Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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IV. Geplante Fortsetzung zu den Vorträgen.

a. Skiz­ze des sechs­ten Vor­trags (Op­ti­mis­tisch-hoff­nungs­voll).

(Früh­ling 1872)

Mein Freund ent­ge­gen ge­gan­gen.

*

Frü­her nur auf Rui­nen.

Jetzt Ein­flüs­se aus der me­ta­phy­si­schen Wir­kung des Kriegs zu er­hof­fen.

*

Rede auf Beetho­ven.

Auf­ga­be: die zu ihm ge­hö­ri­ge Cul­tur zu fin­den.

*

Vor­letz­te Sce­ne:

Wie der Ein­zel­ne sich bil­den müs­se.

Wie al­lein mög­lich?

Ein­sied­ler­thum. Kampf.

Eine Er­zäh­lung.

Zwei Meis­ter (Scho­pen­hau­er, Wa­gner).

*

Die letz­te Sze­ne als An­ti­ci­pa­ti­on der Zu­kunfts­an­stalt.

»Die Flam­me rei­nigt sich vom Rauch«

Pe­re­at dia­bo­lus at­que ir­ri­so­res.

*

Die Zu­kunfts­re­de. Auf­ruf an die wah­ren »Leh­rer«.

Die mo­men­ta­ne Er­fül­lung der Zu­kunft.

Der Schwur um Mit­ter­nacht. Vehm­ge­richt.

*

b. Zum sechs­ten und sie­ben­ten Vor­trag (Ent­täuscht-pes­si­mis­tisch).

(Herbst 1872.)

VI. und VII. Vor­trag. Con­trast des Künst­lers (Lit­te­rat) und des Phi­lo­so­phen. Der Künst­ler ist ent­ar­tet. Kampf. Die Stu­den­ten blei­ben auf der Sei­te des Lit­te­ra­ten.

*

Der Phi­lo­soph hat­te zu­letzt ste­hend, am Pen­ta­gramm ge­spro­chen, nie­der­bli­ckend. Jetzt hel­ler Glanz un­ten am Wal­de. Wir füh­ren ihn ent­ge­gen. Be­grü­ßung. In­zwi­schen er­rich­ten die Stu­den­ten einen Holz­stoß.

Zu­erst nur pri­va­tes Zwie­ge­spräch ab­seits. »Wa­rum so spät?« Der eben ge­hab­te Tri­umph – Er­zäh­lung.

Der Phi­lo­soph trau­rig: er glaubt nicht an die­sen Tri­umph und setzt einen Zwang vor­aus bei dem An­dern, dem er nach­ge­ben muß­te. »Für uns giebt es doch wohl hier kei­ne Täu­schung?« Er er­in­nert an ihre ju­gend­li­che Über­ein­stim­mung. Der And­re ver­räth sich als be­kehrt, als Rea­list. Im­mer grö­ße­re Ent­täu­schung des Phi­lo­so­phen.

Die Stu­den­ten ho­len den An­dern an den flam­men­den Holz­stoß, um zu re­den. Er spricht über den jet­zi­gen deut­schen Geist (Po­pu­la­ri­si­rung, Pres­se, Selb­stän­dig­keit, in Reih und Glied, his­to­risch, Ar­beit für die Nach­welt (nicht reif wer­den), der deut­sche Ge­lehr­te als Blü­the, Na­tur­wis­sen­schaft).

– »Du lügst«! Hef­ti­ge Ent­geg­nung des Phi­lo­so­phen. Un­ter­schied von Deutsch und Af­ter­deutsch: Hast, Un­rei­fe, der Jour­na­list, ge­bil­de­te Vor­trä­ge, kei­ne Ge­sell­schaft, Hoff­nung auf Na­tur­wis­sen­schaft. Die Be­deu­tung der Ge­schich­te. Höh­ni­sches Sie­ges­be­wußt­sein – wir die Sie­ger, uns dient alle Er­zie­hung, jede na­tio­na­le Er­re­gung dient uns (Uni­ver­si­tät Straß­burg). Hohn auf Schil­ler-Goe­the-Zeit.

Pro­test ge­gen die­se Aus­nut­zung großer na­tio­na­ler Er­re­gun­gen: kei­ne neu­en Uni­ver­si­tä­ten. Je mehr aber je­ner Geist über­hand­nimmt und die ein­bre­chen­de Bar­ba­rei, um so si­che­rer wer­den die kräf­tigs­ten Na­tu­ren bei Sei­te ge­drängt, zur Ve­rei­ni­gung ge­zwun­gen. Ge­fahr der Ve­rein­ze­lung gren­zen­los. Schil­de­rung der Zu­kunft die­ser Ve­rei­ni­gung. Schwe­rer Seuf­zer; wo­her Aus­gangs­punkt? Ge­bet um einen Keim der Ret­tung. Hin­deu­tung auf die neue Kunst.

Der Holz­stoß bricht zu­sam­men. Er ruft: »Heil die­sen Wün­schen!« Mit­ter­nachts­glo­cke.

Ge­gen­ant­wort: »Fluch die­sen Wün­schen.«

Höh­ni­sches Ab­zie­hen der Stu­den­ten: pe­r­eat dia­bo­lus at­que ir­ri­so­res.

