Man muß auf die Gegner der Eleaten blicken, um die außerordentlichen Vorzüge in der Annahme des Parmenides zu würdigen. Welche Verlegenheiten – denen Parmenides entgangen war – erwarteten Anaxagoras und Alle, welche an eine Vielheit der Substanzen glaubten, bei der Frage: »wie viel Substanzen?« Anaxagoras machte den Sprung, schloß die Augen und sagte: »unendlich viele«: so war er wenigstens über den unglaublich mühseligen Nachweis einer bestimmten Anzahl von Elementarstoffen hinausgeflogen. Da diese unendlich vielen ohne Zuwachs und unverändert, seit Ewigkeiten existiren müßten, so war in jener Annahme der Widerspruch einer abgeschlossen und vollendet zu denkenden Unendlichkeit gegeben. Kurz, die Vielheit, die Bewegung, die Unendlichkeit, von Parmenides durch den staunenswürdigen Satz vom einen Sein in die Flucht geschlagen, lehrten aus der Verbannung zurück und warfen auf die Gegner des Parmenides ihre Geschosse, um mit ihnen Wunden zu verursachen, für die es keine Heilung giebt. Offenbar haben jene Gegner kein sicheres Bewußtsein von der furchtbaren Kraft jener eleatischen Gedanken »es kann keine Zeit, keine Bewegung, keinen Raum geben, denn diese Alle können wir uns nur unendlich denken, und zwar einmal unendlich groß, sodann unendlich theilbar; alles Unendliche aber hat kein Sein, existirt nicht«, was Niemand bezweifelt, der den Sinn des Wortes »Sein« streng faßt und der die Existenz von etwas Widerspruchsvollem, zum Beispiel von einer absolvirten Unendlichkeit für unmöglich hält. Wenn aber gerade die Wirklichkeit uns Alles nur unter der Form der vollendeten Unendlichkeit zeigt, so fällt es in die Augen, daß sie sich selbst widerspricht, also keine wahre Realität hat. Wenn jene Gegner aber einwenden wollten: »aber in eurem Denken selbst giebt es doch Succession, also könnte auch euer Denken nicht real sein und somit auch Nichts beweisen können«, so würde Parmenides vielleicht ähnlich wie Kant in einem ähnlichen Falle, bei einem gleichen Vorwurfe, geantwortet haben: »ich kann zwar sagen, meine Vorstellungen folgen einander: aber das heißt nur: wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, d. h. nach der Form des inneren Sinnes bewußt. Die Zeit ist deshalb nicht Etwas an sich, auch keine den Dingen objektiv anhängende Bestimmung.« Es wäre also zwischen dem reinen Denken, das zeitlos wäre wie das eine parmenideische Sein, und dem Bewußtsein von diesem Denken zu unterscheiden, und Letzteres übersetzte bereits das Denken in die Form des Scheins, also der Succession, der Vielheit und der Bewegung. Es ist wahrscheinlich, daß sich Parmenides dieses Auswegs bedient haben würde: übrigens müßte dann gegen ihn Dasselbe eingewendet werden, was A. Spir (Denken und Wirklichkeit 2. Aufl. Band I S. 209 f.) gegen Kant einwendet. »Nun ist es aber erstens klar, daß ich von einer Succession als solcher Nichts wissen kann, wenn ich die aufeinanderfolgenden Glieder derselben nicht zugleich in meinem Bewußtsein habe. Die Vorstellung einer Succession ist also selbst gar nicht successiv, folglich auch von der Succession unserer Vorstellungen durchaus verschieden. Zweitens implicirt die Annahme Kant’s so offenbare Absurditäten, daß es Einen Wunder nimmt, wie er sie unbeachtet lassen konnte. Cäsar und Sokrates sind nach dieser Annahme nicht wirklich todt, sie leben noch ebensogut wie vor zweitausend Jahren und scheinen bloß todt zu sein, in Folge einer Einrichtung meines »inneren Sinnes«. Künftige Menschen leben jetzt schon, und wenn sie jetzt noch nicht als lebend hervortreten, so ist daran ebenfalls jene Einrichtung des »inneren Sinnes« schuld. Hier fragt es sich vor allen Dingen: Wie kann der Anfang und