clas­si­sche Bil­dung wie­der ih­ren na­tür­li­chen Bo­den und ih­ren ein­zi­gen Aus­gangs­punkt er­hal­ten wird.

Eine wah­re Er­neue­rung und Rei­ni­gung des Gym­na­si­ums wird nur aus ei­ner tie­fen und ge­wal­ti­gen Er­neue­rung und Rei­ni­gung des deut­schen Geis­tes her­vor­gehn. Sehr ge­heim­niß­voll und schwer zu er­fas­sen ist das Band, wel­ches wirk­lich zwi­schen dem in­ners­ten deut­schen We­sen und dem grie­chi­schen Ge­ni­us sich knüpft. Be­vor aber nicht das edels­te Be­dürf­nis; des äch­ten deut­schen Geis­tes nach der Hand die­ses grie­chi­schen Ge­ni­us, wie nach ei­ner fes­ten Stüt­ze im Stro­me der Bar­ba­rei hascht, be­vor aus die­sem deut­schen Geis­te nicht eine ver­zeh­ren­de Sehn­sucht nach den Grie­chen her­vor­bricht, be­vor nicht die müh­sam er­run­ge­ne Fern­sicht in die grie­chi­sche Hei­mat, an der Schil­ler und Goe­the sich er­lab­ten, zur Wall­fahrts­stät­te der bes­ten und be­gab­tes­ten Men­schen ge­wor­den ist, wird das clas­si­sche Bil­dungs­ziel des Gym­na­si­ums halt­los in der Luft hin- und her­flat­tern: und Die­je­ni­gen wer­den we­nigs­tens nicht zu ta­deln sein, wel­che eine noch so be­schränk­te Wis­sen­schaft­lich­keit und Ge­lehr­sam­keit im Gym­na­si­um her­an­ziehn wol­len, um doch ein wirk­li­ches, fes­tes und im­mer­hin idea­les Ziel im Auge zu ha­ben und ihre Schü­ler vor den Ver­füh­run­gen je­nes glit­zern­den Phan­toms zu ret­ten, das sich jetzt »Cul­tur« und »Bil­dung« nen­nen läßt. Das ist die trau­ri­ge Lage des jet­zi­gen Gym­na­si­ums: die be­schränk­tes­ten Stand­punk­te sind ge­wis­ser­ma­ßen im Recht, weil Nie­mand im Stan­de ist, den Ort zu er­rei­chen oder we­nigs­tens zu be­zeich­nen, wo alle die­se Stand­punk­te zum Un­recht wer­den.«

»Nie­mand?« frag­te der Schü­ler den Phi­lo­so­phen mit ei­ner ge­wis­sen Rüh­rung in der Stim­me: und bei­de ver­stumm­ten.

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Drit­ter Vor­trag.

(Ge­hal­ten am 27. Fe­bru­ar 1872.)

Ver­ehr­te An­we­sen­de! Das Ge­spräch, des­sen Zu­hö­rer ich einst war und des­sen Grund­zü­ge ich hier vor Ih­nen aus leb­haf­ter Erin­ne­rung nach­zu­zeich­nen ver­su­che, war an dem Punk­te, wo ich das letz­te Mal mei­ne Er­zäh­lung be­schloß, durch eine erns­te und lan­ge Pau­se un­ter­bro­chen wor­den. Der Phi­lo­soph so­wohl wie sein Beglei­ter sa­ßen in trüb­sin­ni­ges Schwei­gen ver­sun­ken da: Je­dem von ih­nen lag der eben be­sproch­ne selt­sa­me Noth­stand der wich­tigs­ten Bil­dungs­an­stalt, des Gym­na­si­ums, auf der See­le, als eine Last, zu de­ren Be­sei­ti­gung der gut­ge­sinn­te Ein­zel­ne zu schwach und die Mas­se nicht gut­ge­sinnt ge­nug ist.

