Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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2.

Nach sol­chen Be­trach­tun­gen wird es ohne An­stoß hin­ge­nom­men wer­den, wenn ich von den vor­pla­to­ni­schen Phi­lo­so­phen als von ei­ner zu­sam­men­ge­hö­ri­gen Ge­sell­schaft rede und ih­nen al­lein die­se Schrift zu wid­men ge­den­ke. Mit Pla­to be­ginnt et­was ganz Neu­es; oder, wie mit glei­chem Rech­te ge­sagt wer­den kann, seit Pla­to fehlt den Phi­lo­so­phen et­was We­sent­li­ches, im Ver­gleich mit je­ner Ge­nia­len-Re­pu­blik von Tha­les bis So­kra­tes.

Wer sich miß­güns­tig über jene äl­te­ren Meis­ter aus­drücken will, mag sie die Ein­sei­ti­gen nen­nen und ihre Epi­go­nen, mit Pla­to an der Spit­ze, die Viel­sei­ti­gen. Rich­ti­ger und un­be­fan­ge­ner wür­de es sein, die Letz­te­ren als phi­lo­so­phi­sche Misch­cha­rak­tere, die Ers­te­ren als die rei­nen Ty­pen zu be­grei­fen. Pla­to selbst ist der ers­te groß­ar­ti­ge Misch­cha­rak­ter, und als sol­cher so­wohl in sei­ner Phi­lo­so­phie als in sei­ner Per­sön­lich­keit aus­ge­prägt. So­kra­ti­sche, py­tha­go­re­i­sche und he­ra­kli­ti­sche Ele­men­te sind in sei­ner Ide­en­leh­re ver­ei­nigt: sie ist des­halb kein ty­pisch-rei­nes Phä­no­men. Auch als Mensch ver­mischt Pla­to die Züge des kö­nig­lich ab­ge­schlos­se­nen und all­ge­nüg­sa­men Hera­klit, des me­lan­cho­lisch-mit­leids­vol­len und le­gis­la­to­ri­schen Py­tha­go­ras und des see­len­kun­di­gen Dia­lek­ti­kers So­kra­tes. Alle spä­te­ren Phi­lo­so­phen sind sol­che Misch­cha­rak­tere; wo et­was Ein­sei­ti­ges an ih­nen her­vor­tritt, wie bei den Cy­ni­kern, ist es nicht Ty­pus, son­dern Car­ri­ka­tur. Viel wich­ti­ger aber ist, daß sie Sek­ten­stif­ter sind und daß die von ih­nen ge­stif­te­ten Sek­ten ins­ge­sammt Op­po­si­ti­ons­an­stal­ten ge­gen die hel­le­ni­sche Cul­tur und de­ren bis­he­ri­ge Ein­heit des Stils wa­ren. Sie su­chen in ih­rer Art eine Er­lö­sung, aber nur für die Ein­zel­nen oder höchs­tens für na­he­ste­hen­de Grup­pen von Freun­den und Jün­gern. Die Thä­tig­keit der äl­te­ren Phi­lo­so­phen geht, ob­schon ih­nen un­be­wußt, auf eine Hei­lung und Rei­ni­gung im Gro­ßen; der mäch­ti­ge Lauf der grie­chi­schen Cul­tur soll nicht auf­ge­hal­ten, furcht­ba­re Ge­fah­ren sol­len ihr aus dem Wege ge­räumt wer­den, der Phi­lo­soph schützt und vert­hei­digt sei­ne Hei­mat. Jetzt, seit Pla­to, ist er im Exil und con­spir­irt ge­gen sein Va­ter­land.