Schmerz­li­cher Ver­zicht auf den al­ten Freund.

Wir sind er­schüt­tert und be­schämt.

Das Verhältniß der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur.

Vor­re­de zu ei­nem un­ge­schrie­be­nen Buch.

(1872.)

Im lie­ben nie­der­träch­ti­gen Deutsch­land liegt jetzt die Bil­dung so ver­kom­men auf den Stra­ßen, re­giert die Scheel­sucht auf al­les Gro­ße so scham­los und tönt der all­ge­mei­ne Tu­mult der zum »Glücke« Ren­nen­den so ohr­be­täu­bend, daß man einen star­ken Glau­ben, fast im Sin­ne des cre­do quia ab­sur­dum est, ha­ben muß, um hier auf eine wer­den­de Cul­tur doch noch hof­fen und vor Al­lem für die­sel­be – öf­fent­lich leh­rend, im Ge­gen­sat­ze zu der »öf­fent­lich mei­nen­den« Pres­se – ar­bei­ten zu kön­nen. Mit Ge­walt müs­sen Die, de­nen die un­s­terb­li­che Sor­ge um das Volk am Her­zen liegt, sich von den auf sie ein­stür­men­den Ein­drücken des ge­ra­de jetzt Ge­gen­wär­ti­gen und Gel­ten­den be­frei­en und den Schein er­re­gen, als ob sie das­sel­be den gleich­gül­ti­gen Din­gen zu­rech­ne­ten. Sie müs­sen so schei­nen, weil sie den­ken wol­len, und weil ein wi­der­li­cher An­blick und ein ver­wor­re­ner, wohl gar mit den Trom­pe­ten­stö­ßen des Kriegs­ruhms ge­misch­ter Lärm ihr Den­ken stört, vor Al­lem aber, weil sie an das Deut­sche glau­ben wol­len und mit die­sem Glau­ben ihre Kraft ver­lie­ren wür­den. Verargt es die­sen Gläu­bi­gen nicht, wenn sie sehr aus der Ent­fer­nung und von oben her­ab nach dem Lan­de ih­rer Ver­hei­ßun­gen hin­schau­en! Sie scheu­en sich vor den Er­fah­run­gen, de­nen der wohl­wol­len­de Aus­län­der sich preis­giebt, wenn er jetzt un­ter Deut­schen lebt und sich ver­wun­dern muß, wie we­nig das deut­sche Le­ben je­nen großen In­di­vi­du­en, Wer­ken und Hand­lun­gen ent­spricht, die er, in sei­nem Wohl­wol­len, als das ei­gent­lich Deut­sche zu ver­eh­ren ge­lernt hat. Wo sich der Deut­sche nicht in’s Gro­ße er­he­ben kann, macht er einen we­ni­ger als mit­tel­mä­ßi­gen Ein­druck. Selbst die be­rühm­te deut­sche Wis­sen­schaft, in der eine An­zahl der nütz­lichs­ten häus­li­chen und fa­mi­li­en­haf­ten Tu­gen­den, Treue, Selbst­be­schrän­kung, Fleiß, Be­schei­den­heit, Rein­lich­keit, in eine freie­re Luft ver­setzt und gleich­sam ver­klärt er­scheint, ist doch kei­nes­wegs das Re­sul­tat die­ser Tu­gen­den; aus der Nähe be­trach­tet sieht das zu un­be­schränk­tem Er­ken­nen an­trei­ben­de Mo­tiv in Deutsch­land ei­nem Man­gel, ei­nem De­fek­te, ei­ner Lücke viel ähn­li­cher als ei­nem Über­fluß von Kräf­ten, fast wie die Fol­ge ei­nes dürf­ti­gen form­lo­sen un­le­ben­di­gen Le­bens und selbst wie eine Flucht vor der mo­ra­li­schen Klein­lich­keit und Bos­heit, de­nen der Deut­sche, ohne sol­che Ablei­tun­gen, un­ter­wor­fen ist, und die auch, trotz der Wis­sen­schaft, ja noch in der Wis­sen­schaft des öf­te­ren her­vor­bre­chen. Auf die Be­schränkt­heit, im Le­ben, Er­ken­nen und Beurt­hei­len, ver­ste­hen sich die Deut­schen als wah­re Vir­tuo­sen des Phi­lis­ter­haf­ten; will sie Ei­ner über sie hin­aus in’s Er­ha­be­ne tra­gen, so ma­chen sie sich schwer wie Blei, und als sol­che Blei­ge­wich­te hän­gen sie an ih­ren wahr­haft Gro­ßen, um die­se aus dem Äther zu sich und zu ih­rer dürf­ti­gen Be­dürf­tig­keit her­ab­zu­zie­hen. Vi­el­leicht mag die­se Phi­lis­ter-Ge­müth­lich­keit nur Ent­ar­tung ei­ner äch­ten deut­schen Tu­gend sein – ei­ner in­ni­gen Ver­sen­kung in das Ein­zel­ne, Klei­ne, Nächs­te und in die Mys­te­ri­en des In­di­vi­du­ums – aber die­se ver­schim­mel­te Tu­gend ist jetzt schlim­mer als das of­fen­bars­te Las­ter; be­son­ders seit­dem man sich nun gar die­ser Ei­gen­schaft, bis zur lit­te­ra­ri­schen Selbst­glo­ri­fi­ka­ti­on, von Her­zen froh be­wußt ge­wor­den ist. Jetzt schüt­teln sich die » Ge­bil­de­ten«, un­ter den be­kannt­lich so cul­ti­vir­ten Deut­schen, und die » Phi­lis­ter«, un­ter den be­kannt­lich so un­cul­ti­vir­ten Deut­schen, öf­fent­lich die Hän­de und tref­fen eine Ab­re­de mit ein­an­der, wie man für­der­hin schrei­ben, dich­ten, ma­len, mu­si­ci­ren und selbst Phi­lo­so­phi­ren, ja re­gie­ren müs­se, um we­der der »Bil­dung« des Ei­nen zu fer­ne zu ste­hen, noch der »Ge­müth­lich­keit« des An­dern zu nahe zu tre­ten. Dies nennt man jetzt »die deut­sche Cul­tur der Jetzt­zeit«; wo­bei nur noch zu er­fra­gen wäre, an wel­chem Merk­ma­le je­ner »Ge­bil­de­te« zu er­ken­nen ist, nach­dem wir wis­sen, daß sein Milch­bru­der, der deut­sche Phi­lis­ter, sich jetzt selbst, ohne Ver­schämt­heit, gleich­sam nach ver­lor­ner Un­schuld, al­ler Welt als sol­chen zu er­ken­nen giebt.

