Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

18.

Selbst nun vor­aus­ge­setzt, daß man ein­mal jene Ur­mi­schung als rich­tig er­schlos­sen gel­ten läßt, schei­nen doch zu­nächst ei­ni­ge Be­den­ken aus der Mecha­nik dem großen Ent­wur­fe des Wel­ten­bau­es ent­ge­gen­zu­tre­ten. Wenn näm­lich auch der Geist an ei­ner Stel­le eine Kreis­be­we­gung er­regt, so ist die Fort­set­zung der­sel­ben, be­son­ders da sie un­end­lich sein soll und all­mäh­lich alle vor­han­de­nen Mas­sen her­um­schwin­gen soll, noch sehr schwer vor­zu­stel­len. Von vorn­her­ein wür­de man ver­muthen, daß der Druck al­ler üb­ri­gen Ma­te­rie die­se kaum ent­stan­de­ne klei­ne Kreis­be­we­gung er­drücken müß­te; daß dies nicht ge­schieht, setzt von Sei­ten des er­re­gen­den Nous vor­aus, daß er plötz­lich mit furcht­ba­rer Kraft ein­setzt, so schnell je­den­falls, daß wir die Be­we­gung einen Wir­bel nen­nen müs­sen: wie De­mo­krit sich eben­falls einen sol­chen Wir­bel ima­gi­nir­te. Und da die­ser Wir­bel un­end­lich stark sein muß, um durch die gan­ze dar­auf las­ten­de Welt des Unend­li­chen nicht ge­hemmt zu wer­den, so wird er un­end­lich schnell sein, denn die Stär­ke kann sich ur­sprüng­lich nur in der Schnel­lig­keit of­fen­ba­ren. Je wei­ter da­ge­gen die con­cen­tri­schen Rin­ge sind, um so lang­sa­mer wird die­se Be­we­gung sein; wenn ein­mal die Be­we­gung das Ende der un­end­lich aus­ge­spann­ten Welt er­rei­chen könn­te, dann müß­te sie be­reits un­end­lich klei­ne Schnel­lig­keit des Um­schwungs ha­ben. Um­ge­kehrt, wenn wir uns die Be­we­gung un­end­lich groß, das heißt un­end­lich schnell den­ken, näm­lich bei dem al­ler­ers­ten Ein­set­zen der Be­we­gung, so muß auch der an­fäng­li­che Kreis un­end­lich klein ge­we­sen sein; wir be­kom­men also als An­fang einen um sich selbst ge­dreh­ten Punkt, mit ei­nem un­end­lich klei­nen ma­te­ri­el­len In­hal­te. Die­ser wür­de aber die wei­te­re Be­we­gung gar nicht er­klä­ren: man könn­te sich selbst sämmt­li­che Punk­te der Ur­mas­se um sich selbst wir­belnd den­ken, und doch blie­be die gan­ze Mas­se un­be­wegt und un­ge­schie­den. Falls da­ge­gen je­ner vom Nous er­grif­fe­ne und ge­schwun­ge­ne ma­te­ri­el­le Punkt von un­end­li­cher Klein­heit nicht um sich ge­dreht wur­de, son­dern eine Pe­ri­phe­rie um­schrieb, die be­lie­big grö­ßer war, so ge­nüg­te dies be­reits, um and­re ma­te­ri­el­le Punk­te an­zu­sto­ßen, fort­zu­be­we­gen, zu schleu­dern, ab­pral­len zu las­sen und so all­mäh­lich einen be­weg­li­chen und um sich grei­fen­den Tu­mult zu er­re­gen, in dem, als nächs­tes Re­sul­tat, jene Schei­dung der aëri­schen Mas­sen von den äthe­ri­schen vor sich ge­hen muß­te. Wie der Ein­satz der Be­we­gung selbst ein will­kür­li­cher Akt des Nous ist, so ist es auch die Art die­ses Ein­sat­zes, in­so­fern die ers­te Be­we­gung einen Kreis, des­sen Ra­di­us be­lie­big grö­ßer ge­wählt ist als ein Punkt, um­schreibt.

19.