Es ist ein wah­res Un­glück, daß wir so we­nig von je­nen äl­te­ren phi­lo­so­phi­schen Meis­tern üb­rig ha­ben und daß uns al­les Voll­stän­di­ge ent­zo­gen ist. Un­will­kür­lich mes­sen wir sie, je­nes Ver­lus­tes we­gen, nach falschen Maa­ßen und las­sen uns durch die rein zu­fäl­li­ge That­sa­che, daß es Pla­to und Ari­sto­te­les nie an Schät­zern und Ab­schrei­bern ge­fehlt hat, zu Un­guns­ten der Frü­he­ren ein­neh­men. Man­che neh­men eine eig­ne Vor­se­hung für die Bü­cher an, ein fa­tum li­bel­lo­rum: dies müß­te aber je­den­falls sehr bos­haft sein, wenn es uns Hera­klit, das wun­der­ba­re Ge­dicht des Em­pe­do­kles, die Schrif­ten des De­mo­krit, den die Al­ten dem Pla­to gleich­stel­len und der Je­nen an In­ge­nu­i­tät noch über­ragt, zu ent­ziehn für gut fand und uns zum Er­satz Stoi­ker, Epi­ku­re­er und Ci­ce­ro in die Hand drückt. Wahr­schein­lich ist uns der groß­ar­tigs­te Theil des grie­chi­schen Den­kens und sei­nes Aus­drucks in Wor­ten ver­lo­ren ge­gan­gen: ein Schick­sal, über das sich Der nicht wun­dern wird, der sich der Miß­ge­schi­cke des Sco­tus Eri­ge­na oder des Pas­cal er­in­nert und er­wägt, daß selbst in die­sem hel­len Jahr­hun­dert die ers­te Auf­la­ge von Scho­pen­hau­er’s Welt als Wil­le und Vor­stel­lung zu Ma­ku­la­tur ge­macht wer­den muß­te. Will Je­mand für sol­che Din­ge eine eig­ne fa­ta­lis­ti­sche Macht an­neh­men, so mag er es, thun und mit Goe­the spre­chen: »Über’s Nie­der­träch­ti­ge Nie­mand sich be­kla­ge; denn es ist das Mäch­ti­ge, was man dir auch sage«. Es ist in Son­der­heit mäch­ti­ger als die Macht der Wahr­heit. Die Mensch­heit bringt so sel­ten ein gu­tes Buch her­vor, in dem mit küh­ner Frei­heit das Schlacht­lied der Wahr­heit, das Lied des phi­lo­so­phi­schen He­ro­is­mus an­ge­stimmt wird: und doch hängt es von den elen­des­ten Zu­fäl­lig­kei­ten, von plötz­li­chen Ver­fins­te­run­gen der Köp­fe, von aber­gläu­bi­schen Zu­ckun­gen und An­ti­pa­thi­en, zu­letzt selbst von schrei­befau­len Fin­gern oder gar von Kerb­wür­mern und Re­gen­wet­ter ab, ob es noch ein Jahr­hun­dert län­ger lebt oder zu Mo­der und Gide wird. Doch wol­len wir nicht kla­gen, viel­mehr uns selbst die Ab­fer­ti­gungs- und Trost­wor­te Ha­mann’s ge­sagt sein las­sen, die er an die Ge­lehr­ten rich­tet, die über ver­lor­ne Wer­ke kla­gen: »Hat­te der Künst­ler, wel­cher mit ei­ner Lin­se durch ein Na­delöhr traf, nicht an ei­nem Schef­fel Lin­sen ge­nug zur Übung sei­ner er­wor­be­nen Ge­schick­lich­keit? Die­se Fra­ge möch­te man an alle Ge­lehr­te thun, wel­che die Wei­le der Al­ten nicht klü­ger als Je­ner die Lin­sen zu ge­brau­chen wis­sen.« Es wäre in un­se­rem Fal­le noch hin­zu­zu­fü­gen, daß uns lein Wort, kei­ne An­ek­do­te, lei­ne Jah­res­zahl mehr über­lie­fert zu sein brauch­te, als über­lie­fert ist, ja daß selbst viel we­ni­ger uns er­hal­ten sein dürf­te, um die all­ge­mei­ne Leh­re fest­zu­stel­len, daß die Grie­chen die Phi­lo­so­phie recht­fer­ti­gen.

Eine Zeit, die an der so­ge­nann­ten all­ge­mei­nen Bil­dung lei­det, aber kei­ne Cul­tur und in ih­rem Le­ben kei­ne Ein­heit des Stils hat, wird mit der Phi­lo­so­phie nichts Rech­tes an­zu­fan­gen wis­sen, und wenn sie von dem Ge­ni­us der Wahr­heit selbst auf Stra­ßen und Märk­ten pro­kla­mirt wür­de.)1 Sie bleibt viel­mehr, in ei­ner sol­chen Zeit, ge­lehr­ter Mo­no­log des ein­sa­men Spa­zier­gän­gers, zu­fäl­li­ger Raub des Ein­zel­nen, ver­bor­ge­nes Stu­ben­ge­heim­niß oder un­ge­fähr­li­ches Ge­schwätz zwi­schen aka­de­mi­schen Grei­sen und Kin­dern. Nie­mand darf es wa­gen, das Ge­setz der Phi­lo­so­phie an sich zu er­fül­len, Nie­mand lebt phi­lo­so­phisch, mit je­ner ein­fa­chen Man­nes­treue, die einen Al­ten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoi­ker zu ge­bär­den, falls er der Stoa ein­mal Treue zu­ge­fügt hat­te. Al­les mo­der­ne Phi­lo­so­phi­ren ist po­li­tisch und po­li­zei­lich durch Re­gie­run­gen, Kir­chen, Aka­de­mi­en, Sit­ten, Mo­den, Feig­hei­ten der Men­schen auf den ge­lehr­ten An­schein be­schränkt: es bleibt beim Seuf­zer »wenn doch« oder bei der Er­kennt­nis; »es war ein­mal«. Die Phi­lo­so­phie ist ohne Recht, des­halb müß­te sie der mo­der­ne Mensch, wenn er über­haupt nur muthig und ge­wis­sen­haft wäre, ver­wer­fen und sie etwa mit ähn­li­chen Wor­ten ver­ban­nen, mit de­nen Plu­to die Tra­gö­di­en­dich­ter aus sei­nem Staa­te ver­wies.) Frei­lich blie­be ihr eine Ent­geg­nung üb­rig, wie sie auch je­nen Tra­gö­di­en­dich­tern, ge­gen Pla­to, üb­rig blieb. Sie könn­te etwa, wenn man sie ein­mal zum Re­den zwän­ge, sa­gen: »Arm­se­li­ges Volk! Ist es mei­ne Schuld, wenn ich un­ter dir wie eine Wahr­sa­ge­rin im Lan­de her­um­strei­che und mich ver­ste­cken und ver­stel­len muß, als ob ich die Sün­de­rin wäre und ihr mei­ne Rich­ter? Seht nur mei­ne Schwes­ter, die Kunst! Es geht ihr wie mir, wir sind un­ter Bar­ba­ren ver­schla­gen und wis­sen nicht mehr uns zu ret­ten. Hier fehlt uns, es ist wahr, je­des gute Recht: aber die Rich­ter, vor de­nen wir Recht fin­den, rich­ten auch über euch und wer­den euch sa­gen: Habt erst eine Cul­tur, dann sollt ihr auch er­fah­ren, was die Phi­lo­so­phie will und kann.« –

1 Von *) bis *) vgl. Vom Nut­zen und Nacht­heil der His­to­rie für das Le­ben, Bd. II S. 146/47. <<<

3.

