Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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15.

Man muß auf die Geg­ner der Elea­ten bli­cken, um die au­ßer­or­dent­li­chen Vor­zü­ge in der An­nah­me des Par­me­ni­des zu wür­di­gen. Wel­che Ver­le­gen­hei­ten – de­nen Par­me­ni­des ent­gan­gen war – er­war­te­ten Ana­xa­go­ras und Alle, wel­che an eine Viel­heit der Sub­stan­zen glaub­ten, bei der Fra­ge: »wie viel Sub­stan­zen?« Ana­xa­go­ras mach­te den Sprung, schloß die Au­gen und sag­te: »un­end­lich vie­le«: so war er we­nigs­tens über den un­glaub­lich müh­se­li­gen Nach­weis ei­ner be­stimm­ten An­zahl von Ele­men­tar­stof­fen hin­aus­ge­flo­gen. Da die­se un­end­lich vie­len ohne Zu­wachs und un­ver­än­dert, seit Ewig­kei­ten existiren müß­ten, so war in je­ner An­nah­me der Wi­der­spruch ei­ner ab­ge­schlos­sen und vollen­det zu den­ken­den Unend­lich­keit ge­ge­ben. Kurz, die Viel­heit, die Be­we­gung, die Unend­lich­keit, von Par­me­ni­des durch den stau­nens­wür­di­gen Satz vom einen Sein in die Flucht ge­schla­gen, lehr­ten aus der Ver­ban­nung zu­rück und war­fen auf die Geg­ner des Par­me­ni­des ihre Ge­schos­se, um mit ih­nen Wun­den zu ver­ur­sa­chen, für die es kei­ne Hei­lung giebt. Of­fen­bar ha­ben jene Geg­ner kein si­che­res Be­wußt­sein von der furcht­ba­ren Kraft je­ner elea­ti­schen Ge­dan­ken »es kann kei­ne Zeit, kei­ne Be­we­gung, kei­nen Raum ge­ben, denn die­se Alle kön­nen wir uns nur un­end­lich den­ken, und zwar ein­mal un­end­lich groß, so­dann un­end­lich theil­bar; al­les Unend­li­che aber hat kein Sein, existirt nicht«, was Nie­mand be­zwei­felt, der den Sinn des Wor­tes »Sein« streng faßt und der die Exis­tenz von et­was Wi­der­spruchs­vol­lem, zum Bei­spiel von ei­ner ab­sol­vir­ten Unend­lich­keit für un­mög­lich hält. Wenn aber ge­ra­de die Wirk­lich­keit uns Al­les nur un­ter der Form der vollen­de­ten Unend­lich­keit zeigt, so fällt es in die Au­gen, daß sie sich selbst wi­der­spricht, also kei­ne wah­re Rea­li­tät hat. Wenn jene Geg­ner aber ein­wen­den woll­ten: »aber in eu­rem Den­ken selbst giebt es doch Suc­ces­si­on, also könn­te auch euer Den­ken nicht real sein und so­mit auch Nichts be­wei­sen kön­nen«, so wür­de Par­me­ni­des viel­leicht ähn­lich wie Kant in ei­nem ähn­li­chen Fal­le, bei ei­nem glei­chen Vor­wur­fe, geant­wor­tet ha­ben: »ich kann zwar sa­gen, mei­ne Vor­stel­lun­gen fol­gen ein­an­der: aber das heißt nur: wir sind uns ih­rer als in ei­ner Zeit­fol­ge, d. h. nach der Form des in­ne­ren Sin­nes be­wußt. Die Zeit ist des­halb nicht Et­was an sich, auch kei­ne den Din­gen ob­jek­tiv an­hän­gen­de Be­stim­mung.