Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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So gien­gen wir ne­ben dem Phi­lo­so­phen her, be­schämt, mit­lei­dig, un­zu­frie­den mit uns und mehr als je über­zeugt, daß der Greis Recht ha­ben müs­se, und daß wir ihm Un­recht gethan hät­ten. Wie weit zu­rück lag jetzt der Ju­gendtraum un­se­rer Bil­dungs­an­stalt, wie deut­lich er­kann­ten wir die Ge­fahr, an der wir bis­her nur durch einen Zu­fall vor­bei­ge­schlüpft wa­ren, uns näm­lich mit Haut und Haar dem Bil­dungs­we­sen zu ver­lau­fen, das von je­nen Kna­ben­jah­ren an, be­reits aus un­serm Gym­na­si­um her­aus, ver­lo­ckend zu uns ge­spro­chen hat­te! Wo­rin lag es doch, daß wir noch nicht im öf­fent­li­chen Cho­rus sei­ner Be­wun­de­rer stan­den? Vi­el­leicht nur dar­in, daß wir noch wirk­li­che Stu­den­ten wa­ren, daß wir uns noch, aus dem gie­ri­gen Ha­schen und Drän­gen, aus dem rast­lo­sen und sich über­stür­zen­den Wel­len­schlag der Öf­fent­lich­keit, auf jene bald nun auch weg­ge­schwemm­te In­sel zu­rück­ziehn konn­ten!

Von der­ar­ti­gen Ge­dan­ken über­wäl­tigt wa­ren wir im Be­griff den Phi­lo­so­phen an­zu­re­den, als er sich plötz­lich ge­gen uns wen­de­te und mit mil­de­rer Stim­me be­gann: »Ich darf mich nicht wun­dern, wenn ihr euch ju­gend­lich, un­vor­sich­tig und vor­ei­lig be­nahmt. Denn schwer­lich hat­tet ihr über Das, was ihr von mir hör­tet, schon je­mals ernst­haft nach­ge­dacht. Laßt euch Zeit, tragt es mit euch her­um, aber denkt dar­an Tag und Nacht. Denn jetzt seid ihr an den Kreuz­weg ge­stellt, jetzt wißt ihr, wo­hin die bei­den Wege füh­ren. Auf dem einen wan­delnd, seid ihr eu­rer Zeit will­kom­men, sie wird es an Krän­zen und Sie­ges­zei­chen nicht feh­len las­sen: un­ge­heu­re Par­tei­en wer­den euch tra­gen, hin­ter eu­rem Rücken wer­den eben­so­viel Gleich­ge­sinn­te wie vor euch ste­hen. Und wenn der Vor­der­mann ein Lo­sungs­wort aus­spricht, so hallt es in al­len Rei­hen wie­der. Hier heißt die ers­te Pf­licht: in Reih und Glied kämp­fen, die zwei­te: alle Die zu ver­nich­ten, die sich nicht in Reih und Glied stel­len wol­len. Der and­re Weg führt euch mit selt­ne­ren Wan­der­ge­nos­sen zu­sam­men, er ist schwie­ri­ger, ver­schlun­ge­ner und stei­ler: Die, wel­che auf dem ers­ten ge­hen, ver­spot­ten euch, weil ihr dort müh­sa­mer schrei­tet, sie ver­su­chen es auch wohl, euch zu sich hin­über­zu­lo­cken. Wenn aber ein­mal bei­de Wege sich kreu­zen, so wer­det ihr miß­han­delt, bei Sei­te ge­drängt, oder man weicht euch scheu aus und iso­lirt euch.

Was wür­de nun, für die so ver­schie­den­ar­ti­gen Wan­de­rer bei­der Wege, eine Bil­dungs­an­stalt zu be­deu­ten ha­ben? Je­ner un­ge­heu­re Schwarm, der sich auf dem ers­ten Wege zu sei­nen Zie­len drängt, ver­steht dar­un­ter eine In­sti­tu­ti­on, wo­durch er selbst in Reih und Glied auf­ge­stellt wird und von der Al­les ab­ge­schie­den und los­ge­löst wird, was etwa nach hö­he­ren und ent­le­ge­ne­ren Zie­len hin­strebt. Frei­lich ver­ste­hen sie es prun­ken­de Wor­te für ihre Ten­den­zen in Um­lauf zu brin­gen: sie re­den zum Bei­spiel von der »all­sei­ti­gen Ent­wick­lung der frei­en Per­sön­lich­keit in­ner­halb fes­ter ge­mein­sa­mer na­tio­na­ler und mensch­lich-sitt­li­cher Über­zeu­gun­gen«, oder nen­nen als ihr Ziel »die Be­grün­dung des auf Ver­nunft, Bil­dung, Ge­rech­tig­keit ru­hen­den Volks­staa­tes«.