Die grie­chi­sche Phi­lo­so­phie scheint mit ei­nem un­ge­reim­ten Ein­fal­le zu be­gin­nen, mit dem Sat­ze: daß das Was­ser der Ur­sprung und der Mut­ter­schooß al­ler Din­ge sei. Ist es wirk­lich nö­thig, hier­bei stil­le zu ste­hen und ernst zu wer­den? Ja, und aus drei Grün­den: ers­tens weil der Satz Et­was vom Ur­sprung der Din­ge aus­sagt; zwei­tens weil er dies ohne Bild und Fa­be­lei thut; und end­lich drit­tens, weil in ihm, wenn­gleich nur im Zu­stan­de der Ver­pup­pung, der Ge­dan­ke ent­hal­ten ist »Al­les ist Eins«. Der erst­ge­nann­te Grund läßt Tha­les noch in der Ge­mein­schaft mit Re­li­gi­ösen und Aber­gläu­bi­schen, der zwei­te aber nimmt ihn aus die­ser Ge­sell­schaft und zeigt uns ihn als Na­tur­for­scher, aber ver­mö­ge des drit­ten Grun­des gilt Tha­les als der ers­te grie­chi­sche Phi­lo­soph. Hät­te er ge­sagt: aus Was­ser wird Erde, so hät­ten wir nur eine wis­sen­schaft­li­che Hy­po­the­se, eine falsche, aber doch schwer wi­der­leg­ba­re. Aber er gieng über das Wis­sen­schaft­li­che hin­aus. Tha­les hat in der Dar­stel­lung die­ser Ein­heits-Vor­stel­lung durch die Hy­po­the­se vom Was­ser den nied­ri­gen Stand der phy­si­ka­li­schen Ein­sich­ten sei­ner Zeit nicht über­wun­den, son­dern höchs­tens über­sprun­gen. Die dürf­ti­gen und un­ge­ord­ne­ten Beo­b­ach­tun­gen em­pi­ri­scher Art, die Tha­les über das Vor­kom­men und die Ver­wand­lun­gen des Was­sers oder, ge­nau­er, des Feuch­ten, ge­macht hat­te, hät­ten am we­nigs­ten eine sol­che un­ge­heu­re Ver­all­ge­mei­ne­rung er­laubt oder gar an­ge­rat­hen; Das, was zu die­ser trieb, war ein me­ta­phy­si­scher Glau­bens­satz, der sei­nen Ur­sprung in ei­ner mys­ti­schen In­tui­ti­on hat und dem wir bei al­len Phi­lo­so­phien, sammt den im­mer er­neu­ten Ver­su­chen, ihn bes­ser aus­zu­drücken, be­geg­nen: – der Satz » Al­les ist Eins«.