« Es wäre also zwi­schen dem rei­nen Den­ken, das zeit­los wäre wie das eine par­me­ni­de­i­sche Sein, und dem Be­wußt­sein von die­sem Den­ken zu un­ter­schei­den, und Letz­te­res über­setz­te be­reits das Den­ken in die Form des Scheins, also der Suc­ces­si­on, der Viel­heit und der Be­we­gung. Es ist wahr­schein­lich, daß sich Par­me­ni­des die­ses Aus­wegs be­dient ha­ben wür­de: üb­ri­gens müß­te dann ge­gen ihn Das­sel­be ein­ge­wen­det wer­den, was A. Spir (Den­ken und Wirk­lich­keit 2. Aufl. Band I S. 209 f.) ge­gen Kant ein­wen­det. »Nun ist es aber ers­tens klar, daß ich von ei­ner Suc­ces­si­on als sol­cher Nichts wis­sen kann, wenn ich die auf­ein­an­der­fol­gen­den Glie­der der­sel­ben nicht zu­gleich in mei­nem Be­wußt­sein habe. Die Vor­stel­lung ei­ner Suc­ces­si­on ist also selbst gar nicht suc­ces­siv, folg­lich auch von der Suc­ces­si­on un­se­rer Vor­stel­lun­gen durch­aus ver­schie­den. Zwei­tens im­pli­cirt die An­nah­me Kant’s so of­fen­ba­re Ab­sur­di­tä­ten, daß es Ei­nen Wun­der nimmt, wie er sie un­be­ach­tet las­sen konn­te. Cäsar und So­kra­tes sind nach die­ser An­nah­me nicht wirk­lich todt, sie le­ben noch eben­so­gut wie vor zwei­tau­send Jah­ren und schei­nen bloß todt zu sein, in Fol­ge ei­ner Ein­rich­tung mei­nes »in­ne­ren Sin­nes«. Künf­ti­ge Men­schen le­ben jetzt schon, und wenn sie jetzt noch nicht als le­bend her­vor­tre­ten, so ist dar­an eben­falls jene Ein­rich­tung des »in­ne­ren Sin­nes« schuld. Hier fragt es sich vor al­len Din­gen: Wie kann der An­fang und das Ende des be­wuß­ten Le­bens selbst, mit­sammt al­len sei­nen in­ne­ren und äu­ße­ren Sin­nen bloß in der Auf­fas­sung des in­ne­ren Sin­nes existiren? That­sa­che ist eben, daß man die Rea­li­tät der Ver­än­de­rung durch­aus nicht ab­leug­nen kann. Wird sie zum Fens­ter hin­aus ge­wie­sen, so schlüpft sie durch das Schlüs­sel­loch wie­der her­ein. Man sage: »Es scheint mir bloß, daß Zu­stän­de und Vor­stel­lun­gen wech­seln«, – so ist doch die­ser Schein selbst et­was ob­jek­tiv Vor­han­de­nes und in ihm hat die Suc­ces­si­on un­zwei­fel­haft ob­jek­ti­ve Rea­li­tät, es folgt dar­in Et­was wirk­lich auf­ein­an­der. – Au­ßer­dem muß man be­mer­ken, daß die gan­ze Kri­tik der Ver­nunft ja nur un­ter der Voraus­set­zung Grund und Recht ha­ben kann, daß uns uns­re Vor­stel­lun­gen selbst so er­schei­nen, wie sie sind. Denn wenn auch die Vor­stel­lun­gen uns an­ders er­schie­nen, als sie wirk­lich sind, so wür­de man auch über die­se kei­ne gül­ti­ge Be­haup­tung auf­stel­len, also kei­ne Er­kennt­niß­theo­rie und kei­ne »transscen­den­ta­le« Un­ter­su­chung von ob­jek­ti­ver Gül­tig­keit zu Stan­de brin­gen kön­nen. Nun steht es aber au­ßer Zwei­fel, daß uns uns­re Vor­stel­lun­gen selbst als suc­ces­siv er­schei­nen.«

Die Be­trach­tung die­ser zwei­fel­los si­che­ren Suc­ces­si­on und Be­wegt­heit hat nun Ana­xa­go­ras zu ei­ner denk­wür­di­gen Hy­po­the­se ge­drängt. Er­sicht­lich be­weg­ten die Vor­stel­lun­gen sich selbst, wur­den nicht ge­scho­ben und hat­ten kei­ne Ur­sa­che der Be­we­gung au­ßer sich. Also giebt es Et­was, sag­te er sich, was den Ur­sprung und den An­fang der Be­we­gung in sich selbst trägt; zwei­tens aber be­ach­tet er, daß die­se Vor­stel­lung nicht nur sich selbst, son­dern auch noch et­was ganz Ver­schied­nes be­we­ge, den Leib. Er ent­deckt also, in der un­mit­tel­bars­ten Er­fah­rung, eine Wir­kung von Vor­stel­lun­gen auf aus­ge­dehn­te Ma­te­rie, die sich als Be­we­gung der letz­te­ren zu er­ken­nen giebt. Das galt ihm als That­sa­che; erst ne­ben­bei reiz­te es