Der Ge­bil­de­te ist jetzt vor Al­lem his­to­risch ge­bil­det: durch sein his­to­ri­sches Be­wußt­sein ret­tet er sich vor dem Er­ha­be­nen; was dem Phi­lis­ter durch sei­ne »Ge­müth­lich­keit« ge­lingt. Nicht mehr der En­thu­si­as­mus, den die Ge­schich­te er­regt – wie doch Goe­the ver­mei­nen durf­te – son­dern ge­ra­de die Ab­stump­fung al­les En­thu­si­as­mus ist jetzt das Ziel die­ser Be­wun­de­rer des nil ad­mi­ra­ri, wenn sie Al­les his­to­risch zu be­grei­fen su­chen; ih­nen müß­te man aber zu­ru­fen: »Ihr seid die Nar­ren al­ler Jahr­hun­der­te! Die Ge­schich­te wird euch nur die Be­kennt­nis­se ma­chen, die eu­rer wür­dig sind! Die Welt ist zu al­len Zei­ten voll von Tri­via­li­tä­ten und Nich­tig­kei­ten ge­we­sen: eu­rem his­to­ri­schen Ge­lüs­te ent­schlei­ern sich eben die­se und ge­ra­de nur die­se. Ihr könnt zu Tau­sen­den über eine Epo­che her­fal­len – ihr wer­det nach­her hun­gern wie zu­vor und euch eu­rer Art an­ge­hun­ger­ter Ge­sund­heit rüh­men dür­fen. Il­lam ip­sam quam iac­tant sa­ni­ta­tem non fir­mi­ta­te sed iei­u­nio con­se­quun­tur. (Dia­lo­gus de ora­to­ri­bus cap. 25). Al­les We­sent­li­che hat euch die Ge­schich­te nicht sa­gen mö­gen, son­dern höh­nend und un­sicht­bar stand sie ne­ben euch, Dem eine Staats­ak­ti­on, Je­nem einen Ge­sandt­schafts­be­richt, ei­nem An­dern eine Jah­res­zahl oder eine Ety­mo­lo­gie oder ein prag­ma­ti­sches Spin­nen­ge­we­be in die Hand drückend. Glaubt ihr wirk­lich, die Ge­schich­te zu­sam­men­rech­nen zu kön­nen wie ein Ad­di­ti­ons­exem­pel und hal­tet ihr da­für eu­ren ge­mei­nen Ver­stand und eure ma­the­ma­ti­sche Bil­dung für gut ge­nug? Wie muß es euch ver­drie­ßen zu hö­ren, daß And­re von Din­gen er­zäh­len, aus den al­ler­be­kann­tes­ten Zei­ten her­aus, die ihr nie und nim­mer be­grei­fen wer­det!«

 