Es ist merk­wür­dig, wie ge­walt­her­risch ein sol­cher Glau­be mit al­ler Em­pi­rie ver­fährt: ge­ra­de an Tha­les kann man ler­nen, wie es die Phi­lo­so­phie, zu al­len Zei­ten, ge­macht hat, wenn sie zu ih­rem ma­gisch an­zie­hen­den Zie­le, über die He­cken der Er­fah­rung hin­weg, hin­über­woll­te. Sie springt auf leich­ten Stüt­zen vor­aus: die Hoff­nung und die Ah­nung be­flü­geln ih­ren Fuß. Schwer­fäl­lig keucht der rech­nen­de Ver­stand hin­ter­drein und sucht bes­se­re Stüt­zen, um auch selbst je­nes lo­cken­de Ziel zu er­rei­chen, an dem der gött­li­che­re Ge­fähr­te schon an­ge­langt ist. Man glaubt, zwei Wan­de­rer an ei­nem wil­den, Stei­ne mit sich fort­wäl­zen­den Wald­bach zu se­hen: der eine springt leicht­fü­ßig hin­über, die Stei­ne be­nut­zend und sich auf ih­nen im­mer wei­ter schwin­gend, ob sie auch jäh hin­ter ihm in die Tie­fe sin­ken. Der an­de­re steht alle Au­gen­bli­cke hül­f­los da, er muß sich erst Fun­da­men­te bau­en, die sei­nen schwe­ren, be­däch­ti­gen Schritt er­tra­gen, mit­un­ter geht dies nicht, und dann hilft ihm kein Gott über den Bach. Was bringt also das phi­lo­so­phi­sche Den­ken so schnell an sein Ziel? Un­ter­schei­det es sich von dem rech­nen­den und ab­mes­sen­den Den­ken etwa nur durch das ra­sche­re Durch­flie­gen großer Räu­me? Nein, denn es hebt sei­nen Fuß eine frem­de, un­lo­gi­sche Macht, die Phan­ta­sie. Durch sie ge­ho­ben, springt es wei­ter von Mög­lich­keit zu Mög­lich­keit, die einst­wei­len als Si­cher­hei­ten ge­nom­men wer­den: hier und da er­greift es selbst Si­cher­hei­ten im Flu­ge. Ein ge­nia­li­sches Vor­ge­fühl zeigt sie ihm, es er­räth von fer­ne, daß an die­sem Punk­te be­weis­ba­re Si­cher­hei­ten sind. Be­son­ders aber ist die Kraft der Phan­ta­sie mäch­tig im blitz­ar­ti­gen Er­fas­sen und Be­leuch­ten von Ähn­lich­kei­ten: die Re­fle­xi­on bringt nach­her ihre Maß­stä­be und Scha­blo­nen her­an und sucht die Ähn­lich­kei­ten durch Gleich­hei­ten, das Ne­ben­ein­an­der-Ge­schau­te durch Cau­sa­li­tä­ten zu er­set­zen. Aber selbst, wenn dies nie mög­lich sein soll­te, selbst im Fal­le des Tha­les hat das un­be­weis­ba­re Phi­lo­so­phi­ren noch einen Werth; sind auch alle Stüt­zen ge­bro­chen, wenn die Lo­gik und die Starr­heit der Em­pi­rie hin­über will zu dem Sat­ze »Al­les ist Was­ser«, so bleibt im­mer noch, nach Zer­trüm­me­rung des wis­sen­schaft­li­chen Bau­es, ein Rest üb­rig; und ge­ra­de in die­sem Res­te liegt eine trei­ben­de Kraft und gleich­sam die Hoff­nung zu­künf­ti­ger Frucht­bar­keit.

 