Für die an­de­re klei­ne­re Schaar ist eine Bil­dungs­an­stalt et­was durch­aus Ver­schie­de­nes. Die­se will, an der Schutz­wehr ei­ner fes­ten Or­ga­ni­sa­ti­on, ver­hü­ten, daß sie selbst, durch je­nen Schwarm, weg­ge­schwemmt und aus­ein­an­der­ge­trie­ben wer­de, daß ihre Ein­zel­nen in früh­zei­ti­ger Er­mat­tung oder ab­ge­lenkt, ent­ar­tet, zer­stört, ihre ede­le und er­ha­be­ne Auf­ga­be aus dem Auge ver­lie­ren. Die­se Ein­zel­nen sol­len ihr Werk vollen­den, das ist der Sinn ih­rer ge­mein­schaft­li­chen In­sti­tu­ti­on – und zwar ein Werk, das gleich­sam von den Spu­ren des Sub­jekts ge­rei­nigt und über das Wech­sel­spiel der Zei­ten hin­aus­ge­tra­gen sein soll, als lau­te­re Wi­der­spie­ge­lung des ewi­gen und un­ver­än­der­li­chen We­sens der Din­ge. Und Alle, die an je­nem In­sti­tu­te Theil ha­ben, sol­len auch mit be­müht sein, durch eine sol­che Rei­ni­gung vom Sub­jekt, die Ge­burt des Ge­ni­us und die Er­zeu­gung sei­nes Wer­kes vor­zu­be­rei­ten. Nicht We­ni­ge, auch aus der Rei­he der zwei­ten und drit­ten Be­ga­bun­gen, sind zu ei­nem sol­chen Mit­hel­fen be­stimmt und kom­men nur im Diens­te ei­ner sol­chen wah­ren Bil­dungs-In­sti­tu­ti­on zu dem Ge­fühl, ih­rer Pf­licht zu le­ben. Jetzt aber wer­den ge­ra­de die­se Be­ga­bun­gen von den un­aus­ge­setz­ten Ver­füh­rungs­küns­ten je­ner mo­di­schen »Cul­tur« aus ih­rer Bahn ab­ge­lenkt und ih­rem In­stink­te ent­frem­det.

An ihre egois­ti­schen Re­gun­gen, an ihre Schwä­chen und Ei­tel­kei­ten rich­tet sich die­se Ver­su­chung, ih­nen ge­ra­de flüs­tert je­ner Zeit­geist zu: »Folgt mir! Dort seid ihr Die­ner, Gehül­fen, Werk­zeu­ge, von hö­he­ren Na­tu­ren über­strahlt, eu­rer Ei­gen­art nie­mals froh, an Fä­den ge­zo­gen, an Ket­ten ge­legt, als Skla­ven, ja als Au­to­ma­ten: hier, bei mir, ge­nießt ihr als Herrn eure freie Per­sön­lich­keit, eure Be­ga­bun­gen dür­fen für sich glän­zen, mit ih­nen wer­det ihr selbst an der ers­ten Stel­le stehn, un­ge­heu­res Ge­fol­ge wird euch be­glei­ten, und der Zu­ruf der öf­fent­li­chen Mei­nung wird euch mehr be­ha­gen, als eine vor­nehm ge­spen­de­te Be­lo­bi­gung aus der Höhe des Ge­ni­us.« Sol­chen Ver­lo­ckun­gen un­ter­lie­gen jetzt die Al­ler­bes­ten: und im Grun­de ent­schei­det wohl hier kaum der Grad der Be­ga­bung, ob man für der­ar­ti­ge Stim­men zu­gäng­lich ist oder nicht, son­dern die Höhe und der Grad ei­ner ge­wis­sen sitt­li­chen Er­ha­ben­heit, der In­stinkt zum He­ro­is­mus, zur Auf­op­fe­rung – und end­lich ein si­che­res, zur Sit­te ge­wor­de­nes, durch rich­ti­ge Er­zie­hung ein­ge­lei­te­tes Be­dürf­niß der Bil­dung: als wel­che, wie ich schon sag­te, vor Al­lem Ge­hor­sam und Ge­wöh­nung an die Zucht des Ge­ni­us ist. Gera­de aber von ei­ner sol­chen Zucht, ei­ner sol­chen Ge­wöh­nung wis­sen die In­sti­tu­te, die man jetzt »Bil­dungs­an­stal­ten« nennt, so viel wie nichts: ob­wohl es mir nicht zwei­fel­haft ist, daß das Gym­na­si­um ur­sprüng­lich als eine der­ar­ti­ge wah­re Bil­dungs­in­sti­tu­ti­on, we­nigs­tens als vor­be­rei­ten­de Ver­an­stal­tung, ge­meint war und in den wun­der­ba­ren, tief­sin­nig er­reg­ten Zei­ten der Re­for­ma­ti­on die ers­ten küh­nen Schrit­te auf ei­ner sol­chen Bahn wirk­lich gethan hat, eben­falls, daß sich in der Zeit un­se­res Schil­ler, un­se­res Goe­the wie­der Et­was von je­nem schmäh­lich ab­ge­lei­te­ten oder se­kre­tir­ten Be­dürf­nis­se mer­ken ließ, gleich­sam als ein Keim je­ner Schwin­ge, von der Pla­to im Phä­drus re­det und wel­che die See­le, bei je­der Berüh­rung mit dem Schö­nen, be­flü­gelt und em­por­trägt – nach dem Rei­che der un­wan­del­ba­ren rei­nen ein­ge­stal­ten Ur­bil­der der Din­ge.«