Wenn nun zu die­ser his­to­risch sich nen­nen­den, der Be­geis­te­rung baa­ren Bil­dung und zu der ge­gen al­les Gro­ße feind­se­li­gen und gei­fern­den Phi­lis­tert­hä­tig­keit noch jene drit­te bru­ta­le und auf­ge­reg­te Ge­nos­sen­schaft kommt – De­rer die zum »Glücke« ren­nen –, so giebt das in sum­ma ein so ver­wirr­tes Ge­schrei und ein so glie­der­ver­ren­ken­des Ge­tüm­mel, daß der Den­ker mit ver­stopf­ten Ohren und ver­bun­de­nen Au­gen in die ein­sams­te Wild­niß flüch­tet – dort­hin wo er se­hen darf, was Jene nie se­hen wer­den, wo er hö­ren muß, was aus al­len Tie­fen der Na­tur und von den Ster­nen her zu ihm tönt. Hier be­re­det er sich mit den an ihn her­an­schwe­ben­den großen Pro­ble­men, de­ren Stim­men frei­lich eben­so un­ge­müth­lich-furcht­bar, als un­his­to­risch-ewig er­klin­gen. Der Weich­li­che flieht vor ih­rem, kal­ten Athem zu­rück, und der Rech­nen­de läuft durch sie hin­durch, ohne sie zu spü­ren. Am schlimms­ten aber er­geht es mit ih­nen dem »Ge­bil­de­ten«, der sich mit­un­ter in sei­ner Art ernst­li­che Mühe um sie giebt. Für ihn ver­wan­deln sich die­se Ge­s­pens­ter in Be­griffs­ge­spinns­te und hoh­le Klang­fi­gu­ren. Nach ih­nen grei­fend wähnt er die Phi­lo­so­phie zu ha­ben, nach ih­nen zu su­chen klet­tert er an der so­ge­nann­ten Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie her­um – und wenn er sich end­lich eine gan­ze Wol­ke von sol­chen Abstrak­tio­nen und Scha­blo­nen zu­sam­men­ge­sucht und auf­get­hürmt hat, so mag es ihm be­geg­nen, daß ein wah­rer Den­ker ihm in den Weg tritt und sie – weg­bläst. Verzwei­fel­te Un­ge­le­gen­heit, sich als »Ge­bil­de­ter« mit Phi­lo­so­phie zu be­fas­sen! Von Zeit zu Zeit scheint es ihm zwar, als ob die un­mög­li­che Ver­bin­dung der Phi­lo­so­phie mit Dem, was sich jetzt als »deut­sche Cul­tur« brüs­tet, mög­lich ge­wor­den sei; ir­gend ein Zwit­ter­ge­schöpf tän­delt und lieb­äu­gelt zwi­schen bei­den Sphä­ren her­um und ver­wirrt hü­ben und drü­ben die Phan­ta­sie, Einst­wei­len ist aber den Deut­schen, wenn sie sich nicht ver­wir­ren las­sen wol­len, ein Rath zu ge­ben. Sie mö­gen bei Al­lem, was sie jetzt »Bil­dung« nen­nen, sich fra­gen: ist dies die er­hoff­te deut­sche Cul­tur, so ernst und schöp­fe­risch, so er­lö­send für den deut­schen Geist, so rei­ni­gend für die deut­schen Tu­gen­den, daß sich ihr ein­zi­ger Phi­lo­soph in die­sem Jahr­hun­dert, Ar­thur Scho­pen­hau­er, zu ihr be­ken­nen müß­te?

Hier habt ihr den Phi­lo­so­phen – nun sucht die zu ihm ge­hö­ri­ge Cul­tur! Und wenn ihr ah­nen könnt, was das für eine Cul­tur sein müß­te, die ei­nem sol­chen Phi­lo­so­phen ent­sprä­che, nun, so habt ihr, in die­ser Ah­nung, be­reits über alle eure Bil­dung und über euch selbst – ge­rich­tet! –

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen.

(1873.)

Vorwort.

(Ver­mut­lich 1874.)

Bei fern ste­hen­den Men­schen ge­nügt es uns, ihre Zie­le zu wis­sen, um sie im Gan­zen zu bil­li­gen oder zu ver­wer­fen. Bei nä­her ste­hen­den urt­hei­len wir nach den Mit­teln, mit de­nen sie ihre Zie­le för­dern: oft miß­bil­li­gen wir ihre Zie­le, lie­ben sie aber we­gen der Mit­tel und der Art ih­res Wol­lens. Nun sind phi­lo­so­phi­sche Sys­te­me nur für ihre Grün­der ganz wahr: für alle spä­te­ren Phi­lo­so­phen ge­wöhn­lich ein großer Feh­ler, für die schwä­che­ren Köp­fe eine Sum­me von Feh­lern und Wahr­hei­ten, als höchs­tes Ziel je­den­falls aber ein Irr­thum, in­so­fern ver­werf­lich. Des­halb miß­bil­li­gen vie­le Men­schen je­den Phi­lo­so­phen, weil sein Ziel nicht das Ihre ist; es sind die fer­ner ste­hen­den. Wer da­ge­gen an großen Men­schen über­haupt sei­ne Freu­de hat, hat auch sei­ne Freu­de an sol­chen Sys­te­men, sei­en sie auch ganz irr­t­hüm­lich: sie ha­ben doch einen Punkt an sich, der ganz un­wi­der­leg­lich ist, eine per­sön­li­che Stim­mung, Far­be; man kann sie be­nut­zen, um das Bild des Phi­lo­so­phen zu ge­win­nen: wie man vom Ge­wächs an ei­nem Orte auf den Bo­den schlie­ßen kann. Die Art zu le­ben und die mensch­li­chen Din­ge an­zu­sehn ist je­den­falls ein­mal da­ge­we­sen und also mög­lich: das »Sys­tem« ist das Ge­wächs die­ses Bo­dens, oder we­nigs­tens ein Theil die­ses Sys­tems – –

Ich er­zäh­le die Ge­schich­te je­ner Phi­lo­so­phen ver­ein­facht: ich will nur den Punkt aus je­dem Sys­tem her­aus­he­ben, der ein Stück Per­sön­lich­keit ist und zu je­nem Un­wi­der­leg­li­chen, Un­dis­ku­tir­ba­ren ge­hört, das die Ge­schich­te auf­zu­be­wah­ren hat: es ist ein An­fang, um jene Na­tu­ren durch Ver­glei­chung wie­der­zu­ge­win­nen und nach­zu­schaf­fen und die Po­ly­pho­nie der grie­chi­schen Na­tur end­lich ein­mal wie­der­er­klin­gen zu las­sen: die Auf­ga­be ist, Das an’s Licht zu brin­gen, was wir im­mer lie­ben und ver­eh­ren müs­sen und was uns durch kei­ne spä­te­re Er­kennt­niß ge­raubt wer­den kann: der große Mensch.