ihn, auch die­se That­sa­che zu er­klä­ren. Ge­nug, er hat­te ein re­gu­la­ti­ves Sche­ma für die Be­we­gung in der Welt, die er jetzt ent­we­der als eine Be­we­gung der wah­ren, iso­lir­ten We­sen­hei­ten durch das Vor­stel­len­de, den Nous, oder als Be­we­gung durch be­reits Be­weg­tes dach­te. Daß die letz­te­re Art, die me­cha­ni­sche Über­tra­gung von Be­we­gun­gen und Stö­ßen, bei sei­ner Grun­d­an­nah­me eben­falls ein Pro­blem in sich ent­hal­te, ist ihm wahr­schein­lich ent­gan­gen: die Ge­mein­heit und All­täg­lich­keit der Wir­kung durch Stoß stumpf­te wohl sei­nen Blick ge­gen die Räth­sel­haf­tig­keit des­sel­ben ab. Da­ge­gen emp­fand er recht wohl die pro­ble­ma­ti­sche, ja wi­der­spruchs­vol­le Na­tur ei­ner Wir­kung von Vor­stel­lun­gen auf an sich sei­en­de Sub­stan­zen und such­te des­halb auch die­se Wir­kung auf ein me­cha­ni­sches, ihm als er­klär­lich gel­ten­des Schie­ben und Sto­ßen zu­rück­zu­füh­ren. Der Nous war ja je­den­falls auch eine sol­che an sich sei­en­de Sub­stanz und wur­de von ihm als ganz zar­te und fei­ne Ma­te­rie, mit der spe­ci­fi­schen Qua­li­tät Den­ken, cha­rak­te­ri­sirt. Bei ei­nem sol­cher­ma­ßen an­ge­nom­me­nen Cha­rak­ter muß­te frei­lich die Wir­kung die­ser Ma­te­rie auf die and­re Ma­te­rie ganz der­sel­ben Art sein, wie die, wel­che eine and­re Sub­stanz auf eine drit­te aus­übt, das heißt eine me­cha­ni­sche, durch Druck und Stoß be­we­gen­de. Im­mer­hin hat­te er jetzt eine Sub­stanz, wel­che sich selbst be­wegt und An­de­res be­wegt, de­ren Be­we­gung nicht nun au­ßen kommt und von Nie­man­dem sonst ab­hängt: wäh­rend es fast gleich­gül­tig schi­en, wie nun die­se Selbst­be­we­gung zu den­ken sei, etwa ähn­lich wie das Sich-Hin- und -Her­schie­ben von ganz zar­ten und klei­nen run­den Queck­sil­ber-Kü­gel­chen. Un­ter al­len Fra­gen, die die Be­we­gung be­tref­fen, giebt es kei­ne läs­ti­ge­re als die Fra­ge nach dem An­fang der Be­we­gung. Wenn man sich näm­lich alle üb­ri­gen Be­we­gun­gen als Fol­gen und Wir­kun­gen den­ken darf, so müß­te doch im­mer die ers­te ur­an­fäng­li­che er­klärt wer­den; für die me­cha­ni­schen Be­we­gun­gen kann aber je­den­falls das ers­te Glied der Ket­te nicht in ei­ner me­cha­ni­schen Be­we­gung lie­gen, da dies so viel hei­ßen wür­de, als auf den wi­der­sin­ni­gen Be­griff der cau­sa sui re­curr­i­ren. Den ewi­gen un­be­ding­ten Din­gen aber ei­ge­ne Be­we­gung, gleich­sam von An­fang, als Mit­gift ih­res Da­seins, bei­zu­le­gen, geht eben­falls nicht an. Denn Be­we­gung ist nicht ohne eine Rich­tung wo­hin und wor­auf, also nur als Be­zie­hung und Be­din­gung vor­zu­stel­len; ein Ding ist aber nicht mehr an sich sei­end und un­be­dingt, wenn es sich sei­ner Na­tur nach not­wen­dig auf et­was au­ßer ihm Existiren­des be­zieht. In die­ser Ver­le­gen­heit ver­mein­te Ana­xa­go­ras eine au­ßer­or­dent­li­che Hül­fe und Ret­tung in je­nem sich selbst be­we­gen­den und sonst un­ab­hän­gi­gen Nous zu fin­den: als des­sen We­sen ge­ra­de dun­kel und ver­schlei­ert ge­nug ist, um dar­über täu­schen zu kön­nen, daß auch sei­ne An­nah­me im Grun­de jene