»Ach, mein ver­ehr­ter und aus­ge­zeich­ne­ter Leh­rer,« be­gann jetzt der Beglei­ter, »nach­dem Sie den gött­li­chen Pla­to und die Ide­en­welt ci­tirt ha­ben, glau­be ich nicht mehr dar­an, daß Sie mir zür­nen, so sehr ich auch durch mei­ne vo­ri­ge Rede Ihre Miß­bil­li­gung und Ihren Zorn ver­dient habe. So­bald Sie re­den, regt sich bei mir jene pla­to­ni­sche Schwin­ge; und nur in den Zwi­schen­pau­sen habe ich, als Wa­gen­len­ker mei­ner See­le, mit dem wi­der­stre­ben­den, wil­den und un­ge­ber­di­gen Ros­se rech­te Mühe, das Pla­to auch be­schrie­ben hat und von dem er sagt, es sei schief und un­ge­schlacht, mit star­rem Na­cken, kur­z­em Hals und plat­ter Nase, schwarz­ge­färbt, grau­en blut­un­ter­lau­fe­nen Au­ges, an den Ohren strup­picht und schwer­hö­rig, zu Fre­vel und Unt­hat al­le­zeit be­reit und kaum durch Gei­ßel und Sta­chel­stab lenk­bar. Den­ken Sie so­dann dar­an, wie lan­ge ich von Ih­nen ent­fernt ge­lebt habe und wie ge­ra­de auch an mir alle jene Ver­füh­rungs­küns­te sich er­pro­ben konn­ten, von de­nen Sie re­de­ten, viel­leicht doch nicht ohne ei­ni­gen Er­folg, wenn auch fast un­be­merkt vor mir sel­ber. Ich be­grei­fe ge­ra­de jetzt stär­ker als je, wie nothwen­dig eine In­sti­tu­ti­on ist, wel­che es uns er­mög­licht, mit den sel­te­nen Män­nern wah­rer Bil­dung zu­sam­men­zu­le­ben, um an ih­nen Füh­rer und Leit­ster­ne zu ha­ben. Wie stark emp­fin­de ich die Ge­fahr des ein­sa­men Wan­derns! Und wenn ich, wie ich Ih­nen sag­te, aus dem Ge­wühl und der di­rek­ten Berüh­rung mit dem Zeit­geis­te mich durch Flucht zu ret­ten wähn­te, so war selbst die­se Flucht eine Täu­schung. Fort­wäh­rend, aus un­zäh­li­gen Adern, mit je­dem Athem­zu­ge quillt jene At­mo­sphä­re in uns hin­ein, und kei­ne Ein­sam­keit ist ein­sam und fer­ne ge­nug, wo sie uns nicht, mit ih­ren Ne­beln und Wol­ken, zu er­rei­chen wüß­te. Als Zwei­fel, als Ge­winn, als Hoff­nung und Tu­gend ver­klei­det, in der wech­sel­reichs­ten Mas­ken­tracht um­schlei­chen uns die Bil­der je­ner Cul­tur: und selbst hier in Ih­rer Nähe, das heißt gleich­sam an der Hand ei­nes wah­ren Bil­dungs­ere­mi­ten wuß­te uns jene Gau­ke­lei zu ver­füh­ren. Wie be­stän­dig und treu muß jene klei­ne Schaar ei­ner fast sek­ti­re­risch zu nen­nen­den Bil­dung un­ter sich wa­chen! Wie sich ge­gen­sei­tig stär­ken! Wie streng muß hier der Fehl­tritt ge­rügt, wie mit­lei­dig ver­ziehn wer­den! So ver­zei­hen Sie nun auch mir, mein Leh­rer, nach­dem Sie mich so ernst zu­recht­ge­wie­sen ha­ben!«

»Du führst eine Spra­che, mein Gu­ter«, sag­te der Phi­lo­soph, »die ich nicht mag, und die an re­li­gi­öse Con­ven­ti­kel er­in­nert. Da­mit habe ich nichts zu thun. Aber dein pla­to­ni­sches Pferd hat mir ge­fal­len, sei­net­we­gen soll dir auch ver­zie­hen sein. Ge­gen die­ses Pferd tau­sche ich mein Säu­gethier ein. Üb­ri­gens habe ich we­nig Lust, mit euch hier im Küh­len noch fer­ner her­um­zu­gehn. Mein von mir er­war­te­ter Freund ist zwar toll ge­nug, auch wohl um Mit­ter­nacht noch hier hin­auf zu kom­men, wenn er es ein­mal ver­spro­chen hat. Aber ich war­te ver­ge­bens auf das zwi­schen uns ver­ab­re­de­te Zei­chen: mir bleibt es un­ver­ständ­lich, was ihn bis jetzt ab­ge­hal­ten hat. Denn er ist pünkt­lich und ge­nau, wie wir Al­ten zu sein pfle­gen und wie es die Ju­gend jetzt für alt­vä­te­risch hält. Dies­mal läßt er mich im Stich: es ist ver­drieß­lich! Nun folgt mir nur! Es ist Zeit zu ge­hen!«

 

– In die­sem Au­gen­bli­cke zeig­te sich et­was Neu­es. –

*

Fünf­ter Vor­trag

(Ge­hal­ten am 23. März 1872.)

Mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer! Wenn Das, was ich Ih­nen von den man­nig­fal­tig er­reg­ten, in nächt­li­cher Stil­le ge­führ­ten Re­den un­se­res Phi­lo­so­phen er­zählt habe, mit ei­ni­gem Mit­ge­fühl von Ih­nen auf­ge­nom­men ist, so dürf­te Sie die zu­letzt be­rich­te­te un­muthi­ge Ent­schlie­ßung des­sel­ben in ähn­li­cher Wei­se ge­trof­fen ha­ben, wie sie uns da­mals traf. Plötz­lich näm­lich kün­dig­te er uns an, daß er ge­hen wol­le: im Stich ge­las­sen von sei­nem Freun­de und we­nig er­quickt von Dem, was wir, sammt sei­nem Beglei­ter, ihm in sol­cher Ein­öde ent­ge­gen­zu­brin­gen wuß­ten, schi­en er nun has­tig den nutz­los ver­län­ger­ten Auf­ent­halt auf dem Ber­ge ab­bre­chen zu wol­len. Der Tag durf­te ihm als ver­lo­ren gel­ten: und ihn gleich­sam von sich ab­schüt­telnd hät­te er ge­wiß auch gern das An­den­ken an un­se­re Be­kannt­schaft ihm hin­ter­drein wer­fen mö­gen. Und so trieb er uns un­wil­lig an zu ge­hen, als ein neu­es Phä­no­men ihn zum Still­ste­hen zwang, und der be­reits er­ho­be­ne Fuß sich wie­der zö­gernd senk­te.