das Ende des bewußten Lebens selbst, mitsammt allen seinen inneren und äußeren Sinnen bloß in der Auffassung des inneren Sinnes existiren? Thatsache ist eben, daß man die Realität der Veränderung durchaus nicht ableugnen kann. Wird sie zum Fenster hinaus gewiesen, so schlüpft sie durch das Schlüsselloch wieder herein. Man sage: »Es scheint mir bloß, daß Zustände und Vorstellungen wechseln«, – so ist doch dieser Schein selbst etwas objektiv Vorhandenes und in ihm hat die Succession unzweifelhaft objektive Realität, es folgt darin Etwas wirklich aufeinander. – Außerdem muß man bemerken, daß die ganze Kritik der Vernunft ja nur unter der Voraussetzung Grund und Recht haben kann, daß uns unsre Vorstellungen selbst so erscheinen, wie sie sind. Denn wenn auch die Vorstellungen uns anders erschienen, als sie wirklich sind, so würde man auch über diese keine gültige Behauptung aufstellen, also keine Erkenntnißtheorie und keine »transscendentale« Untersuchung von objektiver Gültigkeit zu Stande bringen können. Nun steht es aber außer Zweifel, daß uns unsre Vorstellungen selbst als successiv erscheinen.«
Die Betrachtung dieser zweifellos sicheren Succession und Bewegtheit hat nun Anaxagoras zu einer denkwürdigen Hypothese gedrängt. Ersichtlich bewegten die Vorstellungen sich selbst, wurden nicht geschoben und hatten keine Ursache der Bewegung außer sich. Also giebt es Etwas, sagte er sich, was den Ursprung und den Anfang der Bewegung in sich selbst trägt; zweitens aber beachtet er, daß diese Vorstellung nicht nur sich selbst, sondern auch noch etwas ganz Verschiednes bewege, den Leib. Er entdeckt also, in der unmittelbarsten Erfahrung, eine Wirkung von Vorstellungen auf ausgedehnte Materie, die sich als Bewegung der letzteren zu erkennen giebt. Das galt ihm als Thatsache; erst nebenbei reizte es ihn, auch diese Thatsache zu erklären. Genug, er hatte ein regulatives Schema für die Bewegung in der Welt, die er jetzt entweder als eine Bewegung der wahren, isolirten Wesenheiten durch das Vorstellende, den Nous, oder als Bewegung durch bereits Bewegtes dachte. Daß die letztere Art, die mechanische Übertragung von Bewegungen und Stößen, bei seiner Grundannahme ebenfalls ein Problem in sich enthalte, ist ihm wahrscheinlich entgangen: die Gemeinheit und Alltäglichkeit der Wirkung durch Stoß stumpfte wohl seinen Blick gegen die Räthselhaftigkeit desselben ab. Dagegen empfand er recht wohl die problematische, ja widerspruchsvolle Natur einer Wirkung von Vorstellungen auf an sich seiende Substanzen und suchte deshalb auch diese Wirkung auf ein mechanisches, ihm als erklärlich geltendes Schieben und Stoßen zurückzuführen. Der Nous war ja jedenfalls auch eine solche an sich seiende Substanz und wurde von ihm als ganz zarte und feine Materie, mit der specifischen Qualität Denken, charakterisirt. Bei einem solchermaßen angenommenen Charakter mußte freilich die Wirkung dieser Materie auf die andre Materie ganz derselben Art sein, wie die, welche eine andre Substanz auf eine dritte ausübt, das heißt eine mechanische, durch Druck und Stoß bewegende. Immerhin hatte er jetzt eine Substanz, welche sich selbst bewegt und Anderes bewegt, deren Bewegung nicht nun außen kommt und von Niemandem sonst abhängt: während es fast gleichgültig schien, wie nun diese Selbstbewegung zu denken sei, etwa ähnlich wie das Sich-Hin- und -Herschieben von ganz zarten und kleinen runden Quecksilber-Kügelchen. Unter allen Fragen, die die Bewegung betreffen, giebt es keine lästigere als die Frage nach dem Anfang der Bewegung. Wenn man sich nämlich alle übrigen Bewegungen als Folgen und Wirkungen denken darf, so müßte doch immer die erste