Späteres Vorwort.

(Ge­gen Ende 1879.)

Die­ser Ver­such, die Ge­schich­te der äl­te­ren grie­chi­schen Phi­lo­so­phen zu er­zäh­len, un­ter­schei­det sich von ähn­li­chen Ver­su­chen durch die Kür­ze. Die­se ist da­durch er­reicht wor­den, daß bei je­dem Phi­lo­so­phen nur eine ganz ge­rin­ge An­zahl sei­ner Leh­ren er­wähnt wur­de, also durch Un­voll­stän­dig­keit. Es sind aber die Leh­ren aus­ge­wählt wor­den, in de­nen das Per­sön­li­che ei­nes Phi­lo­so­phen am Stärks­ten nach­klingt, wäh­rend eine voll­stän­di­ge Auf­zäh­lung al­ler mög­li­chen über­lie­fer­ten Lehr­sät­ze, wie sie in den Hand­bü­chern Sit­te ist, je­den­falls Eins zu Wege bringt, das völ­li­ge Ver­stum­men des Per­sön­li­chen. Da­durch wer­den jene Be­rich­te so lang­wei­lig: denn an Sys­te­men, die wi­der­legt sind, kann uns eben nur noch das Per­sön­li­che in­ter­es­si­ren, denn dies ist das ewig Un­wi­der­leg­ba­re. Aus drei An­ek­do­ten ist es mög­lich, das Bild ei­nes Men­schen zu ge­ben; ich ver­su­che es, aus je­dem Sys­te­me drei An­ek­do­ten her­aus­zu­he­ben, und gebe das Üb­ri­ge preis.

1.

Es giebt Geg­ner der Phi­lo­so­phie: und man thut wohl auf sie zu hö­ren, son­der­lich wenn sie den er­tränk­ten Köp­fen der Deut­schen die Me­ta­phy­sik wi­der­rat­hen, ih­nen aber Rei­ni­gung durch die Phy­sis, wie Goe­the, oder Hei­lung durch die Mu­sik, wie Richard Wa­gner, pre­di­gen. Die Ärz­te des Vol­kes ver­wer­fen die Phi­lo­so­phie; wer die­se also recht­fer­ti­gen will, mag zei­gen, wozu die ge­sun­den Völ­ker die Phi­lo­so­phie brau­chen und ge­braucht ha­ben. Vi­el­leicht ge­win­nen, falls er dies zei­gen kann, selbst die Kran­ken die er­sprieß­li­che Ein­sicht, warum ge­ra­de ih­nen die­sel­be schäd­lich sei. Es giebt zwar gute Bei­spie­le ei­ner Ge­sund­heit, die ganz ohne Phi­lo­so­phie oder bei ei­nem ganz mä­ßi­gen, fast spie­le­ri­schen Ge­brau­che der­sel­ben be­ste­hen kann; so leb­ten die Rö­mer in ih­rer bes­ten Zeit ohne Phi­lo­so­phie. Aber wo fän­de sich das Bei­spiel der Er­kran­kung ei­nes Vol­kes, dem die Phi­lo­so­phie die ver­lor­ne Ge­sund­heit wie­der­ge­ge­ben hät­te? Wenn sie je hel­fend, ret­tend, vor­schüt­zend sich äu­ßer­te, dann war es bei Ge­sun­den, die Kran­ken mach­te sie stets noch krän­ker. War je ein Volk zer­fa­sert und in schlaf­fer Span­nung mit sei­nen Ein­zel­nen ver­bun­den, nie hat die Phi­lo­so­phie die­se Ein­zel­nen en­ger an das Gan­ze zu­rück­ge­knüpft. War je Ei­ner ge­willt ab­seits zu ste­hen und um sich den Zaun der Selbst­ge­nug­sam­keit zu zie­hen, im­mer war die Phi­lo­so­phie be­reit, ihn noch mehr zu iso­li­ren und durch Iso­la­ti­on zu zer­stö­ren. Sie ist ge­fähr­lich, wo sie nicht in ih­rem vol­len Rech­te ist: und nur die Ge­sund­heit ei­nes Vol­kes, aber auch nicht je­des Vol­kes, giebt ihr die­ses Recht.