Hier könn­te man nun frei­lich fra­gen, was da­mals dem Nous so plötz­lich ein­ge­fal­len ist, ein be­lie­bi­ges ma­te­ri­el­les Pünkt­chen, aus je­ner An­zahl von Punk­ten, an­zu­sto­ßen und in wir­beln­dem Tan­ze her­um­zu­dre­hen, und warum ihm das nicht frü­her ein­fiel. Da­rauf wür­de Ana­xa­go­ras ant­wor­ten: »Er hat das Pri­vi­le­gi­um der Will­kür, er darf ein­mal be­lie­big an­fan­gen, er hängt von sich ab, wäh­rend al­les An­de­re von au­ßen her de­ter­mi­nirt ist.« Er hat kei­ne Pf­licht und also auch kei­nen Zweck, den zu ver­fol­gen er ge­zwun­gen wäre; wenn er ein­mal mit je­ner Be­we­gung an­fieng und sich einen Zweck setz­te, so war dies doch nur – die Ant­wort ist schwer, Hera­klit wür­de er­gän­zen – ein Spiel.«

Das scheint im­mer die den Grie­chen auf der Lip­pe schwe­ben­de letz­te Lö­sung oder Aus­kunft ge­we­sen zu sein. Der ana­xa­go­ri­sche Geist ist ein Künst­ler, und zwar das ge­wal­tigs­te Ge­nie der Mecha­nik und Bau­kunst, mit den ein­fachs­ten Mit­teln die groß­ar­tigs­ten For­men und Bah­nen und gleich­sam eine be­weg­li­che Archi­tek­tur schaf­fend, aber im­mer aus je­ner ir­ra­tio­na­len Will­kür, die in der Tie­fe des Künst­lers liegt. Es ist, als ob Ana­xa­go­ras auf Phi­di­as deu­te­te und an­ge­sichts des un­ge­heu­ren Künst­ler­werks, des Kos­mos, eben­so wie vor dem Par­the­non uns zu­rie­fe: »Das Wer­den ist kein mo­ra­li­sches, son­dern nur ein künst­le­ri­sches Phä­no­men.« Ari­sto­te­les er­zählt, daß Ana­xa­go­ras auf die Fra­ge, wes­halb das Da­sein über­haupt für ihn wert­h­voll sei, geant­wor­tet habe »um den Him­mel und die ge­samm­te Ord­nung des Kos­mos an­zu­schau­en«. Er be­han­del­te die phy­si­ka­li­schen Din­ge so an­däch­tig und mit so ge­heim­niß­vol­ler Scheu, wie wir vor ei­nem an­ti­ken Tem­pel ste­hen; sei­ne Leh­re wur­de zu ei­ner Art von frei­geis­ti­scher Re­li­gi­ons­übung, sich schüt­zend durch das odi pro­fa­num vul­gus et ar­ceo und ihre An­hän­ger aus der höchs­ten und edels­ten Ge­sell­schaft Athen’s mit Vor­sicht wäh­lend. In der ab­ge­schloss­nen Ge­mein­de der athe­ni­schen Ana­xa­go­re­er war die My­tho­lo­gie des Vol­kes nur noch als eine sym­bo­li­sche Spra­che er­laubt; alle My­then, alle Göt­ter, alle Hero­en gal­ten hier nur als Hie­ro­gly­phen der Na­tur­deu­tung, und selbst das ho­me­ri­sche Epos soll­te der ka­no­ni­sche Ge­sang vom Wal­ten des Nous und von den Kämp­fen und Ge­set­zen der Phy­sis sein. Hier und da drang ein Ton aus die­ser Ge­sell­schaft er­ha­be­ner Frei­geis­ter in das Volk; und be­son­ders der große und je­der­zeit ver­we­ge­ne, auf Neu­es sin­nen­de Eu­ri­pi­des wag­te man­cher­lei durch die tra­gi­sche Mas­ke laut wer­den zu las­sen, was der Mas­se wie ein Pfeil durch die Sin­ne drang und von dem sie sich nur durch pos­sen­haf­te Kar­ri­ka­tu­ren und lä­cher­li­che Um­deu­tun­gen be­frei­te.