ver­bo­te­ne cau­sa sui in­vol­virt. Für die em­pi­ri­sche Be­trach­tung ist es so­gar aus­ge­macht, daß das Vor­stel­len nicht eine cau­sa sui, son­dern die Wir­kung des Ge­hir­n­es ist, ja ihr muß es als eine wun­der­li­che Aus­schwei­fung gel­ten, den »Geist«, das Ge­hirn­er­zeug­niß, von sei­ner cau­sa zu tren­nen und nach die­ser Los­lö­sung noch als existirend zu wäh­nen. Dies that Ana­xa­go­ras; er ver­gaß das Ge­hirn, sei­ne er­staun­li­che Künst­lich­keit, die Zart­heit und Ver­schlun­gen­heit sei­ner Win­dun­gen und Gän­ge und de­kre­tir­te den »Geist an sich«. Die­ser »Geist an sich« hat­te Will­kür, al­lein von al­len Sub­stan­zen Will­kür – eine herr­li­che Er­kennt­niß! Er konn­te ir­gend­wann ein­mal mit der Be­we­gung der Din­ge au­ßer ihm an­fan­gen, un­ge­heu­re Zei­ten da­ge­gen sich mit sich selbst be­schäf­ti­gen, – kurz, Ana­xa­go­ras durf­te einen ers­ten Be­we­gungs­mo­ment in ei­ner Ur­zeit an­neh­men, als den Keim­punkt al­les so­ge­nann­ten Wer­dens, das heißt al­ler Ver­än­de­rung, näm­lich al­ler Ver­schie­bung und Um­stel­lung der ewi­gen Sub­stan­zen und ih­rer Theil­chen. Wenn auch der Geist selbst ewig ist, so ist er doch kei­nes­wegs ge­zwun­gen, sich seit Ewig­kei­ten mit dem Her­um­schie­ben der Ma­te­ri­en-Kör­ner zu quä­len: und je­den­falls gab es eine Zeit und einen Zu­stand je­ner Ma­te­ri­en – gleich­gül­tig ob von kur­z­er oder lan­ger Dau­er –, in dem der Nous noch nicht auf sie ein­ge­wirkt hat­te, in dem sie noch un­be­wegt wa­ren. Dies ist die Pe­ri­ode des ana­xa­go­ri­schen Cha­os.

 

16.

Das ana­xa­go­ri­sche Cha­os ist kei­ne so­fort ein­leuch­ten­de Con­cep­ti­on: um sie zu fas­sen, muß man die Vor­stel­lung ver­stan­den ha­ben, die un­ser Phi­lo­soph von dem so­ge­nann­ten »Wer­den« sich ge­bil­det hat. Denn an sich er­gä­be der Zu­stand al­ler ver­schie­den­ar­ti­gen Ele­men­tar-Exis­ten­zen vor al­ler Be­we­gung noch kei­nes­falls nothwen­dig eine ab­so­lu­te Mi­schung al­ler »Sa­men der Din­ge«, wie der Aus­druck des Ana­xa­go­ras lau­tet, eine Mi­schung, die er sich als ein selbst bis zu den kleins­ten Thei­len voll­stän­di­ges Durchein­an­der ima­gi­nir­te, nach­dem alle jene Ele­men­tar-Exis­ten­zen wie in ei­nem Mör­ser zer­sto­ßen und zu Stau­ba­to­men auf­ge­löst wa­ren, so daß sie nun in je­nem Cha­os wie in ei­nem Misch­krug durch­ein­an­der ge­rührt wer­den konn­ten. Man könn­te sa­gen, daß die­se Cha­os-Con­cep­ti­on nichts No­thwen­di­ges habe; man brau­che viel­mehr nur eine be­lie­bi­ge zu­fäl­li­ge Lage al­ler je­ner Exis­ten­zen, aber nicht ein un­end­li­ches Zert­heilt­sein der­sel­ben an­zu­neh­men; ein re­gel­lo­ses Ne­ben­ein­an­der ge­nügt be­reits, es be­dür­fe kei­nes Durchein­an­ders, ge­schwei­ge denn ei­nes so to­ta­len Durchein­an­ders. Wie kam also Ana­xa­go­ras auf die­se schwe­re und com­pli­cir­te Vor­stel­lung? Wie ge­sagt, durch sei­ne Auf­fas­sung des em­pi­risch ge­ge­be­nen Wer­dens. Aus sei­ner Er­fah­rung schöpf­te er zu­erst einen höchst auf­fal­len­den Satz über das Wer­den, und die­ser Satz er­zwang sich, als sei­ne Con­se­quenz, jene Leh­re vom Cha­os.