Schau­en wir uns jetzt nach je­ner höchs­ten Auk­to­ri­tät für Das um, was an ei­nem Vol­ke ge­sund zu hei­ßen hat. Die Grie­chen, als die wahr­haft Ge­sun­den, ha­ben ein für al­le­mal die Phi­lo­so­phie selbst ge­recht­fer­tigt, da­durch, daß sie phi­lo­so­phirt ha­ben; und zwar viel mehr als alle an­de­ren Völ­ker. Sie konn­ten nicht ein­mal zur rech­ten Zeit auf­hö­ren; denn noch im dür­ren Al­ter ge­bär­de­ten sie sich als hit­zi­ge Ver­eh­rer der Phi­lo­so­phie, ob sie schon un­ter ihr nur die from­men Spitz­fin­dig­kei­ten und die hoch­hei­li­gen Haar­spal­te­rei­en der christ­li­chen Dog­ma­tik ver­stan­den. Da­durch, daß sie nicht zur rech­ten Zeit auf­hö­ren konn­ten, ha­ben sie selbst ihr Ver­dienst um die bar­ba­ri­sche Nach­welt sehr ver­kürzt, weil die­se, in der Un­be­lehrt­heit und dem Un­ge­stüm ih­rer Ju­gend, sich ge­ra­de in je­nen künst­lich ge­web­ten Net­zen und Stri­cken ver­fan­gen muß­te.

Da­ge­gen ha­ben die Grie­chen es ver­stan­den, zur rech­ten Zeit an­zu­fan­gen, und die­se Leh­re, wann man zu Phi­lo­so­phi­ren an­fan­gen müs­se, ge­ben sie so deut­lich, wie kein an­de­res Volk. Nicht näm­lich erst in der Trüb­sal: was wohl Ei­ni­ge ver­mei­nen, die die Phi­lo­so­phie aus der Ver­drieß­lich­keit ab­lei­ten. Son­dern im Glück, in ei­ner rei­fen Mann­bar­keit, mit­ten her­aus aus der feu­ri­gen Hei­ter­keit des tap­fe­ren und sieg­rei­chen Man­nes­al­ters. Daß in die­ser Zeit die Grie­chen phi­lo­so­phirt ha­ben, be­lehrt uns eben­so über Das, was die Phi­lo­so­phie ist und was sie soll, als über die Grie­chen selbst. Wä­ren jene da­mals sol­che nüch­ter­ne und alt­klu­ge Prak­ti­ker und Hei­ter­lin­ge ge­we­sen, wie es sich der ge­lehr­te Phi­lis­ter un­se­rer Tage wohl ima­gi­nirt, oder hät­ten sie nur in ei­nem schwel­ge­ri­schen Schwe­ben, Klin­gen, Ath­men und Füh­len ge­lebt, wie es wohl der un­ge­lehr­te Phan­tast ger­ne an­nimmt, so wäre die Quel­le der Phi­lo­so­phie gar nicht bei ih­nen an’s Licht ge­kom­men. Höchs­tens hät­te es einen bald im San­de ver­rie­seln­den oder zu Ne­beln ver­duns­ten­den Bach ge­ge­ben, nim­mer­mehr aber je­nen brei­ten, mit stol­zem Wel­len­schla­ge sich er­gie­ßen­den Strom, den wir als die grie­chi­sche Phi­lo­so­phie ken­nen.