Der aller­größ­te Ana­xa­go­re­er ist aber Pe­ri­kles, der mäch­tigs­te und wür­digs­te Mensch der Welt; und ge­ra­de über ihn legt Pla­to das Zeug­niß ab, daß al­lem die Phi­lo­so­phie des Ana­xa­go­ras sei­nem Ge­nie den er­hab­nen Flug ge­ge­ben habe. Wenn er als öf­fent­li­cher Red­ner vor sei­nem Vol­ke stand, in der schö­nen Starr­heit und Un­be­wegt­heit ei­nes mar­mor­nen Olym­piers und jetzt, ru­hig, in sei­nen Man­tel gehüllt, bei un­ver­än­der­tem Fal­ten­wur­fe, ohne je­den Wech­sel des Ge­sichts­aus­drucks, ohne Lä­cheln, mit dem gleich­blei­ben­den star­ken Ton der Stim­me, also ganz und gar un­de­mo­sthe­nisch, aber eben pe­ri­kle­isch re­de­te, don­ner­te, blitz­te, ver­nich­te­te und er­lös­te – dann war er die Ab­bre­via­tur des ana­xa­go­ri­schen Kos­mos, das Bild des Nous, der sich das schöns­te und wür­de­volls­te Ge­häu­se ge­baut hat und gleich­sam die sicht­ba­re Men­sch­wer­dung der bau­en­den, be­we­gen­den, aus­schei­den­den, ord­nen­den, über­schau­en­den, künst­le­risch-un­de­ter­mi­nir­ten Kraft des Geis­tes. Ana­xa­go­ras selbst hat ge­sagt, der Mensch sei schon des­halb das ver­nünf­tigs­te We­sen oder müs­se schon dar­um den Nous in grö­ße­rer Fül­le als alle an­de­ren We­sen in sich be­her­ber­gen, weil er so be­wun­de­rungs­wür­di­ge Or­ga­ne wie die Hän­de habe; er schloß also dar­auf, daß je­ner Nous je nach der Grö­ße und Mas­se, in der er sich ei­nes ma­te­ri­el­len Kör­pers be­mäch­tigt, sich im­mer die sei­nem Quan­ti­täts­gra­de ent­spre­chen­den Werk­zeu­ge aus die­ser Ma­te­rie baue, die schöns­ten und zweck­mä­ßigs­ten so­mit, wenn er in größ­ter Fül­le er­scheint. Und wie die wun­der­sams­te und zweck­mä­ßigs­te That des Nous jene kreis­för­mi­ge Ur­be­we­gung sein muß­te, da da­mals der Geist noch un­get­heilt in sich zu­sam­men war, so er­schi­en wohl die Wir­kung der pe­ri­kle­i­schen Rede dem hor­chen­den Ana­xa­go­ras oft­mals als ein Gleich­niß­bild je­ner kreis­för­mi­gen Ur­be­we­gung; denn auch hier spür­te er zu­erst einen mit furcht­ba­rer Kraft, aber ge­ord­net sich be­we­gen­den Ge­dan­ken­wir­bel, der in con­cen­tri­schen Krei­sen die Nächs­ten und die Ferns­ten all­mäh­lich er­faß­te und fort­riß und der, wenn er sein Ende er­reich­te, das ge­samm­te Volk ord­nend und schei­dend um­ge­stal­tet hat­te.