Ich mei­ne na­tür­lich nicht, daß der Ge­dan­ke, in ir­gend ei­ner Be­schrän­kung oder Ab­schwä­chung, oder als Al­le­go­rie, viel­leicht noch eine Art »Wahr­heit« be­hal­te: etwa wenn man sich den bil­den­den Künst­ler am Was­ser­fal­le ste­hend denkt, und er in den ihm ent­ge­gen­sprin­gen­den For­men ein künst­le­risch vor­bil­den­des Spiel des Was­sers mit Men­schen» und Thier­lei­bern, Mas­ken, Pflan­zen, Fel­sen, Nym­phen, Grei­fen, über­haupt mit al­len vor­han­de­nen Ty­pen sieht: so daß für ihn der Satz »Al­les ist Was­ser« be­stä­tigt wäre. Der Ge­dan­ke des Tha­les hat viel­mehr ge­ra­de dar­in sei­nen Werth – auch nach der Er­kennt­niß, daß er un­be­weis­bar ist –, daß er je­den­falls un­my­thisch und unal­le­go­risch ge­meint war. Die Grie­chen, un­ter de­nen Tha­les plötz­lich so be­merk­bar wur­de, wa­ren dar­in das Ge­gen­stück al­ler Rea­lis­ten, als sie ei­gent­lich nur an die Rea­li­tät von Men­schen und Göt­tern glaub­ten und die gan­ze Na­tur gleich­sam nur als Ver­klei­dung, Mas­ke­ra­de und Me­ta­mor­pho­se die­ser Göt­ter-Men­schen be­trach­te­ten. Der Mensch war ih­nen die Wahr­heit und der Kern der Din­ge, al­les And­re nur Er­schei­nung und täu­schen­des Spiel. Eben­des­halb mach­te es ih­nen un­glaub­li­che Be­schwer­de, die Be­grif­fe als Be­grif­fe zu fas­sen: und um­ge­kehrt wie bei den Neue­ren auch das Per­sön­lichs­te sich zu Abstrak­tio­nen sub­li­mirt, rann bei ih­nen das Abstrak­tes­te im­mer wie­der zu ei­ner Per­son zu­sam­men. Tha­les aber sag­te: »nicht der Mensch, son­dern das Was­ser ist die Rea­li­tät der Din­ge«, er fängt an, der Na­tur zu glau­ben, so­fern er doch we­nigs­tens an das Was­ser glaubt. Als Ma­the­ma­ti­ker und Astro­nom hat­te er sich ge­gen al­les My­thi­sche und Al­le­go­ri­sche er­käl­tet, und wenn es ihm nicht ge­lang, bis zu der rei­nen Abstrak­ti­on »Al­les ist Eins« er­nüch­tert zu wer­den, und er bei ei­nem phy­si­ka­li­schen Aus­dru­cke ste­hen blieb, so war er doch, un­ter den Grie­chen sei­ner Zeit, eine be­fremd­li­che Sel­ten­heit. Vi­el­leicht be­sa­ßen die höchst auf­fäl­li­gen Or­phi­ker die Fä­hig­keit, Abstrak­tio­nen zu fas­sen und un­elas­tisch zu den­ken, in ei­nem noch hö­he­ren Gra­de als er: nur daß ih­nen der Aus­druck der­sel­ben al­lein in der Form der Al­le­go­rie ge­lang. Auch Phe­reky­des aus Sy­ros, der Tha­les in der Zeit und in man­chen phy­si­ka­li­schen Con­cep­tio­nen nahe steht, schwebt mit sei­nem Aus­dru­cke der­sel­ben in je­ner Mit­tel­re­gi­on, in der der My­thus sich mit der Al­le­go­rie gat­tet: so daß er zum Bei­spiel wagt, die Erde mit ei­ner ge­flü­gel­ten Ei­che zu ver­glei­chen, die mit aus­ge­brei­te­ten Fit­ti­gen in der Luft hängt und der Zeus, nach Über­wäl­ti­gung des Kro­nos, ein pracht­vol­les Ehren­ge­wand um­legt, in das er mit eig­ner Hand die Län­der, Was­ser und Flüs­se ein­ge­stickt hat. Sol­chem kaum in’s Schau­ba­re zu über­set­zen­den düs­ter-al­le­go­ri­schen Phi­lo­so­phi­ren ge­gen­über ist Tha­les ein schöp­fe­ri­scher Meis­ter, der ohne phan­tas­ti­sche Fa­be­lei der Na­tur in ihre Tie­fen zu se­hen be­gann. Wenn er da­bei die Wis­sen­schaft und das Be­weis­ba­re zwar be­nutz­te, aber bald über­sprang, so ist dies eben­falls ein ty­pi­sches Merk­mal des phi­lo­so­phi­schen Kop­fes. Das grie­chi­sche Wort, wel­ches den »Wei­sen« be­zeich­net, ge­hört ety­mo­lo­gisch zu s­a­pio ich schme­cke, s­a­pi­ens der Schme­cken­de, si­sy­phos der Mann des schärfs­ten Ge­schmacks; ein schar­fes Heraus­schme­cken und -er­ken­nen, ein be­deu­ten­des Un­ter­schei­den macht also, nach dem Be­wußt­sein des Vol­kes, die ei­gent­hüm­li­che Kunst des Phi­lo­so­phen aus. Er ist nicht klug, wenn man klug Den nennt, der in sei­nen eig­nen An­ge­le­gen­hei­ten das Gute her­aus­fin­det; Ari­sto­te­les sagt mit Recht: »Das, was Tha­les und Ana­xa­go­ras wis­sen, wird man un­ge­wöhn­lich, er­staun­lich, schwie­rig, gött­lich nen­nen, aber un­nütz, weil es ih­nen nicht um die mensch­li­chen Gü­ter zu thun war.« Durch die­ses Aus­wäh­len und Aus­schei­den des Un­ge­wöhn­li­chen, Er­staun­li­chen, Schwie­ri­gen, Gött­li­chen grenzt sich die Phi­lo­so­phie ge­gen die Wis­sen­schaft eben­so ab, wie sie durch das Her­vor­he­ben des Un­nüt­zen sich ge­gen die Klug­heit ab­grenzt. Die Wis­sen­schaft stürzt sich, ohne sol­ches Aus­wäh­len, ohne sol­chen Fein­ge­schmack, auf al­les Wiß­ba­re, in der blin­den Be­gier­de, Al­les um je­den Preis er­ken­nen zu wol­len; das phi­lo­so­phi­sche Den­ken da­ge­gen ist im­mer auf der Fähr­te der Wis­sens­wür­digs­ten Din­ge, der großen und wich­tigs­ten Er­kennt­nis­se, Nun ist der Be­griff der Grö­ße wan­del­bar, so­wohl im mo­ra­li­schen als äs­the­ti­schen Be­rei­che: so be­ginnt die Phi­lo­so­phie mit ei­ner Ge­setz­ge­bung der Grö­ße, ein Na­men­ge­ben ist mit ihr ver­bun­den. »Das ist groß« sagt sie und da­mit er­hebt sie den Men­schen über das blin­de un­ge­bän­dig­te Be­geh­ren sei­nes Er­kennt­niß­trie­bes. Durch den Be­griff der Grö­ße bän­digt sie die­sen Trieb: und am meis­ten da­durch, daß sie die größ­te Er­kennt­niß, vom We­sen und Kern der Din­ge, als er­reich­bar und als er­reicht be­trach­tet. Wenn Tha­les sagt »Al­les ist Was­ser«, so zuckt der Mensch em­por aus dem wur­mar­ti­gen Be­tas­ten und He­rum­krie­chen der ein­zel­nen Wis­sen­schaf­ten, er ahnt die letz­te Lö­sung der Din­ge und über­win­det, durch die­se Ah­nung, die ge­mei­ne Be­fan­gen­heit der nie­de­ren Er­kennt­niß­gra­de. Der Phi­lo­soph sucht den Ge­sammt­klang der Welt, in sich nach­tö­nen zu las­sen und ihn aus sich her­aus­zu­stel­len in Be­grif­fen: wäh­rend er be­schau­lich ist wie der bil­den­de Künst­ler, mit­lei­dend wie der Re­li­gi­öse, nach Zwe­cken und Cau­sa­li­tä­ten spä­hend wie der wis­sen­schaft­li­che Mensch, wäh­rend er sich zum Ma­kro­kos­mos auf­schwel­len fühlt, be­hält er da­bei die Be­son­nen­heit, sich, als den Wie­der­schein der Welt, kalt zu be­trach­ten, jene Be­son­nen­heit, die der dra­ma­ti­sche Künst­ler be­sitzt, wenn er sich in and­re Lei­ber ver­wan­delt, aus ih­nen re­det und doch die­se Ver­wand­lung nach au­ßen hin, in ge­schrie­be­nen Ver­sen zu pro­ji­ci­ren weiß. Was hier der Vers für den Dich­ter ist, ist für den Phi­lo­so­phen das dia­lek­ti­sche Den­ken: nach ihm greift er, um sich sei­ne Ver­zau­be­rung fest­zu­hal­ten, um sie zu pe­tri­fi­ci­ren. Und wie für den Dra­ma­ti­ker Wort und Vers mir das Stam­meln in ei­ner frem­den Spra­che sind, um in ihr zu sa­gen, was er leb­te und schau­te und was er di­rekt nur durch die Ge­bär­de und die Mu­sik ver­kün­den kann, so ist der Aus­druck je­der tie­fen phi­lo­so­phi­schen In­tui­ti­on durch Dia­lek­tik und wis­sen­schaft­li­ches Re­flek­ti­ren zwar ei­ner­seits das ein­zi­ge Mit­tel, um das Ge­schau­te mit­zut­hei­len, aber ein küm­mer­li­ches Mit­tel, ja im Grun­de eine me­ta­pho­ri­sche, ganz und gar un­ge­treue Über­tra­gung in eine ver­schie­de­ne Sphä­re und Spra­che. So schau­te Tha­les die Ein­heit des Sei­en­den: und wie er sich mit­t­hei­len woll­te, re­de­te er vom Was­ser!