Die Beo­b­ach­tung der Vor­gän­ge der Ent­ste­hung in der Na­tur, nicht eine Rück­sicht auf ein frü­he­res Sys­tem, gab Ana­xa­go­ras die Leh­re ein, daß Al­les aus Al­lem ent­ste­he: dies war die Über­zeu­gung des Na­tur­for­schers, ge­grün­det auf eine man­nig­fa­che, im Grun­de na­tür­lich gren­zen­los dürf­ti­ge In­duk­ti­on. Er be­wies dies so: wenn selbst das Ge­gent­heil aus dem Ge­gent­heil, das Schwar­ze zum Bei­spiel aus dem Wei­ßen, ent­ste­hen kön­ne, so sei Al­les mög­lich: je­nes ge­sch­ehe aber bei der Auf­lö­sung des wei­ßen Schnees in schwar­zes Was­ser. Die Er­näh­rung des Kör­pers er­klär­te er sich da­durch, daß in den Nah­rungs­mit­teln un­sicht­bar klei­ne Be­standt­hei­le von Fleisch oder Blut oder Kno­chen sein müß­ten, die sich, bei der Er­näh­rung, aus­schie­den und mit dem Gleich­ar­ti­gen im Kör­per ver­ei­nig­ten. Wenn aber Al­les aus Al­lem wer­den kann. Fes­tes aus dem Flüs­si­gen, Har­tes aus dem Wei­chen, Schwar­zes aus dem Wei­ßen, Flei­schi­ges aus Brod, so muß auch Al­les in Al­lem ent­hal­ten sein. Die Na­men der Din­ge drücken dann nur das Über­ge­wicht der einen Sub­stanz über die an­de­ren, in klei­ne­ren, oft nicht wahr­nehm­ba­ren Mas­sen vor­kom­men­den Sub­stan­zen aus. Im Gold, das heißt in Dem, was man a po­tio­re mit dem Na­men »Gold« be­zeich­net, muß auch Sil­ber, Schnee, Brod und Fleisch ent­hal­ten sein, aber in ganz ge­rin­gen Be­stand­tei­len; nach dem Über­wie­gen­den, nach der Gold­sub­stanz, ist das Gan­ze ge­nannt.

Wie ist es aber mög­lich, daß eine Sub­stanz über­wiegt und in grö­ße­rer Mas­se, als die an­de­ren be­sit­zen, ein Ding er­füllt? Die Er­fah­rung zeigt, daß nur durch die Be­we­gung die­ses Über­ge­wicht all­mäh­lich er­zeugt wird, daß das Über­ge­wicht das Re­sul­tat ei­nes Pro­ces­ses ist, den wir ge­mein­hin Wer­den nen­nen; daß da­ge­gen Al­les in Al­lem ist, ist nicht das Re­sul­tat ei­nes Pro­ces­ses, son­dern im Ge­gent­heil die Voraus­set­zung al­les Wer­dens und al­les Be­wegt­seins und so­mit vor al­lem Wer­den. Mit an­de­ren Wor­ten: die Em­pi­rie lehrt, daß fort­wäh­rend das Glei­che zum Glei­chen, zum Bei­spiel durch Er­näh­rung, hin­zu­ge­führt wird, also war es ur­sprüng­lich nicht bei ein­an­der und zu­sam­men­ge­ballt, son­dern ge­trennt. Viel­mehr wird, in den vor den Au­gen lie­gen­den em­pi­ri­schen Vor­gän­gen, das Glei­che im­mer aus dem Un­glei­chen her­aus­ge­zo­gen und fort­be­wegt (zum Bei­spiel bei der Er­näh­rung die Fleischt­heil­chen aus dem Bro­de u. s. w.), so­mit ist das Durchein­an­der der ver­schie­de­nen Sub­stan­zen die äl­te­re Form der Con­sti­tu­ti­on der Din­ge und der Zeit nach vor al­lem Wer­den und Be­we­gen. Wenn also al­les so­ge­nann­te Wer­den ein Aus­schei­den ist und eine Mi­schung vor­aus­setzt, so fragt es sich nun, wel­chen Grad die­se Mi­schung, die­ses Durchein­an­der ur­sprüng­lich ge­habt ha­ben muß. Ob­gleich der Pro­ceß eine Be­we­gung des Gleich­ar­ti­gen zum Gleich­ar­ti­gen, das Wer­den schon eine un­ge­heu­re Zeit an­dau­ernd, er­kennt man trotz­dem, wie auch jetzt noch in al­len Din­gen Res­te und Sa­men­kör­ner al­ler an­de­ren Din­ge ein­ge­schlos­sen sind, die auf ihre Aus­schei­dung war­ten, und wie nur hier und da ein Über­ge­wicht zu Stan­de ge­bracht ist; die Ur­mi­schung muß eine voll­stän­di­ge, das heißt bis in’s Unend­lich-Klei­ne ge­hen­de ge­we­sen sein, da die Ent­mi­schung einen un­end­li­chen Zeit­raum ver­braucht. Da­bei wird streng an dem Ge­dan­ken fest­ge­hal­ten, daß Al­les, was ein we­sen­haf­tes Sein be­sitzt, in’s Unend­li­che theil­bar ist, ohne sein Spe­ci­fi­cum ein­zu­bü­ßen.