Den spä­te­ren Phi­lo­so­phen des Al­ter­thums war die Art, wie Ana­xa­go­ras von sei­nem Nous zur Er­klä­rung der Welt Ge­brauch mach­te, wun­der­lich, ja kaum ver­zeih­lich; es er­schi­en ih­nen als ob er ein herr­li­ches Werk­zeug ge­fun­den, aber nicht recht ver­stan­den habe, und sie such­ten nach­zu­ho­len, was vom Fin­der ver­säumt war. Sie er­kann­ten also nicht, wel­chen Sinn die vom reins­ten Geis­te na­tur­wis­sen­schaft­li­cher Metho­de ein­ge­geb­ne Ent­sa­gung des Ana­xa­go­ras hat­te, die sich in je­dem Fal­le und vor Al­lem die Fra­ge stellt, wo­durch Et­was ist ( cau­sa ef­fi­ciens) und nicht, wes­halb Et­was ist ( cau­sa fi­na­lis). Der Nous ist von Ana­xa­go­ras nicht zur Beant­wor­tung der spe­ci­el­len Fra­ge »wo­durch giebt es Be­we­gung und wo­durch giebt es re­gel­mä­ßi­ge Be­we­gun­gen?« her­bei­ge­zo­gen wor­den; Pla­to aber wirft ihm vor, er habe zei­gen müs­sen, aber nicht ge­zeigt, daß je­des Ding in sei­ner Wei­se und an sei­nem Orte sich am Schöns­ten, Bes­ten und Zweck­mä­ßigs­ten be­fin­de. Dies hät­te aber Ana­xa­go­ras in kei­nem ein­zel­nen Fal­le zu be­haup­ten ge­wagt, für ihn war die vor­han­de­ne Welt nicht ein­mal die denk­bar voll­kom­mens­te, denn er sah je­des Ding aus je­dem ent­ste­hen und fand die Schei­dung der Sub­stan­zen durch den Nous we­der am Ende des er­füll­ten Rau­mes in der Welt, noch in den ein­zel­nen We­sen voll­zo­gen und ab­ge­than. Es reich­te sei­nem Er­ken­nen voll­stän­dig aus, eine Be­we­gung ge­fun­den zu ha­ben, wel­che, in ein­fa­cher Fort­wir­kung aus ei­nem durch und durch ge­misch­ten Cha­os die sicht­ba­re Ord­nung schaf­fen kann, und er hü­te­te sich wohl, die Fra­ge nach dem Wes­halb? der Be­we­gung, nach dem ver­nünf­ti­gen Zweck der Be­we­gung zu stel­len. Hat­te näm­lich der Nous einen sei­nem We­sen nach nothwen­di­gen Zweck durch sie zu er­fül­len, so stand es nicht mehr in sei­ner Will­kür, die Be­we­gung ir­gend ein­mal an­zu­fan­gen; so­fern er ewig ist, hät­te er auch ewig schon von die­sem Zwe­cke be­stimmt wer­den müs­sen, und dann hät­te es kei­nen Zeit­punkt ge­ben dür­fen, in dem die Be­we­gung noch fehl­te, ja es wäre lo­gisch ver­bo­ten ge­we­sen, für die Be­we­gung einen An­fangs­punkt an­zu­neh­men: wo­durch dann wie­der­um die Vor­stel­lung vom ur­sprüng­li­chen Cha­os, das Fun­da­ment der gan­zen ana­xa­go­ri­schen Welt­deu­tung, eben­falls lo­gisch un­mög­lich ge­wor­den wäre. Um sol­chen Schwie­rig­kei­ten, die die Te­leo­lo­gie schafft, zu ent­ge­hen, muß­te Ana­xa­go­ras im­mer auf das Stärks­te be­to­nen und betheu­ern, daß der Geist will­kür­lich sei; alle sei­ne Akte, auch der je­ner Ur­be­we­gung, sei­en Akte des »frei­en Wil­lens«, wäh­rend da­ge­gen die gan­ze and­re Welt streng de­ter­mi­nirt und zwar me­cha­nisch de­ter­mi­nirt, nach je­nem Ur­mo­ment, sich bil­de. Je­ner ab­so­lut freie Wil­le kann aber nur zweck­los ge­dacht wer­den, un­ge­fähr nach Art des Kin­der­spie­les oder des künst­le­ri­schen Spiel­trie­bes. Es ist ein Irr­thum, wenn man Ana­xa­go­ras die ge­wöhn­li­che Ver­wechs­lung des Te­leo­lo­gen zu­mu­thet, der, im An­stau­nen der au­ßer­or­dent­li­chen Zweck­mä­ßig­keit, der Über­ein­stim­mung der Thei­le mit dem Gan­zen, na­ment­lich im Or­ga­ni­schen, vor­aus­setzt. Das, was für den In­tel­lekt existirt, sei auch durch den In­tel­lekt hin­ein­ge­kom­men, und Das, was er nur un­ter Lei­tung des Zweck­be­griffs zu Stan­de bringt, müs­se auch von der Na­tur durch Über­le­gung und Zweck­be­grif­fe zu Stan­de ge­bracht sein. (Scho­pen­hau­er, Welt als Wil­le und Vor­stel­lung, Band II, zwei­tes Buch, Ca­pi­tel 26, zur Te­leo­lo­gie.) In der Ma­nier des Ana­xa­go­ras ge­dacht, ist aber im Ge­gent­heil die Ord­nung und Zweck­mä­ßig­keit der Din­ge di­rekt nur das Re­sul­tat ei­ner blind me­cha­ni­schen Be­we­gung; und nur um die­se Be­we­gung ver­an­las­sen zu kön­nen, um aus der To­des­ru­he des Cha­os ir­gend­wann ein­mal her­aus­zu­kom­men, nahm Ana­xa­go­ras den will­kür­li­chen, von sich al­lem ab­hän­gi­gen Nous an. Er schätz­te an ihm ge­ra­de die Ei­gen­schaft, be­lie­big zu sein, also un­be­dingt, un­de­ter­mi­nirt, we­der von Ur­sa­chen noch von Zwe­cken ge­lei­tet, wir­ken zu kön­nen.