4.

Wäh­rend der all­ge­mei­ne Ty­pus des Phi­lo­so­phen an dem Bil­de des Tha­les sich nur wie aus Ne­beln her­aus­hebt, spricht schon das Bild sei­nes großen Nach­fol­gers viel deut­li­cher zu uns. Ana­xi­man­der aus Mi­let, der ers­te phi­lo­so­phi­sche Schrift­stel­ler der Al­ten, schreibt so, wie der ty­pi­sche Phi­lo­soph eben schrei­ben wird, so lan­ge ihm noch nicht durch be­frem­den­de An­for­de­run­gen die Un­be­fan­gen­heit und die Nai­ve­tät ge­raubt sind: in groß­sti­li­sir­ter Stein­schrift, Satz für Satz Zeu­ge ei­ner neu­en Er­leuch­tung und Aus­druck des Ver­wei­lens in er­ha­be­nen Con­tem­pla­tio­nen. Der Ge­dan­ke und sei­ne Form sind Mei­len­stei­ne auf dem Pfa­de zu je­ner höchs­ten Weis­heit. In sol­cher la­pi­da­ri­schen Ein­dring­lich­keit sagt Ana­xi­man­der ein­mal: »Wo­her die Din­ge ihre Ent­ste­hung ha­ben, da­hin müs­sen sie auch zu Grun­de ge­hen, nach der No­thwen­dig­keit; denn sie müs­sen Buße zah­len und für ihre Un­ge­rech­tig­kei­ten ge­rich­tet wer­den, ge­mäß der Ord­nung der Zeit«, Räth­sel­haf­ter Auss­pruch ei­nes wah­ren Pes­si­mis­ten, Ora­ke­lauf­schrift am Grenz­stei­ne grie­chi­scher Phi­lo­so­phie, wie wer­den wir dich deu­ten?