Ein far­bi­ger Licht­schein und ein knat­tern­des schnell ver­hal­len­des Ge­tö­se, aus der Ge­gend des Rheins her, bann­te un­se­re Auf­merk­sam­keit; und gleich dar­auf zog sich eine lang­sa­me me­lo­di­sche Phra­se, im Ein­klan­ge, doch durch zahl­rei­che ju­gend­li­che Stim­men ver­stärkt, aus der Fer­ne zu uns her­über. »Dies ist ja sein Si­gnal,« rief der Phi­lo­soph, »mein Freund kommt doch noch, und ich habe nicht um­sonst ge­war­tet. Es wird ein mit­ter­nächt­li­ches Wie­der­se­hen – wie mel­den wir ihm doch, daß ich jetzt noch hier bin? Auf! Ihr Pis­to­len­schüt­zen, jetzt zeigt eure Küns­te ein­mal! Hört ihr den stren­gen Ryth­mus je­ner uns be­grü­ßen­den Me­lo­die? Die­sen Ryth­mus merkt euch und wie­der­holt ihn in der Rei­hen­fol­ge eu­rer Ex­plo­sio­nen!«

Dies war eine Auf­ga­be nach un­se­rem Ge­schmack und un­se­rer Fä­hig­keit; wir lu­den so schnell wie mög­lich und nach kur­z­er Ver­stän­di­gung er­ho­ben wir un­se­re Pis­to­len nach der von Ster­nen durch­leuch­te­ten Höhe, wäh­rend jene ein­dring­li­che Ton­fol­ge in der Tie­fe, nach kur­z­er Wie­der­ho­lung, erstarb. Der ers­te, der zwei­te und drit­te Schuß gien­gen schnei­dig in die Nacht hin­aus – jetzt schrie der Phi­lo­soph: »Fal­scher Takt!« denn plötz­lich wa­ren wir un­se­rer ryth­mi­schen Auf­ga­be un­treu ge­wor­den: eine Stern­schnup­pe kam, un­mit­tel­bar nach dem drit­ten Schuß, pfeil­schnell her­un­ter­ge­flo­gen und fast un­will­kür­lich er­tön­te der vier­te und fünf­te Schuß zu­gleich, in der Rich­tung ih­res Nie­der­falls.

»Fal­scher Takt!« schrie der Phi­lo­soph, »wer heißt euch nach Stern­schnup­pen zu zie­len! Das platzt schon von selbst, ohne euch; man muß wis­sen, was man will, wenn man mit Waf­fen han­tirt.«

In die­sem Au­gen­bli­cke wie­der­hol­te sich, vom Rhei­ne her her­über­ge­tra­gen, jene, jetzt von zahl­rei­che­ren und lau­te­ren Stim­men in­to­nir­te Me­lo­die. »Man hat uns doch ver­stan­den«, rief la­chend mein Freund, »und wer kann auch wi­der­ste­hen, wenn so ein leuch­ten­des Ge­s­penst ge­ra­de in Schuß­wei­te kommt?« – »Still!« un­ter­brach ihn der Beglei­ter, »was mag das für ein Schwarm sein, der uns dies Si­gnal ent­ge­gen­singt! Ich rat­he auf zwan­zig bis vier­zig Stim­men, kräf­ti­ge männ­li­che Stim­men – und von wo aus be­grüßt uns je­ner Schwarm? Er scheint noch nicht das jen­sei­ti­ge Ufer des Rheins ver­las­sen zu ha­ben – doch das müs­sen wir ja se­hen kön­nen, von un­se­rer Bank aus. Kom­men Sie schnell da­hin!«

An der Stel­le näm­lich, auf der wir bis jetzt auf- und ab­ge­gan­gen wa­ren, in der Nähe je­nes ge­wal­ti­gen Baum­stump­fes, war die Aus­sicht nach dem Rhei­ne zu durch das dich­te fins­te­re und hohe Ge­hölz ab­ge­schnit­ten. Da­ge­gen habe ich er­zählt, daß man von je­nem Ru­he­platz aus, et­was tiefer als die ebe­ne Flä­che auf der Höhe des Ber­ges, einen Durch­blick durch die Baum­gip­fel hin­durch hat­te und daß ge­ra­de der Rhein, mit der In­sel Non­nen­wörth im Arme, den Mit­tel­punkt des ge­run­de­ten Aus­schnit­tes für den Be­schau­er aus­füll­te. Wir lie­fen ei­lig, doch mit Vor­sicht für den grei­fen Phi­lo­so­phen, nach die­sem Ru­he­plät­ze hin: es war schwar­ze Dun­kel­heit im Wal­de, und den Phi­lo­so­phen rechts und links ge­lei­tend, er­rie­then wir mehr den ge­bahn­ten Weg, als daß wir ihn wahr­nah­men.