 

II. Entwürfe zur Fortsetzung.

(An­fang 1873.)

1.

Daß die­se ge­samm­te Auf­fas­sung der ana­xa­go­ri­schen Leh­re rich­tig sein muß, be­weist am deut­lichs­ten die Art, wie die Nach­fol­ger des Ana­xa­go­ras, der Ag­ri­gen­ti­ner Em­pe­do­kles und der Ato­men­leh­rer De­mo­krit in ih­ren Ge­gen­sys­te­men that­säch­lich die­sel­be kri­ti­sir­ten und ver­bes­ser­ten. Die Metho­de die­ser Kri­tik ist vor Al­lem die fort­ge­setz­te Ent­sa­gung in je­nem er­wähn­ten na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Geis­te, das Ge­setz der Spar­sam­keit, auf die Na­tur­er­klä­rung an­ge­wen­det. Die Hy­po­the­se, die mit dem kleins­ten Auf­wan­de von Voraus­set­zun­gen und Mit­teln die vor­han­de­ne Welt er­klärt, soll den Vor­zug ha­ben: denn in ihr ist das we­nigs­te Be­lie­ben, und das freie Spiel mit Mög­lich­kei­ten un­ter­sagt. Soll­te es zwei Hy­po­the­sen ge­ben, die bei­de die Welt er­klä­ren, so ist streng zu prü­fen, wel­che von bei­den je­ner For­de­rung der Spar­sam­keit am meis­ten ge­nügt. Wer mit den ein­fa­che­ren und be­kann­te­ren Kräf­ten, vor Al­lem den me­cha­ni­schen, bei je­ner Er­klä­rung aus­kom­men kann, wer aus mög­lichst we­ni­gen Kräf­ten den vor­han­de­nen Bau der Welt ab­lei­tet, wird im­mer Demje­ni­gen vor­ge­zo­gen wer­den, der die com­pli­cir­te­ren und we­ni­ger be­kann­ten Kräf­te, und dazu die­se noch in grö­ße­rer Zahl, ein welt­bil­den­des Spiel trei­ben läßt. So se­hen wir denn Em­pe­do­kles be­müht, den Über­fluß an Hy­po­the­sen aus der Leh­re des Ana­xa­go­ras zu be­sei­ti­gen.

Als ers­te nicht nothwen­di­ge Hy­po­the­se fällt die vom ana­xa­go­ri­schen Nous, denn sei­ne An­nah­me ist viel zu voll, um et­was so Ein­fa­ches wie die Be­we­gung zu er­klä­ren. Es ist doch nur nö­thig, die bei­den Ar­ten der Be­we­gung, das Sich­hin­be­we­gen ei­nes Ge­gen­stan­des zu ei­nem an­dern und das Sich­weg­be­we­gen von ei­nem an­dern zu er­klä­ren.

*

2.

Wenn un­ser jet­zi­ges Wer­den ein Aus­schei­den ist, wenn auch kein völ­li­ges, so fragt Em­pe­do­kles: was hin­dert die völ­li­ge Aus­schei­dung? Also eine ent­ge­gen­stre­ben­de Kraft, das heißt eine la­ten­te Be­we­gung der An­zie­hung.

So­dann: um je­nes Cha­os zu er­klä­ren, muß auch schon be­reits eine Macht thä­tig ge­we­sen sein, es ist zu die­ser in­nigs­ten Ver­schlin­gung eine Be­we­gung nö­thig.

Also pe­ri­odi­sches Über­wie­gen der einen und der an­dern Macht si­cher. Die­se sind ent­ge­gen­ge­setzt.

Die Macht der At­trak­ti­on wirkt auch jetzt noch, denn sonst gäbe es gar kei­ne Din­ge, es wäre Al­les ge­schie­den.