Der ein­zi­ge ernst­ge­sinn­te Sit­ten­leh­rer un­se­res Sae­cu­lum legt uns in den Pa­rer­gis (Band II, Ca­pi­tel 12, Nach­trä­ge zur Leh­re vom Lei­den der Welt, An­hang ver­wand­ter Stel­len) eine ähn­li­che Be­trach­tung an’s Herz, »Der rech­te Maß­stab zur Beurt­hei­lung ei­nes je­den Men­schen ist, daß er ei­gent­lich ein We­sen sei, wel­ches gar nicht existiren soll­te, son­dern sein Da­sein ab­büßt durch viel­ge­stal­te­tes Lei­den und Tod: – was kann man von ei­nem sol­chen er­war­ten? Sind wir denn nicht Alle zum Tode ver­urt­heil­te Sün­der? Wir bü­ßen un­se­re Ge­burt erst­lich durch das Le­ben und zwei­tens durch das Ster­ben ab.« Wer die­se Leh­re aus der Phy­sio­gno­mie un­se­res all­ge­mei­nen Men­schen­loo­ses her­aus­liest und die schlech­te Grund­be­schaf­fen­heit ei­nes je­den Men­schen­le­bens schon dar­in er­kennt, daß kei­nes ver­trägt auf­merk­sam und in nächs­ter Nähe be­trach­tet zu wer­den, – ob­schon un­se­re an die bio­gra­phi­sche Seu­che ge­wöhn­te Zeit an­ders und statt­li­cher über die Wür­de des Men­schen zu den­ken scheint –; wer, wie Scho­pen­hau­er, auf den »Hö­hen der in­di­schen Lüf­te« das hei­li­ge Wort von dem mo­ra­li­schen Wert­he des Da­seins ge­hört hat, der wird schwer da­von ab­zu­hal­ten sein, eine höchst an­thro­po­mor­phi­sche Me­ta­pher zu ma­chen und jene schwer­müthi­ge Leh­re aus der Be­schrän­kung auf das Men­schen­le­ben her­aus­zu­zie­hen und sie auf den all­ge­mei­nen Cha­rak­ter al­les Da­seins, durch Über­tra­gung, an­zu­wen­den. Es mag nicht lo­gisch sein, ist aber je­den­falls recht mensch­lich, und über­dies recht im Sti­le des frü­her ge­schil­der­ten phi­lo­so­phi­schen Sprin­gens, jetzt mit Ana­xi­man­der al­les Wer­den wie eine straf­wür­di­ge Eman­ci­pa­ti­on vom ewi­gen Sein an­zu­sehn, als ein Un­recht, das mit dem Un­ter­gan­ge zu bü­ßen ist. Al­les, was ein­mal ge­wor­den ist, ver­geht auch wie­der, ob wir nun da­bei an das Men­schen­le­ben oder an das Was­ser oder an Warm und Kalt den­ken: über­all, wo be­stimm­te Ei­gen­schaf­ten wahr­zu­neh­men sind, dür­fen wir auf den Un­ter­gang die­ser Ei­gen­schaf­ten, nach ei­nem un­ge­heu­ren Er­fah­rungs-Be­weis, pro­phe­zei­en. Nie kann also ein We­sen, das be­stimm­te Ei­gen­schaf­ten be­sitzt und aus ih­nen be­steht, Ur­sprung und Prin­cip der Din­ge sein; das wahr­haft Sei­en­de, schloß Ana­xi­man­der, kann kei­ne be­stimm­ten Ei­gen­schaf­ten be­sit­zen, sonst wür­de es, wie alle an­dern Din­ge, ent­stan­den sein und zu Grun­de gehn müs­sen. Da­mit das Wer­den nicht auf­hört, muß das Ur­we­sen un­be­stimmt sein. Die Uns­terb­lich­keit und Ewig­keit des Ur­we­sens liegt nicht in ei­ner Unend­lich­keit und Unaus­schöpf­bar­keit – wie ge­mein­hin die Er­klä­rer des Ana­xi­man­der an­neh­men –, son­dern dar­in, daß es der be­stimm­ten, zum Un­ter­gan­ge füh­ren­den Qua­li­tä­ten bar ist; wes­halb es auch sei­nen Na­men, als »das Un­be­stimm­te« trägt. Das so be­nann­te Ur­we­sen ist über das Wer­den er­ha­ben und ver­bürgt eben des­halb die Ewig­keit und den un­ge­hemm­ten Ver­lauf des Wer­dens. Die­se letz­te Ein­heit in je­nem »Un­be­stimm­ten«, der Mut­ter­schooß al­ler Din­ge, kann frei­lich von dem Men­schen nur ne­ga­tiv be­zeich­net wer­den, als Et­was, dem aus der vor­han­de­nen Welt des Wer­dens kein Prä­di­kat ge­ge­ben wer­den kann, und dürf­te des­halb dem kan­ti­schen »Ding an sich« als eben­bür­tig gel­ten.

 

Wer sich frei­lich mit An­de­ren dar­über her­um­strei­ten kann, was das nun ei­gent­lich für ein Ur­stoff ge­we­sen sei, ob er etwa ein Mit­tel­ding zwi­schen Luft und Was­ser oder viel­leicht zwi­schen Luft und Feu­er sei, hat un­sern Phi­lo­so­phen gar nicht ver­stan­den: was eben­falls von Je­nen zu sa­gen ist, die sich ernst­haft fra­gen, ob Ana­xi­man­der sich sei­nen Ur­stoff als Mi­schung al­ler vor­han­de­nen Stof­fe ge­dacht habe. Viel­mehr dort­hin müs­sen wir den Blick rich­ten, wo wir ler­nen kön­nen, daß Ana­xi­man­der die Fra­ge nach der Her­kunft die­ser Welt be­reits nicht mehr rein phy­si­ka­lisch be­han­del­te, hin nach je­nem zu­erst an­ge­führ­ten la­pi­da­ri­schen Satz. Wenn er viel­mehr in der Viel­heit der ent­stan­de­nen Din­ge eine Sum­me von ab­zu­bü­ßen­den Un­ge­rech­tig­kei­ten schau­te, so hat er das Knäu­el des tief­sin­nigs­ten ethi­schen Pro­blems mit küh­nem Grif­fe, als der ers­te Grie­che, er­hascht. Wie kann Et­was ver­ge­hen, was ein Recht hat zu sein! Wo­her je­nes rast­lo­se Wer­den und Ge­bä­ren, wo­her je­ner Aus­druck von schmerz­haf­ter Ver­zer­rung auf dem An­ge­sich­te der Na­tur, wo­her die nie en­den­de Tod­ten­kla­ge in al­len Rei­chen des Da­seins? Aus die­ser Welt des Un­rech­tes, des fre­chen Ab­falls von der Ur-Ein­heit der Din­ge flüch­tet Ana­xi­man­der in eine me­ta­phy­si­sche Burg, aus der hin­aus­ge­lehnt er jetzt den Blick weit um­her rol­len läßt, um end­lich, nach nach­denk­li­chem Schwei­gen, an alle We­sen die Fra­ge zu rich­ten: »Was ist euer Da­sein werth? Und wenn es nichts werth ist, wozu seid ihr da? Durch eure Schuld, mer­ke ich, weilt ihr in die­ser Exis­tenz. Mit dem Tode wer­det ihr sie bü­ßen müs­sen. Seht hin, wie eure Erde welkt; die Mee­re neh­men ab und trock­nen aus, die See­mu­schel auf dem Ge­bir­ge zeigt euch, wie weit sie schon ver­trock­net sind; das Feu­er zer­stört eure Welt be­reits jetzt, end­lich wird sie in Dunst und Rauch auf­gehn. Aber im­mer von Neu­em wie­der wird eine sol­che Welt der Ver­gäng­lich­keit sich bau­en: wer ver­möch­te euch vom Flu­che des Wer­dens zu er­lö­sen?«