Nach die­sen Voraus­set­zun­gen stellt sich Ana­xa­go­ras die Ur­exis­tenz der Welt vor, etwa gleich ei­ner stau­bar­ti­gen Mas­se von un­end­lich klei­nen er­füll­ten Punk­ten, von de­nen je­der spe­ci­fisch ein­fach ist und nur eine Qua­li­tät be­sitzt, doch so, daß jede spe­ci­fi­sche Qua­li­tät in un­end­lich vie­len ein­zel­nen Punk­ten re­prä­sen­tirt wird. Sol­che Punk­te hat Ari­sto­te­les Ho­moio­me­ri­en ge­nannt, in Rück­sicht dar­auf, daß sie die un­ter sich gleich­ar­ti­gen Thei­le ei­nes mit sei­nen Thei­len gleich­ar­ti­gen Gan­zen sind. Man wür­de aber sehr ir­ren, je­nes ur­sprüng­li­che Durchein­an­der al­ler sol­cher Punk­te, sol­cher »Sa­men­kör­ner der Din­ge« dem einen Ur­stof­fe des Ana­xi­man­der gleich­zu­set­zen: denn Letz­te­rer, das »Un­be­stimm­te« ge­nannt, ist eine durch­aus ein­heit­li­che und ei­gen­ar­ti­ge Mas­se. Ers­te­res ein Ag­gre­gat von Stof­fen. Zwar kann man von die­sem Ag­gre­gat von Stof­fen das­sel­be aus­sa­gen, wie von dem Un­be­stimm­ten des Ana­xi­man­der: wie dies Ari­sto­te­les thut; es konn­te we­der weiß noch grau, noch schwarz, noch sonst­wie ge­färbt sein, es war ge­schmack­los, ge­ruch­los und als Gan­zes über­haupt we­der quan­ti­ta­tiv, noch qua­li­ta­tiv be­stimmt: so­weit reicht die Gleich­heit des ana­xi­man­dri­schen Un­be­stimm­ten und der ana­xa­go­ri­schen Ur­mi­schung. Ab­ge­se­hen aber von die­ser ne­ga­ti­ven Gleich­heit un­ter­schei­den sie sich po­si­tiv da­durch, daß die Letz­te­re zu­sam­men­ge­setzt, das Ers­te­re eine Ein­heit ist. Ana­xa­go­ras hat­te we­nigs­tens durch die An­nah­me sei­nes Cha­os so viel vor Ana­xi­man­der vor­aus, daß er nicht nö­thig hat­te, das Vie­le aus dem Ei­nen, das Wei­den­de aus dem Sei­en­den ab­zu­lei­ten.

Frei­lich muß­te er bei sei­ner All­mi­schung der Sa­men eine Aus­nah­me zu­las­sen: der Nous war da­mals nicht und ist über­haupt auch jetzt kei­nem Din­ge bei­ge­mischt. Denn wenn er nur ei­nem Sei­en­den bei­ge­mischt wäre, so müß­te er dann, in un­end­li­chen Zert­hei­lun­gen, in al­len Din­gen woh­nen. Die­se Aus­nah­me ist lo­gisch höchst be­denk­lich, zu­mal bei der frü­her ge­schil­der­ten ma­te­ri­el­len Na­tur des Nous, sie hat et­was My­tho­lo­gi­sches und scheint will­kür­lich, war aber, nach den ana­xa­go­ri­schen Prä­mis­sen, eine stren­ge No­thwen­dig­keit. Der Geist, üb­ri­gens theil­bar in’s Unend­li­che wie je­der and­re Stoff, nur nicht durch and­re Stof­fe, son­dern durch sich selbst, wenn er sich theilt, sich thei­lend und bald groß bald klein sich zu­sam­men­bal­lend, hat sei­ne glei­che Mas­se und Qua­li­tät seit al­ler Ewig­keit: und Das, was in die­sem Au­gen­blick, in der ge­samm­ten Welt, bei Thie­ren, Pflan­zen, Men­schen, Geist ist, war es auch, ohne ein Mehr oder We­ni­ger, wenn auch an­ders vert­heilt, vor ei­nem Jahr­tau­send. Aber wo er je ein Ver­hält­nis; zu ei­ner an­dern Sub­stanz hat­te, da war er ihr nie bei­ge­mischt, son­dern er­griff sie frei­wil­lig, be­weg­te und schob sie nach Will­kür, kurz herrsch­te über sie. Er, der al­lein in sich Be­we­gung hat, be­sitzt auch al­lein die Herr­schaft in der Welt und zeigt die­se durch das Be­we­gen der Sub­stan­zen-Kör­ner. Wo­hin aber be­wegt er sie? Oder ist eine Be­we­gung denk­bar ohne Rich­tung, ohne Bahn? Ist der Geist in sei­nen Stüt­zen eben­so will­kür­lich, wie es will­kür­lich ist, wann er stößt und wann er nicht stößt? Kurz, herrscht in­ner­halb der Be­we­gung der Zu­fall, das heißt die blin­des­te Be­lie­big­keit? An die­ser Gren­ze be­tre­ten wir das Al­ler­hei­ligs­te in dem Vor­stel­lungs­be­zirk des Ana­xa­go­ras.