Das ist das That­säch­li­che: zwei Be­we­gungs­ar­ten. Die­se er­klärt der Nous nicht. Da­ge­gen Lie­be und Haß: daß die­se be­we­gen, sehn wir doch ge­wiß, so gut als daß der Nous sich be­wegt.

Jetzt ver­än­dert sich die Auf­fas­sung des Ur­zu­stan­des: es ist der se­ligs­te. Bei Ana­xa­go­ras war es das Cha­os vor dem ar­chi­tek­to­ni­schen Werk, gleich­sam der Stein­hau­fen des Bau­plat­zes.

*

3.

Em­pe­do­kles hat­te den Ge­dan­ken ei­ner der Schwe­re ent­ge­gen­wir­ken­den, durch den Um­schwung ent­ste­hen­den Tan­gen­ti­al­kraft ge­faßt ( de coelo I p. 284), Scho­pen­hau­er W. a. W. II 390.

Er hielt die Fort­set­zung der Kreis­be­we­gung für un­mög­lich bei Ana­xa­go­ras. Es gäbe einen Wir­bel, d. h. den Ge­gen­satz der ge­ord­ne­ten Be­we­gung.

Wä­ren die Theil­chen un­end­lich durch ein­an­der ver­mischt, so könn­te man die Kör­per ohne Kraft­an­stren­gung aus­ein­an­der­bre­chen, sie wür­den nicht zu­sam­men­hal­ten, sie wä­ren wie Staub.

Die Kräf­te, die die Ato­me an ein­an­der drücken und der Mas­se die Fes­tig­keit ge­ben, nennt Em­pe­do­kles »Lie­be«. Es ist eine Mo­le­ku­lar­kraft, eine con­sti­tu­ti­ve Kraft der Kör­per.

*

4.

Ge­gen Ana­xa­go­ras.

1. Das Cha­os setzt schon Be­we­gung vor­aus.

2. Nichts hin­der­te die vol­le Aus­schei­dung.

3. Un­se­re Kör­per wä­ren Staub­ge­bil­de. Wie Be­we­gung, wenn nicht in al­len Kör­pern Ge­gen­be­we­gun­gen sind?

4. Eine ge­ord­net fort­ge­setz­te Kreis­be­we­gung un­mög­lich: nur ein Wir­bel. Den Wir­bel nimmt er selbst als Wir­kung des νειϰος an. ἀποϱϱοαί. Wie wirkt Ent­fern­tes auf ein­an­der, Son­ne auf Erde? Wäre Al­les noch im Wir­bel, wäre das un­mög­lich. Also zwei be­we­gen­de Kräf­te min­des­tens: die den Din­gen in­här­i­ren müs­sen.

5. Wa­rum un­end­li­che ὄντα? Über­schrei­ten der Er­fah­rung. Ana­xa­go­ras mein­te die che­mi­schen Ato­me. Em­pe­do­kles ver­such­te die An­nah­me von vier che­mi­schen Ato­men­ar­ten. Er hielt die Ag­gre­gat­zu­stän­de für es­sen­ti­ell und die Wär­me coor­di­nirt. Also die Ag­gre­gat­zu­stän­de durch Ab­sto­ßung und At­trak­ti­on; Ma­te­rie in vier For­men.

6. Das Pe­ri­odi­sche ist nö­thig.

7. Bei den le­ben­den We­sen will Em­pe­do­kles auch noch nach dem glei­chen Prin­cip ver­fah­ren. Er leug­net auch hier die Zweck­mä­ßig­keit. Sei­ne größ­te That. Bei Ana­xa­go­ras ein Dua­lis­mus.

*

5.