Ei­nem Man­ne, der sol­che Fra­gen stellt, des­sen auf­schwe­ben­des Den­ken fort­wäh­rend die em­pi­ri­schen Stri­cke zer­riß, um so­fort den höchs­ten su­per­lu­na­ri­schen Auf­schwung zu neh­men, mag nicht jede Art des Le­bens will­kom­men ge­we­sen sein. Wir glau­ben es ger­ne der Über­lie­fe­rung, daß er in be­son­ders ehr­wür­di­ger Klei­dung ein­her­gieng und einen wahr­haft tra­gi­schen Stolz in sei­nen Ge­bär­den und Le­bens­ge­wohn­hei­ten zeig­te. Er leb­te, wie er schrieb; er sprach so fei­er­lich als er sich klei­de­te; er er­hob die Hand und setz­te den Fuß, als ob die­ses Da­sein eine Tra­gö­die sei, in der er, als Held, mit­zu­spie­len ge­bo­ren sei. In Al­le­dem war er das große Vor­bild des Em­pe­do­kles. Sei­ne Mit­bür­ger er­wähl­ten ihn, eine aus­wan­dern­de Ko­lo­nie an­zu­füh­ren – viel­leicht freu­ten sie sich ihn zu­gleich eh­ren und los­wer­den zu kön­nen. Auch sein Ge­dan­ke zog aus und grün­de­te Ko­lo­ni­en: in Ephe­sus und in Elea wur­de man ihn nicht los, und wenn man sich nicht ent­schlie­ßen konn­te, an der Stel­le zu blei­ben, wo er stand, so wuß­te man doch, daß man dort­hin von ihm ge­führt wor­den sei, von wo man jetzt, ohne ihn, wei­ter­zu­schrei­ten sich an­schick­te.

Tha­les zeigt das Be­dürf­niß, das Reich der Viel­heit zu sim­pli­fi­ci­ren und zu ei­ner blo­ßen Ent­fal­tung oder Ver­klei­dung der einen al­lein vor­han­de­nen Qua­li­tät, des Was­sers, her­ab­zu­set­zen. Über ihn geht Ana­xi­man­der mit zwei Schrit­ten hin­aus. Er fragt sich ein­mal: »Wie ist doch, wenn es über­haupt eine ewi­ge Ein­heit giebt, jene Viel­heit mög­lich?« und ent­nimmt die Ant­wort aus dem wi­der­spruchs­vol­len, sich selbst auf­zeh­ren­den und ver­nei­nen­den Cha­rak­ter die­ser Viel­heit. Die Exis­tenz der­sel­ben wird ihm zu ei­nem mo­ra­li­schen Phä­no­men, sie ist nicht ge­recht­fer­tigt, son­dern büßt sich fort­wäh­rend durch den Un­ter­gang ab. Aber dann fällt ihm die Fra­ge ein: »Wa­rum ist denn nicht schon längst al­les Ge­w­ord­ne zu Grun­de ge­gan­gen, da doch be­reits eine gan­ze Ewig­keit von Zeit vor­über ist? Wo­her der im­mer er­neu­te Strom des Wer­dens?« Er weiß sich nur durch mys­ti­sche Mög­lich­kei­ten vor die­ser Fra­ge zu ret­ten: das ewi­ge Wer­den kann sei­nen Ur­sprung nur im ewi­gen Sein ha­ben, die Be­din­gun­gen zu dem Ab­fall von je­nem Sein zu ei­nem Wer­den in Un­ge­rech­tig­keit sind im­mer die glei­chen, die Con­stel­la­ti­on der Din­ge ist nun ein­mal so be­schaf­fen, daß kein Ende für je­nes Heraustre­ten des Ein­zel­we­sens aus dem Schooß des »Un­be­stimm­ten« ab­zu­set­zen ist. Hier­bei blieb Ana­xi­man­der: das heißt er blieb in den tie­fen Schat­ten, die wie rie­sen­haf­te Ge­s­pens­ter auf dem Ge­bir­ge ei­ner sol­chen Welt­be­trach­tung la­gen. Je mehr man dem Pro­ble­me sich na­hen woll­te, wie über­haupt aus dem Un­be­stimm­ten je das Be­stimm­te, aus dem Ewi­gen das Zeit­li­che, aus dem Ge­rech­ten die Un­ge­rech­tig­keit, durch Ab­fall ent­ste­hen kön­ne, um so grö­ßer wur­de die Nacht.