uranfängliche erklärt werden; für die mechanischen Bewegungen kann aber jedenfalls das erste Glied der Kette nicht in einer mechanischen Bewegung liegen, da dies so viel heißen würde, als auf den widersinnigen Begriff der causa sui recurriren. Den ewigen unbedingten Dingen aber eigene Bewegung, gleichsam von Anfang, als Mitgift ihres Daseins, beizulegen, geht ebenfalls nicht an. Denn Bewegung ist nicht ohne eine Richtung wohin und worauf, also nur als Beziehung und Bedingung vorzustellen; ein Ding ist aber nicht mehr an sich seiend und unbedingt, wenn es sich seiner Natur nach notwendig auf etwas außer ihm Existirendes bezieht. In dieser Verlegenheit vermeinte Anaxagoras eine außerordentliche Hülfe und Rettung in jenem sich selbst bewegenden und sonst unabhängigen Nous zu finden: als dessen Wesen gerade dunkel und verschleiert genug ist, um darüber täuschen zu können, daß auch seine Annahme im Grunde jene verbotene causa sui involvirt. Für die empirische Betrachtung ist es sogar ausgemacht, daß das Vorstellen nicht eine causa sui, sondern die Wirkung des Gehirnes ist, ja ihr muß es als eine wunderliche Ausschweifung gelten, den »Geist«, das Gehirnerzeugniß, von seiner causa zu trennen und nach dieser Loslösung noch als existirend zu wähnen. Dies that Anaxagoras; er vergaß das Gehirn, seine erstaunliche Künstlichkeit, die Zartheit und Verschlungenheit seiner Windungen und Gänge und dekretirte den »Geist an sich«. Dieser »Geist an sich« hatte Willkür, allein von allen Substanzen Willkür – eine herrliche Erkenntniß! Er konnte irgendwann einmal mit der Bewegung der Dinge außer ihm anfangen, ungeheure Zeiten dagegen sich mit sich selbst beschäftigen, – kurz, Anaxagoras durfte einen ersten Bewegungsmoment in einer Urzeit annehmen, als den Keimpunkt alles sogenannten Werdens, das heißt aller Veränderung, nämlich aller Verschiebung und Umstellung der ewigen Substanzen und ihrer Theilchen. Wenn auch der Geist selbst ewig ist, so ist er doch keineswegs gezwungen, sich seit Ewigkeiten mit dem Herumschieben der Materien-Körner zu quälen: und jedenfalls gab es eine Zeit und einen Zustand jener Materien – gleichgültig ob von kurzer oder langer Dauer –, in dem der Nous noch nicht auf sie eingewirkt hatte, in dem sie noch unbewegt waren. Dies ist die Periode des anaxagorischen Chaos.
Das anaxagorische Chaos ist keine sofort einleuchtende Conception: um sie zu fassen, muß man die Vorstellung verstanden haben, die unser Philosoph von dem sogenannten »Werden« sich gebildet hat. Denn an sich ergäbe der Zustand aller verschiedenartigen Elementar-Existenzen vor aller Bewegung noch keinesfalls nothwendig eine absolute Mischung aller »Samen der Dinge«, wie der Ausdruck des Anaxagoras lautet, eine Mischung, die er sich als ein selbst bis zu den kleinsten Theilen vollständiges Durcheinander imaginirte, nachdem alle jene Elementar-Existenzen wie in einem Mörser zerstoßen und zu Staubatomen aufgelöst waren, so daß sie nun in jenem Chaos wie in einem Mischkrug durcheinander gerührt werden konnten. Man könnte sagen, daß diese Chaos-Conception nichts Nothwendiges habe; man brauche vielmehr nur eine beliebige zufällige Lage aller jener Existenzen, aber nicht ein unendliches Zertheiltsein derselben anzunehmen; ein regelloses Nebeneinander genügt bereits, es bedürfe keines Durcheinanders, geschweige denn eines so totalen Durcheinanders. Wie kam also Anaxagoras auf diese schwere und complicirte Vorstellung? Wie gesagt, durch seine Auffassung des empirisch gegebenen Werdens. Aus seiner Erfahrung schöpfte er zuerst einen höchst auffallenden Satz über das Werden, und dieser Satz erzwang sich, als seine Consequenz, jene Lehre vom Chaos.