Kaum hat­ten wir die Bän­ke er­reicht, als uns ein feu­ri­ges, trü­bes, brei­tes und un­ru­hi­ges Leuch­ten, of­fen­bar von der an­de­ren Sei­te des Rhei­nes her, in’s Auge fiel. »Das sind Fa­ckeln«, rief ich; »Nichts ist si­che­rer, als daß dort drü­ben mei­ne Ka­me­ra­den aus Bonn sind und daß Ihr Freund in ih­rer Mit­te sein muß. Die­se ha­ben ge­sun­gen, die­se wer­den ihm das Ge­leit ge­ben. Se­hen Sie! Hö­ren Sie! Jetzt steigt man in die Käh­ne: in we­nig mehr als ei­ner hal­b­en Stun­de wird der Fa­ckel­zug hier oben an­ge­langt sein.«

Der Phi­lo­soph sprang zu­rück. »Was sa­gen Sie?« ver­setz­te er, »Ihre Ka­me­ra­den aus Bonn, also Stu­den­ten, mit Stu­den­ten käme mei­ne Freund?«

Die­se fast in­grim­mig vor­ge­sto­ße­ne Fra­ge reg­te uns auf. »Was ha­ben Sie ge­gen die Stu­den­ten?« ent­geg­ne­ten wir und be­ka­men kei­ne Ant­wort. Erst nach ei­ner Wei­le be­gann der Phi­lo­soph lang­sam, in kla­gen­dem Tone und gleich­sam den noch Ent­fern­ten an­re­dend: »Also selbst um Mit­ter­nacht, mein Freund, selbst auf dem ein­sa­men Ber­ge wer­den wir nicht al­lein sein, und du selbst bringst eine Schaar stu­den­ti­scher Stö­ren­frie­de zu mir her­auf, der du doch weißt, daß ich die­sem ge­nus om­ne gern und be­hut­sam aus dem Wege gehe. Ich ver­ste­he dich dar­in nicht, mein fer­ner Freund: es will doch Et­was sa­gen, wenn wir uns nach lan­ger Tren­nung zum Wie­der­sehn zu­sam­men­fin­den und einen sol­chen ent­le­ge­nen Win­kel und sol­che un­ge­wöhn­li­che Stun­den dazu aus­le­sen. Wozu brauch­ten wir einen Chor von Zeu­gen und von sol­chen Zeu­gen! Was uns ja für heu­te zu­sam­men­ruft, das ist doch am we­nigs­ten ein sen­ti­men­ta­li­sches weich­müthi­ges Be­dürf­niß: denn wir ha­ben Bei­de bei Zei­ten ge­lernt, al­lein und in wür­de­vol­ler Iso­la­ti­on le­ben zu kön­nen. Nicht um un­sert­wil­len, etwa um zärt­li­che Ge­füh­le zu pfle­gen oder um eine Sce­ne der Freund­schaft pa­the­tisch dar­zu­stel­len, ha­ben wir be­schlos­sen uns hier zu se­hen; son­dern hier, wo ich dich einst, in denk­wür­di­ger Stun­de, fei­er­lich ver­ein­samt, an­traf, woll­ten wir mit­ein­an­der, gleich­sam als Rit­ter ei­ner neu­en Veh­me, des erns­tes­ten Ra­thes pfle­gen. Mag uns da­bei hö­ren, wer uns ver­steht, aber warum bringst du einen Schwarm mit, der uns ge­wiß nicht ver­steht! Ich er­ken­ne dich dar­in nicht, mein fer­ner Freund!«

Wir hiel­ten es nicht für schick­lich, den so un­ge­muth Kla­gen­den zu un­ter­bre­chen: und als er me­lan­cho­lisch ver­stumm­te, wag­ten wir doch nicht, ihm zu sa­gen, wie sehr uns die­se miß­traui­sche Ab­leh­nung der Stu­den­ten ver­drie­ßen muß­te.

End­lich wen­de­te sich der Beglei­ter an den Phi­lo­so­phen und sag­te: »Sie er­in­nern mich, mein Leh­rer, dar­an, daß Sie ja auch in frü­he­rer Zeit, be­vor ich Sie ken­nen lern­te, an meh­re­ren Uni­ver­si­tä­ten ge­lebt ha­ben und daß Gerüch­te über Ihren Ver­kehr mit Stu­die­ren­den, über die Metho­de Ihres Un­ter­richts noch aus je­ner Pe­ri­ode im Um­lauf sind. Aus dem Tone der Re­si­gna­ti­on, mit dem Sie eben von den Stu­den­ten spra­chen, dürf­te Man­cher wohl auf ei­gent­hüm­li­che ver­stim­men­de Er­fah­run­gen rat­hen; ich aber glau­be viel­mehr, daß Sie eben Das er­fah­ren und ge­se­hen ha­ben, was Je­der dort er­fährt und sieht, daß Sie aber dies stren­ger und rich­ti­ger be­urt­heilt ha­ben als je­der An­de­re. Denn so­viel habe ich aus Ihrem Um­gan­ge ge­lernt, daß die merk­wür­digs­ten, lehr­reichs­ten und ent­schei­den­den Er­fah­run­gen und Er­leb­nis­se die all­täg­li­chen sind, daß aber ge­ra­de Das, was als un­ge­heu­res Räth­sel vor al­ler Au­gen liegt, von den We­nigs­ten als Räth­sel ver­stan­den wird, und daß für die we­ni­gen rech­ten Phi­lo­so­phen eben die­se Pro­ble­me un­be­rührt, mit­ten auf der Fahr­stra­ße und gleich­sam un­ter den Fü­ßen der Men­ge, lie­gen blei­ben, um von ih­nen dann sorg­sam auf­ge­ho­ben zu wer­den und von nun an als Edel­stei­ne der Er­kennt­niß zu leuch­ten. Vi­el­leicht sa­gen Sie uns in der kur­z­en Pau­se, die uns noch bis zur An­kunft Ihres Freun­des bleibt, noch Et­was über Ihre Er­kennt­nis­se und Er­fah­run­gen in der Sphä­re der Uni­ver­si­tät und vollen­den da­mit den Kreis der Be­trach­tun­gen, zu de­nen wir un­will­kür­lich in Be­treff un­se­rer Bil­dungs­an­stal­ten ge­nö­thigt wor­den sind. Zu­dem sei es uns er­laubt, Sie dar­an zu er­in­nern, daß Sie, auf ei­ner frü­he­ren Stu­fe Ih­rer, Be­spre­chun­gen, mir so­gar eine der­ar­ti­ge Ver­hei­ßung ge­macht ha­ben. Von dem Gym­na­si­um aus­ge­hend, be­haup­te­ten Sie für das­sel­be eine au­ßer­or­dent­li­che Be­deu­tung: an sei­nem Bil­dungs­zie­le, je nach­dem es ge­steckt ist, müß­ten sich alle an­de­ren In­sti­tu­te mes­sen, an den Ver­ir­run­gen sei­ner Ten­denz hät­ten jene mit­zu­lei­den. Eine sol­che Be­deu­tung, als be­we­gen­der Mit­tel­punkt, kön­ne setzt selbst die Uni­ver­si­tät nicht mehr für sich in An­spruch neh­men, die, bei ih­rer jet­zi­gen For­ma­ti­on, we­nigs­tens nach ei­ner wich­ti­gen Sei­te hin nur als Aus­bau der Gym­na­si­al­ten­denz gel­ten dür­fe. Hier ver­spra­chen Sie mir eine spä­te­re Aus­füh­rung: Et­was, was viel­leicht auch un­se­re stu­die­ren­den Freun­de be­zeu­gen kön­nen, die un­ser da­ma­li­ges Ge­spräch mög­li­cher Wei­se mit an­ge­hört ha­ben.«