Zwei­er­lei be­son­ders be­trüb­te uns­re ein­sa­men Den­ker: ein­mal die deut­li­che Ein­sicht, wie Das, was mit Recht »clas­si­sche Bil­dung« zu nen­nen wäre, jetzt nur ein in frei­er Luft schwe­ben­des Bil­dungs­ide­al ist, das aus dem Bo­den un­se­rer Er­zie­hungs­ap­pa­ra­te gar nicht her­vor­zu­wach­sen ver­mö­ge, wie Das hin­ge­gen, was mit ei­nem land­läu­fi­gen und nicht be­an­stan­de­ten Eu­phe­mis­mus jetzt als »clas­si­sche Bil­dung« be­zeich­net wird, eben nur den Werth ei­ner an­spruchs­vol­len Il­lu­si­on hat: de­ren bes­te Wir­kung noch dar­in be­steht, daß das Wort selbst »clas­si­sche Bil­dung« doch noch wei­ter lebt und sei­nen pa­the­ti­schen Klang noch nicht ver­lo­ren hat. An dem deut­schen Un­ter­richt so­dann hat­ten sich die ehr­li­chen Män­ner mit­ein­an­der deut­lich ge­macht, daß be­reits der rich­ti­ge Aus­gangs­punkt für eine hö­he­re, an den Pfei­lern des Al­ter­thums auf­zu­rich­ten­de Bil­dung bis jetzt nicht ge­fun­den sei: die Ver­wil­de­rung der sprach­li­chen Un­ter­wei­sung, das He­rein­drin­gen ge­lehr­ten­haf­ter his­to­ri­scher Rich­tun­gen an Stel­le ei­ner prak­ti­schen Zucht und Ge­wöh­nung, die Ver­knüp­fung ge­wis­ser, in den Gym­na­si­en ge­for­der­ten Übun­gen mit dem be­denk­li­chen Geis­te un­se­rer jour­na­lis­ti­schen Öf­fent­lich­keit – alle die­se am deut­schen Un­ter­rich­te wahr­nehm­ba­ren Phä­no­me­ne ga­ben die trau­ri­ge Ge­wiß­heit, daß die heil­sams­ten vom clas­si­schen Al­ter­thu­me aus­ge­hen­den Kräf­te noch nicht ein­mal in un­sern Gym­na­si­en ge­ahnt wer­den, jene Kräf­te näm­lich, wel­che zum Kamp­fe mit der Bar­ba­rei der Ge­gen­wart vor­be­rei­ten, und wel­che viel­leicht noch ein­mal die Gym­na­si­en in die Zeughäu­ser und Werk­stät­ten die­ses Kamp­fes um­wan­deln wer­den.

In­zwi­schen schi­en es im Ge­gent­heil, als ob recht grund­sätz­lich der Geist des Al­ter­thums be­reits an der Schwel­le des Gym­na­si­ums weg­ge­trie­ben wer­den soll­te, und als ob man auch hier dem durch Schmei­che­lei­en ver­wöhn­ten We­sen un­se­rer jet­zi­gen an­geb­li­chen »deut­schen Cul­tur« die Tho­re so weit als mög­lich öff­nen wol­le. Und wenn es für un­se­re ein­sa­men Un­ter­red­ner eine Hoff­nung zu ge­ben schi­en, so war es die, daß es noch schlim­mer kom­men müs­se, daß Das, was von We­ni­gen bis­her er­rat­hen wur­de, bald Vie­len zu­dring­lich deut­lich sein wer­de, und daß dann die Zeit der Ehr­li­chen und der Ent­schlos­se­nen auch für das erns­te Be­reich der Volks­er­zie­hung nicht mehr fer­ne sei.