Die Beobachtung der Vorgänge der Entstehung in der Natur, nicht eine Rücksicht auf ein früheres System, gab Anaxagoras die Lehre ein, daß Alles aus Allem entstehe: dies war die Überzeugung des Naturforschers, gegründet auf eine mannigfache, im Grunde natürlich grenzenlos dürftige Induktion. Er bewies dies so: wenn selbst das Gegentheil aus dem Gegentheil, das Schwarze zum Beispiel aus dem Weißen, entstehen könne, so sei Alles möglich: jenes geschehe aber bei der Auflösung des weißen Schnees in schwarzes Wasser. Die Ernährung des Körpers erklärte er sich dadurch, daß in den Nahrungsmitteln unsichtbar kleine Bestandtheile von Fleisch oder Blut oder Knochen sein müßten, die sich, bei der Ernährung, ausschieden und mit dem Gleichartigen im Körper vereinigten. Wenn aber Alles aus Allem werden kann. Festes aus dem Flüssigen, Hartes aus dem Weichen, Schwarzes aus dem Weißen, Fleischiges aus Brod, so muß auch Alles in Allem enthalten sein. Die Namen der Dinge drücken dann nur das Übergewicht der einen Substanz über die anderen, in kleineren, oft nicht wahrnehmbaren Massen vorkommenden Substanzen aus. Im Gold, das heißt in Dem, was man a potiore mit dem Namen »Gold« bezeichnet, muß auch Silber, Schnee, Brod und Fleisch enthalten sein, aber in ganz geringen Bestandteilen; nach dem Überwiegenden, nach der Goldsubstanz, ist das Ganze genannt.
Wie ist es aber möglich, daß eine Substanz überwiegt und in größerer Masse, als die anderen besitzen, ein Ding erfüllt? Die Erfahrung zeigt, daß nur durch die Bewegung dieses Übergewicht allmählich erzeugt wird, daß das Übergewicht das Resultat eines Processes ist, den wir gemeinhin Werden nennen; daß dagegen Alles in Allem ist, ist nicht das Resultat eines Processes, sondern im Gegentheil die Voraussetzung alles Werdens und alles Bewegtseins und somit vor allem Werden. Mit anderen Worten: die Empirie lehrt, daß fortwährend das Gleiche zum Gleichen, zum Beispiel durch Ernährung, hinzugeführt wird, also war es ursprünglich nicht bei einander und zusammengeballt, sondern getrennt. Vielmehr wird, in den vor den Augen liegenden empirischen Vorgängen, das Gleiche immer aus dem Ungleichen herausgezogen und fortbewegt (zum Beispiel bei der Ernährung die Fleischtheilchen aus dem Brode u. s. w.), somit ist das Durcheinander der verschiedenen Substanzen die ältere Form der Constitution der Dinge und der Zeit nach vor allem Werden und Bewegen. Wenn also alles sogenannte Werden ein Ausscheiden ist und eine Mischung voraussetzt, so fragt es sich nun, welchen Grad diese Mischung, dieses Durcheinander ursprünglich gehabt haben muß. Obgleich der Proceß eine Bewegung des Gleichartigen zum Gleichartigen, das Werden schon eine ungeheure Zeit andauernd, erkennt man trotzdem, wie auch jetzt noch in allen Dingen Reste und Samenkörner aller anderen Dinge eingeschlossen sind, die auf ihre Ausscheidung warten, und wie nur hier und da ein Übergewicht zu Stande gebracht ist; die Urmischung muß eine vollständige, das heißt bis in’s Unendlich-Kleine gehende gewesen sein, da die Entmischung einen unendlichen Zeitraum verbraucht. Dabei wird streng an dem Gedanken festgehalten, daß Alles, was ein wesenhaftes Sein besitzt, in’s Unendliche theilbar ist, ohne sein Specificum einzubüßen.
Nach diesen Voraussetzungen stellt sich Anaxagoras die Urexistenz der Welt vor, etwa gleich einer staubartigen Masse von unendlich kleinen erfüllten Punkten, von denen jeder specifisch einfach ist und nur eine Qualität besitzt, doch so, daß jede specifische Qualität in unendlich vielen einzelnen Punkten repräsentirt wird. Solche Punkte hat Aristoteles Homoiomerien genannt, in Rücksicht darauf, daß sie die unter sich gleichartigen Theile eines mit seinen Theilen gleichartigen Ganzen sind. Man würde aber sehr irren, jenes ursprüngliche Durcheinander aller solcher Punkte, solcher »Samenkörner der Dinge« dem einen Urstoffe des Anaximander gleichzusetzen: denn Letzterer, das »Unbestimmte« genannt, ist eine durchaus einheitliche und eigenartige Masse. Ersteres ein Aggregat von Stoffen. Zwar kann man von diesem Aggregat von Stoffen dasselbe aussagen, wie von dem Unbestimmten des Anaximander: wie dies Aristoteles thut; es konnte weder weiß noch grau, noch schwarz, noch sonstwie gefärbt sein, es war geschmacklos, geruchlos und als Ganzes überhaupt weder quantitativ, noch qualitativ bestimmt: soweit reicht die Gleichheit des anaximandrischen Unbestimmten und der anaxagorischen Urmischung. Abgesehen aber von dieser negativen Gleichheit unterscheiden sie sich positiv dadurch, daß die Letztere zusammengesetzt, das Erstere eine Einheit ist. Anaxagoras hatte wenigstens durch die Annahme seines Chaos so viel vor Anaximander voraus, daß er nicht nöthig hatte, das Viele aus dem Einen, das Weidende aus dem Seienden abzuleiten.