»Dies be­zeu­gen wir«, ver­setz­te ich. Der Phi­lo­soph wen­de­te sich ge­gen uns und ver­setz­te: »Nun, wenn ihr wirk­lich zu­ge­hört habt, so könnt ihr mir ein­mal be­schrei­ben, was ihr, nach al­lem Ge­sag­ten, un­ter der jet­zi­gen Gym­na­si­al­ten­denz ver­steht. Zu­dem steht ihr die­ser Sphä­re noch nahe ge­nug, um mei­ne Ge­dan­ken an eu­ren Er­fah­run­gen und Emp­fin­dun­gen mes­sen zu kön­nen.«

Mein Freund er­wi­der­te, schnell und be­hend wie sei­ne Art ist, etwa Fol­gen­des: »Bis jetzt hat­ten wir im­mer ge­glaubt, daß die ein­zi­ge Ab­sicht des Gym­na­si­ums sei, für die Uni­ver­si­tät vor­zu­be­rei­ten. Die­se Vor­be­rei­tung aber soll uns selb­stän­dig ge­nug für die au­ßer­or­dent­lich freie Stel­lung ei­nes Aka­de­mi­kers ma­chen. Denn es scheint mir, daß in kei­nem Ge­bie­te des jet­zi­gen Le­bens dem Ein­zel­nen so viel zu ent­schei­den und zu ver­fü­gen über­las­sen sei, wie im Be­rei­che des stu­den­ti­schen Le­bens. Er muß sich selbst, auf ei­ner wei­ten, ihm völ­lig frei­ge­geb­nen Flä­che, auf meh­re­re Jah­re hin­aus füh­ren kön­nen: also wird das Gym­na­si­um ver­su­chen müs­sen, ihn selb­stän­dig zu ma­chen.«

Ich setz­te die Rede mei­nes Ka­me­ra­den fort. »Es scheint mir so­gar,« sag­te ich, »daß al­les Das, was Sie, ge­wiß mit Recht, an dem Gym­na­si­um zu ta­deln ha­ben, nur nothwen­di­ge Mit­tel sind, um, für ein so ju­gend­li­ches Al­ter, eine Art von Selb­stän­dig­keit und min­des­tens den Glau­ben dar­an zu er­zeu­gen. Die­ser Selb­stän­dig­keit soll der deut­sche Un­ter­richt die­nen: das In­di­vi­du­um muß sei­ner An­sich­ten und Ab­sich­ten zei­tig froh wer­den, um ohne Krücken, al­lein ge­hen zu kön­nen. Des­halb wird es schon frü­he zur Pro­duk­ti­on und noch frü­her zu schar­fer Be­ur­tei­lung und Kri­tik an­ge­hal­ten. Wenn die la­tei­ni­schen und grie­chi­schen Stu­di­en auch nicht im Stan­de sind, den Schü­ler für das fer­ne Al­ter­thum zu ent­zün­den, so er­wacht doch wohl, bei der Metho­de, mit der sie be­trie­ben wer­den, der wis­sen­schaft­li­che Sinn, die Lust an stren­ger Cau­sa­li­tät der Er­kennt­niß, die Be­gier zum Fin­den und Er­fin­den: wie Vie­le mö­gen durch eine auf dem Gym­na­si­um ge­fun­de­ne, mit ju­gend­li­chem Tas­ten er­hasch­te neue Les­art zu den Rei­zun­gen der Wis­sen­schaft dau­ernd ver­führt wor­den sein! Vie­ler­lei muß der Gym­na­si­ast ler­nen und in sich ein­sam­meln: da­durch wird wahr­schein­lich all­ge­mach ein Trieb er­zeugt, von dem ge­lei­tet er dann auf der Uni­ver­si­tät selb­stän­dig in ähn­li­cher Wei­se lernt und ein­sam­melt. Kurz, wir glau­ben, es möge die Gym­na­si­al­ten­denz sein, den Schü­ler so vor­zu­be­rei­ten und ein­zu­ge­wöh­nen, daß er nach­her so selb­stän­dig wei­ter lebe und ler­ne, wie er un­ter dem Zwan­ge der Gym­na­sial­ord­nung le­ben und ler­nen muß­te.«