17.

Was muß­te mit je­nem chao­ti­schen Durchein­an­der des Ur­zu­stan­des vor al­ler Be­we­gung ge­macht wer­den, da­mit aus ihm, ohne je­den Zu­wachs neu­er Sub­stan­zen und Kräf­te, die vor­han­de­ne Welt mit den re­gel­mä­ßi­gen Bah­nen der Gestir­ne, mit den ge­setz­mä­ßi­gen For­men der Jah­res- und Ta­ges­zei­ten, mit der man­nig­fa­chen Schön­heit und Ord­nung, kurz, da­mit aus dem Cha­os ein Kos­mos wer­de? Es kann dies nur Fol­ge der Be­we­gung sein, aber ei­ner be­stimm­ten und klug ein­ge­rich­te­ten Be­we­gung, Die­se Be­we­gung selbst ist das Mit­tel des Nous, sein Ziel wür­de die vollen­de­te Aus­schei­dung des Glei­chen sein, ein bis­her noch un­er­reich­tes Ziel, weil die Un­ord­nung und Mi­schung an­fangs eine un­end­li­che war. Die­ses Ziel ist nur durch einen un­ge­heu­ren Pro­ceß zu er­stre­ben, nicht durch einen my­tho­lo­gi­schen Zau­ber­schlag auf ein­mal her­bei­zu­schaf­fen: wenn ein­mal, in ei­nem un­end­lich fer­nen Zeit­punkt, es er­reicht ist, daß al­les Gleich­ar­ti­ge zu­sam­men­ge­führt ist und jetzt die Ur­exis­ten­zen, un­get­heilt, ne­ben ein­an­der in schö­ner Ord­nung la­gern, wenn je­des Theil­chen sei­ne Ge­nos­sen und sei­ne Hei­mat ge­fun­den, wenn der große Frie­de nach der großen Zert­hei­lung und Zer­spal­tung der Sub­stan­zen ein­tritt und es gar nichts Zer­spal­te­nes und Zert­heil­tes mehr giebt, dann wird der Nous wie­der in sei­ne Selbst­be­we­gung zu­rück­keh­ren und nicht mehr selbst zert­heilt, bald in grö­ße­ren, bald in klei­ne­ren Mas­sen, als Pflan­zen­geist oder Thier­geist die Welt durch­schwei­fen und sich in and­re Ma­te­rie ein­woh­nen. In­zwi­schen ist die Auf­ga­be noch nicht zu Ende ge­führt: aber die Art der Be­we­gung, wel­che der Nous aus­ge­dacht hat, um sie zu lö­sen, er­weist eine wun­der­ba­re Zweck­mä­ßig­keit, denn durch sie wird die Auf­ga­be in je­dem neu­en Au­gen­bli­cke mehr ge­löst. Sie hat näm­lich den Cha­rak­ter ei­ner con­cen­trisch fort­ge­setz­ten Kreis­be­we­gung: an ir­gend ei­nem Punk­te der chao­ti­schen Mi­schung hat sie be­gon­nen, in der Form ei­ner klei­nen Dre­hung und in im­mer grö­ße­ren Bah­nen durch­mißt die­se Kreis­be­we­gung al­les vor­han­de­ne Sein, über­all das Glei­che zum Glei­chen her­aus­schnel­lend. Zu­erst bringt die­ser rol­len­de Um­schwung al­les Dich­te an das Dich­te, al­les Dün­ne an das Dün­ne und eben­so al­les Dunkle, Hel­le, Feuch­te, Trock­ne zu Ihres­glei­chen: über die­sen all­ge­mei­nen Ru­bri­ken giebt es wie­der zwei noch um­fas­sen­de­re, näm­lich Äther, das heißt Al­les, was warm, licht, dünn ist, und Aër, al­les Dunkle, Kal­te, Schwe­re, Fes­te be­zeich­nend. Durch Schei­dung der äthe­ri­schen Mas­sen von den aëri­schen bil­det sich, als nächs­te Wir­kung je­nes in im­mer grö­ße­ren Krei­sen rol­len­den Ra­des, et­was Ähn­li­ches, wie bei ei­nem Wir­bel, den Je­mand in ei­nem ste­hen­den Ge­wäs­ser macht: die schwe­ren Be­standt­hei­le wer­den in die Mit­te ge­führt und zu­sam­men­ge­drückt. Eben­so formt sich jene fort­schrei­ten­de Was­ser­ho­se im Cha­os nach au­ßen aus den äthe­ri­schen, dün­nen, lich­ten, nach in­nen aus den