Freilich mußte er bei seiner Allmischung der Samen eine Ausnahme zulassen: der Nous war damals nicht und ist überhaupt auch jetzt keinem Dinge beigemischt. Denn wenn er nur einem Seienden beigemischt wäre, so müßte er dann, in unendlichen Zertheilungen, in allen Dingen wohnen. Diese Ausnahme ist logisch höchst bedenklich, zumal bei der früher geschilderten materiellen Natur des Nous, sie hat etwas Mythologisches und scheint willkürlich, war aber, nach den anaxagorischen Prämissen, eine strenge Nothwendigkeit. Der Geist, übrigens theilbar in’s Unendliche wie jeder andre Stoff, nur nicht durch andre Stoffe, sondern durch sich selbst, wenn er sich theilt, sich theilend und bald groß bald klein sich zusammenballend, hat seine gleiche Masse und Qualität seit aller Ewigkeit: und Das, was in diesem Augenblick, in der gesammten Welt, bei Thieren, Pflanzen, Menschen, Geist ist, war es auch, ohne ein Mehr oder Weniger, wenn auch anders vertheilt, vor einem Jahrtausend. Aber wo er je ein Verhältnis; zu einer andern Substanz hatte, da war er ihr nie beigemischt, sondern ergriff sie freiwillig, bewegte und schob sie nach Willkür, kurz herrschte über sie. Er, der allein in sich Bewegung hat, besitzt auch allein die Herrschaft in der Welt und zeigt diese durch das Bewegen der Substanzen-Körner. Wohin aber bewegt er sie? Oder ist eine Bewegung denkbar ohne Richtung, ohne Bahn? Ist der Geist in seinen Stützen ebenso willkürlich, wie es willkürlich ist, wann er stößt und wann er nicht stößt? Kurz, herrscht innerhalb der Bewegung der Zufall, das heißt die blindeste Beliebigkeit? An dieser Grenze betreten wir das Allerheiligste in dem Vorstellungsbezirk des Anaxagoras.
Was mußte mit jenem chaotischen Durcheinander des Urzustandes vor aller Bewegung gemacht werden, damit aus ihm, ohne jeden Zuwachs neuer Substanzen und Kräfte, die vorhandene Welt mit den regelmäßigen Bahnen der Gestirne, mit den gesetzmäßigen Formen der Jahres- und Tageszeiten, mit der mannigfachen Schönheit und Ordnung, kurz, damit aus dem Chaos ein Kosmos werde? Es kann dies nur Folge der Bewegung sein, aber einer bestimmten und klug eingerichteten Bewegung, Diese Bewegung selbst ist das Mittel des Nous, sein Ziel würde die vollendete Ausscheidung des Gleichen sein, ein bisher noch unerreichtes Ziel, weil die Unordnung und Mischung anfangs eine unendliche war. Dieses Ziel ist nur durch einen ungeheuren Proceß zu erstreben, nicht durch einen mythologischen Zauberschlag auf einmal herbeizuschaffen: wenn einmal, in einem unendlich fernen Zeitpunkt, es erreicht ist, daß alles Gleichartige zusammengeführt ist und jetzt die Urexistenzen, ungetheilt, neben einander in schöner Ordnung lagern, wenn jedes Theilchen seine Genossen und seine Heimat gefunden, wenn der große Friede nach der großen Zertheilung und Zerspaltung der Substanzen eintritt und es gar nichts Zerspaltenes und Zertheiltes mehr giebt, dann wird der Nous wieder in seine Selbstbewegung zurückkehren und nicht mehr selbst zertheilt, bald in größeren, bald in kleineren Massen, als Pflanzengeist oder Thiergeist die Welt durchschweifen und sich in andre Materie einwohnen. Inzwischen ist die Aufgabe noch nicht zu Ende geführt: aber die Art der Bewegung, welche der Nous ausgedacht hat, um sie zu lösen, erweist eine wunderbare Zweckmäßigkeit, denn durch sie wird die Aufgabe in jedem neuen Augenblicke mehr gelöst. Sie hat nämlich den Charakter einer concentrisch fortgesetzten Kreisbewegung: an irgend einem Punkte der chaotischen Mischung hat sie begonnen, in der Form einer kleinen Drehung und in immer größeren Bahnen durchmißt diese Kreisbewegung alles vorhandene