 

Der Phi­lo­soph lach­te hier­auf, doch nicht ge­ra­de gut­müthig, und ver­setz­te: »Da habt ihr mir so­gleich eine schö­ne Pro­be die­ser Selb­stän­dig­keit ge­ge­ben. Und ge­ra­de die­se Selb­stän­dig­keit ist es, die mich so er­schreckt und mir die Nähe von Stu­die­ren­den der Ge­gen­wart im­mer so un­er­quick­lich macht. Ja, mei­ne Gu­ten ihr seid fer­tig, ihr seid aus­ge­wach­sen, die Na­tur hat eure Form zer­bro­chen, und eure Leh­rer dür­fen sich an euch wei­den. Wel­che Frei­heit, Be­stimmt­heit, Un­be­küm­mert­heit des Urt­heils, wel­che Neu­heit und Fri­sche der Ein­sicht! Ihr sitzt zu Ge­richt – und alle Kul­tu­ren al­ler Zei­ten lau­fen da­von. Der wis­sen­schaft­li­che Sinn ist ent­zün­det und schlägt als Flam­me aus euch her­aus – es hüte sich Je­der, an euch nicht zu ver­bren­nen! Neh­me ich nun gleich eure Pro­fes­so­ren noch hin­zu, so be­kom­me ich die­sel­be Selb­stän­dig­keit noch ein­mal, in ei­ner kräf­ti­gen und an­muthi­gen Stei­ge­rung; nie war eine Zeit so reich an den schöns­ten Selb­stän­dig­kei­ten, nie haß­te man so stark jede Skla­ve­rei, auch frei­lich die Skla­ve­rei der Er­zie­hung und der Bil­dung.

Er­laubt mir aber, die­se eure Selb­stän­dig­keit ein­mal an dem Maß­sta­be eben die­ser Bil­dung zu mes­sen und eure Uni­ver­si­tät nur als Bil­dungs­an­stalt in Be­tracht zu ziehn. Wenn ein Aus­län­der un­ser Uni­ver­si­täts­we­sen ken­nen ler­nen will, so fragt er zu­erst mit Nach­druck: »Wie hängt bei euch der Stu­dent mit der Uni­ver­si­tät zu­sam­men?« Wir ant­wor­ten: »Durch das Ohr, als Hö­rer.« Der Aus­län­der er­staunt. »Nur durch das Ohr?« fragt er noch­mals. »Nur durch das Ohr«, ant­wor­ten wir noch­mals. Der Stu­dent hört. Wenn er spricht, wenn er sieht, wenn er ge­sel­lig ist, wenn er Küns­te treibt, kurz, wenn er lebt, ist er selb­stän­dig, das heißt un­ab­hän­gig von der Bil­dungs­an­stalt. Sehr häu­fig schreibt der Stu­dent zu­gleich, wäh­rend er hört. Dies sind die Mo­men­te, in de­nen er an der Na­bel­schnur der Uni­ver­si­tät hängt. Er kann sich wäh­len, was er hö­ren will, er braucht nicht zu glau­ben, was er hört, er kann das Ohr schlie­ßen, wenn er nicht hö­ren mag. Dies ist die »akro­ama­ti­sche« Lehr­me­tho­de.

Der Leh­rer aber spricht zu die­sen hö­ren­den Stu­den­ten. Was er sonst denkt und thut, ist durch eine un­ge­heu­re Kluft von der Wahr­neh­mung des Stu­den­ten ab­ge­schie­den. Häu­fig liest der Pro­fes­sor, wäh­rend er spricht. Im All­ge­mei­nen will er mög­lichst vie­le sol­che Hö­rer ha­ben, in der Noth be­gnügt er sich mit we­ni­gen, fast nie mit ei­nem. Ein re­den­der Mund und sehr vie­le Ohren, mit halb­so­viel schrei­ben­den Hän­den – das ist der äu­ßer­li­che aka­de­mi­sche Ap­pa­rat, das ist die in Thä­tig­keit ge­setz­te Bil­dungs­ma­schi­ne der Uni­ver­si­tät. Im Üb­ri­gen ist der In­ha­ber die­ses Mun­des von den Be­sit­zern der vie­len Ohren ge­trennt und un­ab­hän­gig: und die­se dop­pel­te Selb­stän­dig­keit preist man mit Hoch­ge­fühl als »aka­de­mi­sche Frei­heit«. Üb­ri­gens kann der Eine – um die­se Frei­heit noch zu er­hö­hen – un­ge­fähr re­den, was er will, der And­re un­ge­fähr hö­ren, was er will: nur daß hin­ter bei­den Grup­pen in be­schei­de­ner Ent­fer­nung der Staat mit ei­ner ge­wis­sen ge­spann­ten Auf­se­her­mie­ne steht, um von Zeit zu Zeit dar­an zu er­in­nern, daß er Zweck, Ziel und In­be­griff der son­der­ba­ren Sprech- und Hör­pro­ce­dur sei.