Nach ei­ni­ger Zeit schweig­sa­mer Über­le­gung wen­de­te sich der Beglei­ter an den Phi­lo­so­phen und sag­te ihm: »Sie woll­ten mir Hoff­nun­gen ma­chen, mein Leh­rer; aber Sie ha­ben mir mei­ne Ein­sicht, und da­durch mei­ne Kraft, mei­nen Muth ver­mehrt: wirk­lich sehe ich jetzt küh­ner auf das Kampf­feld hin, wirk­lich miß­bil­li­ge ich be­reits mei­ne all­zu­schnel­le Flucht. Wir wol­len ja nichts für uns; und auch das darf uns nicht küm­mern, wie vie­le In­di­vi­du­en in die­sem Kamp­fe zu Grun­de gehn, und ob wir selbst etwa un­ter den Gif­ten fal­len. Gera­de weil wir es ernst neh­men, soll­ten wir uns­re ar­men In­di­vi­du­en nicht so ernst neh­men; im Au­gen­blick, wo wir sin­ken, wird wohl ein An­de­rer die Fah­ne fas­sen, an de­ren Ehren­zei­chen wir glau­ben. Selbst dar­über will ich nicht nach­den­ken, ob ich kräf­tig ge­nug zu ei­nem sol­chen Kamp­fe bin, ob ich lan­ge wi­der­ste­hen wer­de; es mag wohl selbst ein eh­ren­vol­ler Tod sein, un­ter dem spöt­ti­schen Ge­läch­ter sol­cher Fein­de zu fal­len, de­ren Ernst­haf­tig­keit uns so häu­fig als et­was Lä­cher­li­ches er­schie­nen ist. Den­ke ich an die Art, wie sich mei­ne Al­ters­ge­nos­sen zu dem glei­chen Be­ru­fe, wie ich, zu dem höchs­ten Lehr­er­be­ru­fe, vor­be­rei­te­ten, so weiß ich, wie oft wir ge­ra­de über das Ent­ge­gen­ge­setz­te lach­ten, über das Ver­schie­dens­te ernst wur­den –«

 

»Nun, mein Freund«, un­ter­brach ihn la­chend der Phi­lo­soph, »du sprichst, wie Ei­ner, der in’s Was­ser sprin­gen will, ohne schwim­men zu kön­nen, und mehr als das Er­trin­ken da­bei fürch­tet, nicht zu er­trin­ken und aus­ge­lacht zu wer­den. Das Aus­ge­lacht­wer­den soll aber uns­re letz­te Be­fürch­tung sein; denn wir sind hier auf ei­nem Ge­bie­te, wo es so viel Wahr­hei­ten zu sa­gen giebt, so viel er­schreck­li­che pein­li­che un­ver­zeih­li­che Wahr­hei­ten, daß der auf­rich­tigs­te Haß uns nicht feh­len wird, und nur die Wuth es hier und da ein­mal zu ei­nem ver­leg­nen La­chen brin­gen möch­te. Den­ke dir nur ein­mal die un­ab­seh­ba­ren Schaa­ren der Leh­rer, die im bes­ten Glau­ben das bis­he­ri­ge Er­zie­hungs­sys­tem in sich auf­ge­nom­men ha­ben, um es nun gu­ten Muths und ohne ernst­li­che Be­den­ken wei­ter zu tra­gen – wie meinst du wohl, daß es die­sen vor­kom­men muß, wenn sie von Plä­nen hö­ren, von de­nen sie aus­ge­schlos­sen sind und zwar be­ne­fi­cio na­tu­rae, von For­de­run­gen, die weit über ihre mitt­le­ren Be­fä­hi­gun­gen hin­aus­flie­gen, von Hoff­nun­gen, die in ih­nen ohne Wie­der­hall blei­ben, von Kämp­fen, de­ren Schlacht­ruf sie nicht ein­mal ver­ste­hen, und in de­nen sie nur als dump­fe wi­der­stre­ben­de blei­er­ne Mas­se in Be­tracht kom­men. Das aber wird wohl ohne Über­trei­bung die nothwen­di­ge Stel­lung der al­ler­meis­ten Leh­rer an hö­he­ren Bil­dungs­an­stal­ten sein müs­sen: ja, wer er­wägt, wie jetzt ein sol­cher Leh­rer zu­meist ent­steht, wie er zu die­sem hö­he­ren Bil­dungs­leh­rer wird, der wird sich über eine sol­che Stel­lung nicht ein­mal wun­dern. Es existirt jetzt fast über­all eine so über­trie­ben große An­zahl von hö­he­ren Bil­dungs­an­stal­ten, daß fort­wäh­rend un­end­lich viel mehr Leh­rer für die­sel­ben ge­braucht wer­den, als die Na­tur ei­nes Vol­kes, auch bei rei­cher An­la­ge, zu er­zeu­gen ver­möch­te; und so kommt ein Über­maaß von Un­be­ruf­nen in die­se An­stal­ten, die aber all­mäh­lich, durch ihre über­wie­gen­de Kopf­zahl und mit dem In­stinkt des »si­mi­lis si­mi­li gau­det«, den Geist je­ner An­stal­ten be­stim­men. Die­je­ni­gen mö­gen nur von den päd­ago­gi­schen Din­gen hoff­nungs­los fer­ne blei­ben, wel­che ver­mei­nen, es lie­ße sich die au­gen­schein­li­che, in der Zahl be­ste­hen­de Uber­tät un­se­rer Gym­na­si­en und Leh­rer durch ir­gend­wel­che Ge­set­ze und Vor­schrif­ten in eine wirk­li­che Uber­tät, in eine u­ber­tas in­ge­ni­i, ohne Ver­min­de­rung je­ner Zahl, ver­wan­deln. Son­dern dar­über müs­sen wir ein­müthig sein, daß von der Na­tur selbst nur un­end­lich selt­ne Men­schen zu ei­nem wah­ren Bil­dungs­gan­ge aus­ge­schickt wer­den, und daß zu de­ren glück­li­cher Ent­fal­tung auch eine weit ge­rin­ge­re An­zahl von hö­he­ren Bil­dungs­an­stal­ten aus­reicht, daß aber in den ge­gen­wär­ti­gen auf brei­te Mas­sen an­ge­leg­ten Bil­dungs­an­stal­ten ge­ra­de Die­je­ni­gen am we­nigs­ten sich ge­för­dert füh­len müs­sen, für die et­was Der­ar­ti­ges zu grün­den über­haupt erst einen Sinn hat.