Sein, überall das Gleiche zum Gleichen herausschnellend. Zuerst bringt dieser rollende Umschwung alles Dichte an das Dichte, alles Dünne an das Dünne und ebenso alles Dunkle, Helle, Feuchte, Trockne zu Ihresgleichen: über diesen allgemeinen Rubriken giebt es wieder zwei noch umfassendere, nämlich Äther, das heißt Alles, was warm, licht, dünn ist, und Aër, alles Dunkle, Kalte, Schwere, Feste bezeichnend. Durch Scheidung der ätherischen Massen von den aërischen bildet sich, als nächste Wirkung jenes in immer größeren Kreisen rollenden Rades, etwas Ähnliches, wie bei einem Wirbel, den Jemand in einem stehenden Gewässer macht: die schweren Bestandtheile werden in die Mitte geführt und zusammengedrückt. Ebenso formt sich jene fortschreitende Wasserhose im Chaos nach außen aus den ätherischen, dünnen, lichten, nach innen aus den wolkigen, schweren, feuchten Bestandtheilen. Dann scheidet sich, im Fortgange dieses Processes, aus jener im Innern sich zusammenballenden aërischen Masse das Wasser und aus dem Wasser wieder das Erdige aus, aus dem Erdigen aber, unter der Wirkung der furchtbaren Kälte, die Gesteine. Wiederum werden einige Steinmassen bei der Wucht der Drehung einmal seitwärts von der Erde fortgerissen und hinein in das Bereich des heißen lichten Äthers geworfen; dort, in dessen feurigem Elemente zum Glühen gebracht und in der ätherischen Kreisbewegung mit fortgeschwungen, strahlen sie Licht aus und beleuchten und erwärmen die an sich dunkle und kalte Erde, als Sonne und Gestirne. Die ganze Conception ist von einer wunderbaren Kühnheit und Einfachheit und hat gar nichts von jener täppischen und menschenähnlichen Teleologie an sich, die man häufig an den Namen des Anaxagoras geknüpft hat. Jene Conception hat gerade darin ihre Größe und ihren Stolz, daß sie aus dem bewegten Kreis den ganzen Kosmos des Werdens ableitet, während Parmenides das wahrhaft Seiende wie eine ruhende todte Kugel anschaute. Ist jener Kreis erst bewegt und durch den Nous in’s Rollen gebracht, so ist alle Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Schönheit der Welt die natürliche Folge jenes ersten Anstoßes. Welches Unrecht thut man Anaxagoras an, wenn man ihm seine in dieser Conception sich bezeigende weise Enthaltung von der Teleologie zum Vorwurf macht und von seinem Nous verächtlich wie von einem deus ex machina redet. Vielmehr hätte Anaxagoras, gerade wegen der Beseitigung mythologischer und theistischer Wundereingriffe und anthropomorphischer Zwecke und Utilitäten, sich ähnlicher stolzer Worte bedienen können, wie sie Kant in seiner Naturgeschichte des Himmels gebraucht hat. Ist es doch ein erhabener Gedanke, jene Herrlichkeit des Kosmos und die staunenswürdige Einrichtung der Sternenbahnen durchaus auf eine einfache rein mechanische Bewegung und gleichsam auf eine bewegte mathematische Figur zurückzuführen, also nicht auf Absichten und eingreifende Hände eines Maschinengottes, sondern nur auf eine Art der Schwingung, die, wenn sie nur einmal angefangen hat, in ihrem Verlaufe nothwendig und bestimmt ist und Wirkungen erzielt, die der weisesten Berechnung des Scharfsinns und der durchdachtesten Zweckmäßigkeit gleichen, ohne sie zu sein. »Ich genieße das Vergnügen, sagt Kant, ohne Beihülfe willkürlicher Erdichtungen, unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze, sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsysteme, das das Unsrige ist, so ähnlich sieht, daß ich mich nicht entbrechen kann, es für dasselbe zu halten. Mich dünkt. man könnte hier, in gewissem Verstande, ohne Vermessenheit sagen: gebt mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!«