Zwar hat man mit Ei­fer dar­auf hin­ge­zeigt, wie viel die Grie­chen im ori­en­ta­li­schen Aus­lan­de fin­den und ler­nen konn­ten, und wie man­cher­lei sie wohl von dort ge­holt ha­ben. Frei­lich gab es ein wun­der­li­ches Schau­spiel, wenn man die an­geb­li­chen Leh­rer aus dem Ori­ent und die mög­li­chen Schü­ler aus Grie­chen­land zu­sam­men­brach­te und jetzt Zo­roas­ter ne­ben Hera­klit, die In­der ne­ben den Elea­ten, die Ägyp­ter ne­ben Em­pe­do­kles, oder gar Ana­xa­go­ras un­ter den Ju­den und Py­tha­go­ras un­ter den Chi­ne­sen zur Schau stell­te. Im Ein­zel­nen ist we­nig aus­ge­macht wor­den; aber den gan­zen Ge­dan­ken lie­ßen wir uns schon ge­fal­len, wenn man uns nur nicht mit der Fol­ge­rung be­schwert, daß die Phi­lo­so­phie so­mit in Grie­chen­land nur im­por­tirt und nicht aus na­tür­li­chem hei­mi­schem Bo­den ge­wach­sen sei, ja daß sie, als et­was Frem­des, die Grie­chen wohl eher rui­nirt als ge­för­dert habe. Nichts ist thö­rich­ter, als den Grie­chen eine au­to­chtho­ne Bil­dung nach­zu­sa­gen, sie ha­ben viel­mehr alle bei an­de­ren Völ­kern le­ben­de Bil­dung in sich ein­ge­so­gen, sie ka­men ge­ra­de des­halb so weit, weil sie es ver­stan­den, den Speer von dort wei­ter zu schleu­dern, wo ihn ein an­de­res Volk lie­gen ließ. Sie sind be­wun­de­rungs­wür­dig in der Kunst, frucht­bar zu ler­nen: und so, wie sie, sol­len wir von un­sern Nach­barn ler­nen, zum Le­ben, nicht zum ge­lehr­ten­haf­ten Er­ken­nen, al­les Er­lern­te als Stüt­ze be­nut­zend, auf der man sich hoch und hö­her als der Nach­bar schwingt. Die Fra­gen nach den An­fän­gen der Phi­lo­so­phie sind ganz gleich­gül­tig, denn über­all ist im An­fang das Rohe, Un­ge­form­te, Lee­re und Häß­li­che, und in al­len Din­gen kom­men nur die hö­he­ren Stu­fen in Be­tracht. Wer an Stel­le der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie sich lie­ber mit ägyp­ti­scher und per­si­scher ab­giebt, weil Jene viel­leicht »ori­gi­na­ler« und je­den­falls äl­ter sind, der ver­fährt eben­so un­be­son­nen, wie Die­je­ni­gen, wel­che sich über die grie­chi­sche so herr­li­che und tief­sin­ni­ge My­tho­lo­gie nicht eher be­ru­hi­gen kön­nen, als bis sie die­sel­be auf phy­si­ka­li­sche Tri­via­li­tä­ten, auf Son­ne, Blitz, Wet­ter und Ne­bel als auf ihre Ur­an­fän­ge zu­rück­ge­führt ha­ben, und wel­che zum Bei­spiel in der be­schränk­ten An­be­tung des einen Him­mels­ge­wöl­bes bei den an­de­ren In­do­ger­ma­nen eine rei­ne­re Form der Re­li­gi­on wie­der­ge­fun­den zu ha­ben wäh­nen, als die po­ly­theis­ti­sche der Grie­chen ge­we­sen sei. Der Weg zu den An­fän­gen führt über­all zu der Bar­ba­rei; und wer sich mit den Grie­chen ab­giebt, soll sich im­mer vor­hal­ten, daß der un­ge­bän­dig­te Wis­sen­strieb an sich zu al­len Zei­ten eben­so bar­ba­ri­sirt als der Wis­sens­haß, und daß die Grie­chen durch die Rück­sicht auf das Le­ben, durch ein idea­les Le­bens­be­dürf­nis; ih­ren an sich un­er­sätt­li­chen Wis­sen­strieb ge­bän­digt ha­ben – weil sie Das, was sie lern­ten, so­gleich le­ben woll­ten. Die Grie­chen ha­ben auch als Men­schen der Cul­tur und mit den Zie­len der Cul­tur phi­lo­so­phirt und des­halb er­spar­ten sie sich, aus ir­gend ei­nem au­to­chtho­nen Dün­kel die Ele­men­te der Phi­lo­so­phie und Wis­sen­schaft noch ein­mal zu er­fin­den, son­dern gien­gen so­fort dar­auf los, die­se über­nom­me­nen Ele­men­te so zu er­fül­len, zu stei­gern, zu er­he­ben und zu rei­ni­gen, daß sie jetzt erst in ei­nem hö­he­ren Sin­ne und in ei­ner rei­ne­ren Sphä­re zu Er­fin­dern wur­den. Sie er­fan­den näm­lich die ty­pi­schen Phi­lo­so­phen­köp­fe, und die gan­ze Nach­welt hat nichts We­sent­li­ches mehr hin­zu er­fun­den.

 

Je­des Volk wird be­schämt, wenn man auf eine so wun­der­bar idea­li­sir­te Phi­lo­so­phen­ge­sell­schaft hin­weist, wie die der alt­grie­chi­schen Meis­ter Tha­les, Ana­xi­man­der, Hera­klit, Par­me­ni­des, Ana­xa­go­ras, Em­pe­do­kles, De­mo­krit und So­kra­tes. Alle jene Män­ner sind ganz und aus ei­nem Stein ge­hau­en. Zwi­schen ih­rem Den­ken und ih­rem Cha­rak­ter herrscht stren­ge No­thwen­dig­keit. Es fehlt für sie jede Con­ven­ti­on, weil es da­mals kei­nen Phi­lo­so­phen- und Ge­lehr­ten­stand gab. Sie Alle sind in groß­ar­ti­ger Ein­sam­keit als die Ein­zi­gen, die da­mals nur der Er­kennt­niß leb­ten. Sie Alle be­sit­zen die tu­gend­haf­te Ener­gie der Al­ten, durch die sie alle Spä­te­ren über­tref­fen, ihre eig­ne Form zu fin­den und die­se bis in’s Feins­te und Größ­te durch Me­ta­mor­pho­se fort­zu­bil­den. Denn kei­ne Mode kam ih­nen hül­f­reich und er­leich­ternd ent­ge­gen. So bil­den sie zu­sam­men Das, was Scho­pen­hau­er im Ge­gen­satz zu der Ge­lehr­ten-Re­pu­blik eine Ge­nia­len-Re­pu­blik ge­nannt hat: ein Rie­se ruft dem an­de­ren durch die öden Zwi­schen­räu­me der Zei­ten zu und un­ge­stört durch muthwil­li­ges lär­men­des Ge­zwer­ge, wel­ches un­ter ih­nen weg­kriecht, setzt sich das hohe Geis­ter­ge­spräch fort.