Das Glei­che gilt nun in Be­treff der Leh­rer. Gera­de die bes­ten, die­je­ni­gen, die über­haupt nach ei­nem hö­he­ren Maß­stä­be, die­ses Ehren­na­mens werth sind, eig­nen sich jetzt, bei dem ge­gen­wär­ti­gen Stan­de des Gym­na­si­ums, viel­leicht am we­nigs­ten zur Er­zie­hung die­ser un­aus­ge­le­se­nen zu­sam­men­ge­wür­fel­ten Ju­gend, son­dern müs­sen das Bes­te, was sie ge­ben könn­ten, ge­wis­ser­ma­ßen vor ihr ge­heim hal­ten; und die un­ge­heue­re Mehr­zahl der Leh­rer fühlt sich wie­der­um, die­sen An­stal­ten ge­gen­über, im Recht, weil ihre Be­ga­bun­gen zu dem nied­ri­gen Flu­ge und der Dürf­tig­keit ih­rer Schü­ler in ei­nem ge­wis­sen har­mo­ni­schen Ver­hält­nis­se ste­hen. Von die­ser Mehr­zahl aus er­schallt der Ruf nach im­mer neu­en Grün­dun­gen von Gym­na­si­en und hö­he­ren Lehr­an­stal­ten: wir le­ben in ei­ner Zeit, die durch die­sen im­mer­fort und mit be­täu­ben­dem Wech­sel er­schal­len­den Ruf al­ler­dings den Ein­druck er­weckt, als ob ein un­ge­heu­res Bil­dungs­be­dürf­niß in ihr nach Be­frie­di­gung dürs­te­te. Aber ge­ra­de hier muß man recht zu hö­ren ver­ste­hen, ge­ra­de hier muß man, durch den tö­nen­den Ef­fekt der Bil­dungs­wor­te un­be­irrt, De­nen in’s Ant­litz se­hen, die so un­er­müd­lich von dem Bil­dungs­be­dürf­nis­se ih­rer Zeit re­den. Dann wird man eine son­der­ba­re Ent­täu­schung er­le­ben, die­sel­be, die wir, mein gu­ter Freund, so oft er­lebt ha­ben: jene lau­ten He­rol­de des Bil­dungs­be­dürf­nis­ses ver­wan­deln sich plötz­lich, bei ei­ner erns­ten Be­sich­ti­gung aus der Nähe, in eif­ri­ge, ja fa­na­ti­sche Geg­ner der wah­ren Bil­dung, das heißt der­je­ni­gen, wel­che an der ari­sto­kra­ti­schen Na­tur des Geis­tes fest­hält: denn im Grun­de mei­nen sie, als ihr Ziel, die Eman­ci­pa­ti­on der Mas­sen von der Herr­schaft der großen Ein­zel­nen, im Grun­de stre­ben sie dar­nach, die hei­ligs­te Ord­nung im Rei­che des In­tel­lek­tes um­zu­stür­zen, die Dienst­bar­keit der Mas­se, ih­ren un­ter­wür­fi­gen Ge­hor­sam, ih­ren In­stinkt der Treue un­ter dem Scep­ter des Ge­ni­us.