Wir, de­nen es ein­mal ge­stat­tet sein muß, die­ses über­ra­schen­de Phä­no­men nur als Bil­dungs­in­sti­tu­ti­on zu be­rück­sich­ti­gen, be­rich­ten also dem for­schen­den Aus­län­der, daß Das, was auf un­sern Uni­ver­si­tä­ten Bil­dung ist, aus dem Mun­de zum Ohre geht, daß alle Er­zie­hung zur Bil­dung, wie ge­sagt, nur »akro­ama­tisch« ist. Da aber selbst das Hö­ren und die Aus­wahl des zu Hö­ren­den dem aka­de­misch frei­ge­sinn­ten Stu­den­ten zu selb­stän­di­ger Ent­schei­dung über­las­sen ist, da er an­de­rer­seits al­lem Ge­hör­ten Glaub­wür­dig­keit und Auk­to­ri­tät ab­spre­chen kann, so fällt, in ei­nem stren­gen Sin­ne, alle Er­zie­hung zur Bil­dung ihm selbst zu, und die durch das Gym­na­si­um zu er­stre­ben­de Selb­stän­dig­keit zeigt sich jetzt mit höchs­tem Stol­ze als »aka­de­mi­sche Selbs­t­er­zie­hung zur Bil­dung« und prunkt mit ih­rem glän­zends­ten Ge­fie­der.

Glück­li­che Zeit, in der die Jüng­lin­ge wei­se und ge­bil­det ge­nug sind, um sich selbst am Gän­gel­ban­de füh­ren zu kön­nen! Un­über­treff­li­che Gym­na­si­en, de­nen es ge­lingt, Selb­stän­dig­keit zu pflan­zen, wo and­re Zei­ten glaub­ten, Ab­hän­gig­keit, Zucht, Un­ter­ord­nung, Ge­hor­sam pflan­zen und al­len Selb­stän­dig­keits­dün­kel ab­weh­ren zu müs­sen! Wird euch hier deut­lich, mei­ne Gu­ten, wes­halb ich, nach der Sei­te der Bil­dung hin, die jet­zi­ge Uni­ver­si­tät als Aus­bau der Gym­na­si­al­ten­denz zu be­trach­ten lie­be? Die durch das Gym­na­si­um an­er­zo­gne Bil­dung tritt, als et­was Gan­zes und Fer­ti­ges, mit wäh­le­ri­schen An­sprü­chen in die Tho­re der Uni­ver­si­tät: sie for­dert, sie giebt Ge­set­ze, sie sitzt zu Ge­richt. Täuscht euch also über den ge­bil­de­ten Stu­den­ten nicht: die­ser ist, so­weit er eben die Bil­dungs­wei­hen emp­fan­gen zu ha­ben glaubt, im­mer noch der in den Hän­den sei­ner Leh­rer ge­form­te Gym­na­si­ast: als wel­cher nun, seit sei­ner aka­de­mi­schen Iso­la­ti­on, und nach­dem er das Gym­na­si­um ver­las­sen hat, da­mit gänz­lich al­ler wei­te­ren For­mung und Lei­tung zur Bil­dung ent­zo­gen ist, um von nun an von sich selbst zu le­ben und frei zu sein.

Frei! Prüft die­se Frei­heit, ihr Men­schen­ken­ner! Auf­ge­baut auf dem thö­ner­nen Grun­de der jet­zi­gen Gym­na­sial­cul­tur, auf zer­brö­ckeln­dem Fun­da­men­te, steht ihr Ge­bäu­de schief ge­rich­tet und un­si­cher bei dem An­hau­che der Wir­bel­win­de. Seht euch den frei­en Stu­den­ten, den He­rold der Selb­stän­dig­keits­bil­dung an, er­rat­het ihn in sei­nen In­stink­ten, deu­tet ihn euch aus sei­nen Be­dürf­nis­sen! Was dünkt euch über sei­ne Bil­dung, wenn ihr die­se an drei Grad­mes­sern zu mes­sen wißt, ein­mal an sei­nem Be­dürf­niß zur Phi­lo­so­phie, so­dann an sei­nem In­stinkt für Kunst und end­lich an dem grie­chi­schen und rö­mi­schen Al­ter­thum als an dem leib­haf­ten ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv al­ler Cul­tur.

Der Mensch ist so um­la­gert von den erns­tes­ten und schwie­rigs­ten Pro­ble­men, daß er, in der rech­ten Wei­se an sie her­an­ge­führt, zei­tig in je­nes nach­hal­ti­ge phi­lo­so­phi­sche Er­stau­nen ge­rat­hen wird, auf dem al­lein, als auf ei­nem frucht­ba­ren Un­ter­grün­de, eine tiefe­re und ed­le­re Bil­dung wach­sen kann. Am häu­figs­ten füh­ren ihn wohl die eig­nen Er­fah­run­gen an die­se Pro­ble­me her­an, und be­son­ders in der stür­mi­schen Ju­gend­zeit spie­gelt sich fast je­des per­sön­li­che Er­eig­nis; in ei­nem dop­pel­ten Schim­mer, als Exem­pli­fi­ka­ti­on ei­ner All­täg­lich­keit und zu­gleich ei­nes ewi­gen er­staun­li­chen und er­klä­rungs­wür­di­gen Pro­blems. In die­sem Al­ter, das sei­ne Er­fah­run­gen gleich­sam mit me­ta­phy­si­schen Re­gen­bo­gen um­ringt sieht, ist der Mensch auf das Höchs­te ei­ner füh­ren­den Hand be­dürf­tig, weil er plötz­lich und fast in­stink­tiv sich von der Zwei­deu­tig­keit des Da­seins über­zeugt hat und den fes­ten Bo­den der bis­her ge­heg­ten über­kom­me­nen Mei­nun­gen ver­liert.