wol­ki­gen, schwe­ren, feuch­ten Be­standt­hei­len. Dann schei­det sich, im Fort­gan­ge die­ses Pro­ces­ses, aus je­ner im In­nern sich zu­sam­men­bal­len­den aëri­schen Mas­se das Was­ser und aus dem Was­ser wie­der das Er­di­ge aus, aus dem Er­di­gen aber, un­ter der Wir­kung der furcht­ba­ren Käl­te, die Ge­stei­ne. Wie­de­r­um wer­den ei­ni­ge Stein­mas­sen bei der Wucht der Dre­hung ein­mal seit­wärts von der Erde fort­ge­ris­sen und hin­ein in das Be­reich des hei­ßen lich­ten Äthers ge­wor­fen; dort, in des­sen feu­ri­gem Ele­men­te zum Glü­hen ge­bracht und in der äthe­ri­schen Kreis­be­we­gung mit fort­ge­schwun­gen, strah­len sie Licht aus und be­leuch­ten und er­wär­men die an sich dunkle und kal­te Erde, als Son­ne und Gestir­ne. Die gan­ze Con­cep­ti­on ist von ei­ner wun­der­ba­ren Kühn­heit und Ein­fach­heit und hat gar nichts von je­ner täp­pi­schen und men­schen­ähn­li­chen Te­leo­lo­gie an sich, die man häu­fig an den Na­men des Ana­xa­go­ras ge­knüpft hat. Jene Con­cep­ti­on hat ge­ra­de dar­in ihre Grö­ße und ih­ren Stolz, daß sie aus dem be­weg­ten Kreis den gan­zen Kos­mos des Wer­dens ab­lei­tet, wäh­rend Par­me­ni­des das wahr­haft Sei­en­de wie eine ru­hen­de tod­te Ku­gel an­schau­te. Ist je­ner Kreis erst be­wegt und durch den Nous in’s Rol­len ge­bracht, so ist alle Ord­nung, Ge­setz­mä­ßig­keit und Schön­heit der Welt die na­tür­li­che Fol­ge je­nes ers­ten An­sto­ßes. Wel­ches Un­recht thut man Ana­xa­go­ras an, wenn man ihm sei­ne in die­ser Con­cep­ti­on sich be­zei­gen­de wei­se Ent­hal­tung von der Te­leo­lo­gie zum Vor­wurf macht und von sei­nem Nous ver­ächt­lich wie von ei­nem de­us ex ma­china re­det. Viel­mehr hät­te Ana­xa­go­ras, ge­ra­de we­gen der Be­sei­ti­gung my­tho­lo­gi­scher und theis­ti­scher Wun­der­ein­grif­fe und an­thro­po­mor­phi­scher Zwe­cke und Uti­li­tä­ten, sich ähn­li­cher stol­zer Wor­te be­die­nen kön­nen, wie sie Kant in sei­ner Na­tur­ge­schich­te des Him­mels ge­braucht hat. Ist es doch ein er­ha­be­ner Ge­dan­ke, jene Herr­lich­keit des Kos­mos und die stau­nens­wür­di­ge Ein­rich­tung der Ster­nen­bah­nen durch­aus auf eine ein­fa­che rein me­cha­ni­sche Be­we­gung und gleich­sam auf eine be­weg­te ma­the­ma­ti­sche Fi­gur zu­rück­zu­füh­ren, also nicht auf Ab­sich­ten und ein­grei­fen­de Hän­de ei­nes Ma­schi­nen­got­tes, son­dern nur auf eine Art der Schwin­gung, die, wenn sie nur ein­mal an­ge­fan­gen hat, in ih­rem Ver­lau­fe nothwen­dig und be­stimmt ist und Wir­kun­gen er­zielt, die der wei­ses­ten Be­rech­nung des Scharf­sinns und der durch­dach­tes­ten Zweck­mä­ßig­keit glei­chen, ohne sie zu sein. »Ich ge­nie­ße das Ver­gnü­gen, sagt Kant, ohne Beihül­fe will­kür­li­cher Er­dich­tun­gen, un­ter der Ver­an­las­sung aus­ge­mach­ter Be­we­gungs­ge­set­ze, sich ein wohl­ge­ord­ne­tes Gan­ze er­zeu­gen zu se­hen, wel­ches demje­ni­gen Welt­sys­te­me, das das Uns­ri­ge ist, so ähn­lich sieht, daß ich mich nicht ent­bre­chen kann, es für das­sel­be zu hal­ten. Mich dünkt. man könn­te hier, in ge­wis­sem Ver­stan­de, ohne Ver­mes­sen­heit sa­gen: gebt mir Ma­te­rie, ich will eine Welt dar­aus bau­en!«