Ich habe mich längst dar­an ge­wöhnt, alle Die­je­ni­gen vor­sich­tig an­zu­sehn, wel­che eif­rig für die so­ge­nann­te »Volks­bil­dung«, wie sie ge­mein­hin ver­stan­den wird, spre­chen: denn zu­meist wol­len sie, be­wußt oder un­be­wußt, bei den all­ge­mei­nen Sa­tur­na­li­en der Bar­ba­rei, für sich selbst die fes­sel­lo­se Frei­heit, die ih­nen jene hei­li­ge Na­tu­r­ord­nung nie ge­wäh­ren wird; sie sind zum Die­nen, zum Ge­hor­chen ge­bo­ren, und je­der Au­gen­blick, in dem ihre krie­chen­den oder stelz­fü­ßi­gen oder flü­gel­lah­men Ge­dan­ken in Thä­tig­keit sind, be­stä­tigt, aus wel­chem Tho­ne die Na­tur sie form­te und wel­ches Fa­brik­zei­chen sie die­sem Tho­ne auf­ge­brannt hat. Also, nicht Bil­dung der Mas­se kann un­ser Ziel sein: son­dern Bil­dung der ein­zel­nen aus­ge­le­se­nen, für große und blei­ben­de Wer­te aus­ge­rüs­te­ten Men­schen: wir wis­sen nun ein­mal, daß eine ge­rech­te Nach­welt den ge­samm­ten Bil­dungs­stand ei­nes Vol­kes nur ganz al­lein nach je­nen großen, ein­sam schrei­ten­den Hel­den ei­ner Zeit be­urt­hei­len und je nach der Art, wie die­sel­ben er­kannt, ge­för­dert, ge­ehrt, oder se­kre­tirt, miß­han­delt, zer­stört wor­den sind, ihre Stim­me ab­ge­ben wird. Dem, was man Volks­bil­dung nennt, ist auf di­rek­tem Wege, etwa durch all­sei­tig er­zwun­ge­nen Ele­men­tar­un­ter­richt, nur ganz äu­ßer­lich und roh bei­zu­kom­men: die ei­gent­li­chen, tiefe­ren Re­gio­nen, in de­nen sich über­haupt die große Mas­se mit der Bil­dung be­rührt, dort wo das Volk sei­ne re­li­gi­ösen In­stink­te hegt wo es an sei­nen my­thi­schen Bil­dern wei­ter­dich­tet, wo es sei­ner Sit­te, sei­nem Recht, sei­nem Hei­maths­bo­den, sei­ner Spra­che Treue be­wahrt, alle die­se Re­gio­nen sind auf di­rek­tem Wege kaum und je­den­falls nur durch zer­stö­ren­de Ge­walt­sam­kei­ten zu er­rei­chen: und in die­sen erns­ten Din­gen die Volks­bil­dung wahr­haft för­dern heißt eben nur so­viel, als die­se zer­stö­ren­den Ge­walt­sam­kei­ten ab­zu­weh­ren und je­nes heil­sa­me Un­be­wußt­sein, je­nes Sich-ge­sund-schla­fen des Vol­kes zu un­ter­hal­ten, ohne wel­che Ge­gen­wir­kung, ohne wel­ches Heil­mit­tel kei­ne Cul­tur, bei der auf­zeh­ren­den Span­nung und Er­re­gung ih­rer Wir­kun­gen, be­ste­hen kann.