Von die­sem ho­hen Geis­ter­ge­spräch habe ich mir vor­ge­setzt zu er­zäh­len, was uns­re mo­der­ne Hart­hö­rig­keit etwa da­von hö­ren und ver­ste­hen kann: das heißt ge­wiß das Al­ler­we­nigs­te. Es scheint mir, daß jene al­ten Wei­sen von Tha­les bis So­kra­tes, in ihm al­les Das, wenn auch in all­ge­meins­ter Form, be­spro­chen ha­ben, was für uns­re Be­trach­tung das Ei­gent­hüm­lich-Hel­le­ni­sche aus­macht. Sie prä­gen in ih­rem Ge­sprä­che wie schon in ih­ren Per­sön­lich­kei­ten die großen Züge des grie­chi­schen Ge­ni­us aus, de­ren schat­ten­haf­ter Ab­druck, de­ren ver­schwom­me­ne und des­halb un­deut­li­cher re­den­de Co­pie die gan­ze grie­chi­sche Ge­schich­te ist. Wenn wir das ge­samm­te Le­ben des grie­chi­schen Vol­kes rich­tig deu­te­ten, im­mer wür­den wir doch nur das Bild wie­der­ge­spie­gelt fin­den, das in sei­nen höchs­ten Ge­ni­en mit lich­teren Far­ben strahlt. Gleich das ers­te Er­leb­niß der Phi­lo­so­phie auf grie­chi­schem Bo­den, die Sank­ti­on der sie­ben Wei­sen, ist eine deut­li­che und un­ver­geß­li­che Li­nie am Bil­de des Hel­le­ni­schen. And­re Völ­ker ha­ben Hei­li­ge, die Grie­chen ha­ben Wei­se. Man hat mit Recht ge­sagt, daß ein Volk nicht so­wohl durch sei­ne großen Män­ner cha­rak­te­ri­sirt wer­de, als durch die Art, wie es die­sel­ben er­ken­ne und ehre. In an­de­ren Zei­ten ist der Phi­lo­soph ein zu­fäl­li­ger ein­sa­mer Wan­de­rer in feind­se­ligs­ter Um­ge­bung, ent­we­der sich durch­schlei­chend oder mit ge­ball­ten Fäus­ten sich durch­drän­gend. Al­lein bei den Grie­chen ist der Phi­lo­soph nicht zu­fäl­lig: wenn er im sechs­ten und fünf­ten Jahr­hun­dert un­ter den un­ge­heu­ren Ge­fah­ren und Ver­füh­run­gen der Ver­welt­li­chung er­scheint und gleich­sam aus der Höh­le des Tro­pho­ni­os mit­ten in die Üp­pig­keit, das Ent­decker­glück, den Reicht­hum und die Sinn­lich­keit der grie­chi­schen Ko­lo­ni­en hin­ein­schrei­tet, so ah­nen wir, daß er als ein ed­ler War­ner kommt, zu dem­sel­ben Zwe­cke, zu dem in je­nen Jahr­hun­der­ten die Tra­gö­die ge­bo­ren wur­de und den die or­phi­schen Mys­te­ri­en in den gro­tes­ken Hie­ro­gly­phen ih­rer Ge­bräu­che zu ver­ste­hen ge­ben. Das Urt­heil je­ner Phi­lo­so­phen über das Le­ben und das Da­sein über­haupt be­sagt so sehr viel mehr als ein mo­der­nes Urt­heil, weil sie das Le­ben in ei­ner üp­pi­gen Vollen­dung vor sich hat­ten und weil bei ih­nen nicht, wie bei uns, das Ge­fühl des Den­kers sich ver­wirrt in dem Zwie­spalt des Wun­sches nach Frei­heit, Schön­heit, Grö­ße des Le­bens und des Trie­bes nach Wahr­heit, die nur fragt: Was ist das Le­ben über­haupt werth? Die Auf­ga­be, die der Phi­lo­soph in­ner­halb ei­ner wirk­li­chen, nach ein­heit­li­chem Sti­le ge­ar­te­ten Cul­tur zu er­fül­len hat, ist aus un­sern Zu­stün­den und Er­leb­nis­sen des­halb nicht rein zu er­rat­hen, weil wir kei­ne sol­che Cul­tur ha­ben. Son­dern nur eine Cul­tur, wie die grie­chi­sche, kann die Fra­ge nach je­ner Auf­ga­be des Phi­lo­so­phen be­ant­wor­ten, nur sie kann, wie ich sag­te, die Phi­lo­so­phie über­haupt recht­fer­ti­gen, weil sie al­lein weiß und be­wei­sen kann, warum und wie der Phi­lo­soph nicht ein zu­fäl­li­ger, be­lie­bi­ger, bald hier-, bald dort­hin ver­spreng­ter Wan­de­rer ist. Es giebt eine stäh­ler­ne No­thwen­dig­keit, die den Phi­lo­so­phen an eine wah­re Cul­tur fes­selt: aber wie, wenn die­se Cul­tur nicht vor­han­den ist? Dann ist der Phi­lo­soph ein un­be­re­chen­ba­rer und dar­um Schre­cken ein­flö­ßen­der Ko­met, wäh­rend er im gu­ten Fal­le als ein Haupt­ge­stirn im Son­nen­sys­te­me der Cul­tur leuch­tet. Des­halb recht­fer­ti­gen die Grie­chen den Phi­lo­so­phen, weil er al­lein bei ih­nen kein Ko­met ist.