Die Sym­bo­lik der Ge­schlechts­lie­be. Hier wie in der pla­to­ni­schen Fa­bel zeigt sich die Sehn­sucht nach dem Eins­s­ein, zeigt sich, daß ein­mal grö­ße­re Ein­heit schon existir­te: wäre die­se grö­ße­re Ein­heit her­ge­stellt, dann wür­de die­se wie­der nach ei­ner noch grö­ße­ren stre­ben. Die Über­zeu­gung von der Ein­heit al­les Le­ben­di­gen ver­bürgt, daß es ein­mal ein un­ge­heu­res Le­ben­di­ges gab, von dem wir Stücke sind: das ist wohl der Sphai­ros selbst. Er ist die se­ligs­te Gott­heit. Al­les war nur durch Lie­be ver­bun­den, also höchst zweck­mä­ßig. Die­se ist zer­ris­sen und zer­spal­ten wor­den durch den Haß, in sei­ne Ele­men­te zer­stückt und da­durch ge­töd­tet, des Le­bens be­raubt. Im Wir­bel ent­stehn kei­ne le­ben­den Ein­zel­we­sen. End­lich ist Al­les ge­trennt, und nun be­ginnt un­se­re Pe­ri­ode. (Der ana­xa­go­ri­schen Ur­mi­schung setzt er eine Ur­ent­zwei­ung ent­ge­gen.) Die Lie­be, blind wie sie ist, wirft mit wüthen­der Hast wie­der die Ele­men­te an ein­an­der, ver­su­chend, ob sie sie wie­der zum Le­ben bringt. Hier und da ge­lingt es. Es setzt sich fort. Ein Ah­nungs­ge­fühl in den be­leb­ten We­sen ent­steht, daß sie noch hö­he­re Ve­rei­ni­gun­gen er­stre­ben müs­sen, als Hei­mat und Ur­zu­stand. Eros. Es ist ein furcht­ba­res Ver­bre­chen Le­ben zu töd­ten, denn da­mit strebt man zur Ur­ent­zwei­ung zu­rück. Einst­mals soll Al­les wie­der ein ein­zi­ges Le­ben sein, der se­ligs­te Zu­stand.

Die py­tha­go­re­isch-or­phi­sche Leh­re in na­tur­wis­sen­schaft­li­cher Um­deu­tung: Em­pe­do­kles be­herrscht bei­de Aus­drucks­mit­tel mit Be­wußt­sein, dar­um ist er der ers­te Rhe­tor. Po­li­ti­sche Zie­le.

Die Dop­pel­na­tur – das Ago­na­le und das Lie­ben­de, Mit­lei­di­ge.

Ver­such der hel­le­ni­schen Ge­samm­tre­form.

Alle un­or­ga­ni­sche Ma­te­rie ist aus or­ga­ni­scher ent­stan­den, es ist tod­te or­ga­ni­sche Ma­te­rie. Leich­nam und Mensch.

*

6.

De­mo­krit.

Mög­lichs­te Ve­rein­fa­chung der Hy­po­the­sen.

1. Es giebt Be­we­gung, also lee­ren Raum, also Nicht­sei­en­des. Das Den­ken eine Be­we­gung.

2. Wenn es ein Sei­en­des giebt, muß es un­t­heil­bar sein, das heißt ab­so­lut er­füllt. Das Zert­hei­len ist nur er­klär­bar bei lee­ren Räu­men, bei Po­ren. Ein ab­so­lut po­rö­ses Ding ist nur das Nicht­sei­en­de.

3. Die se­kun­dären Ei­gen­schaf­ten der Ma­te­rie νόμφ, nicht an sich.

4. Fest­stel­lung der pri­mären Ei­gen­schaf­ten der ἄτομα. Wo­rin gleich­ar­tig, worin ver­schie­den?

5. Die Ag­gre­gat­zu­stän­de des Em­pe­do­kles (4 Ele­men­te) set­zen nur die gleich­ar­ti­gen Ato­me vor­aus, kön­nen also nicht selbst ὄντα sein.

6. Die Be­we­gung ist mit den Ato­men un­lös­bar ver­bun­den, Wir­kung der Schwer­kraft. Epi­kur. Kri­tik: was heißt Schwe­re in ei­nem un­end­li­chen lee­ren Rau­me?

7. Den­ken ist Be­we­gung der Feu­e­r­a­to­me. See­le, Le­ben, Sin­nes­wahr­neh­mun­gen.

*

Werth des Ma­te­ria­lis­mus und Ver­le­gen­heit des­sel­ben.

Pla­to und De­mo­krit.

Der welt­flüch­ti­ge hei­mat­lo­se edle For­scher.

De­mo­krit und die Py­tha­go­re­er fin­den zu­sam­men das Fun­da­ment der Na­tur­wis­sen­schaf­ten.

*

Wel­ches sind die Ur­sa­chen, wel­che eine ge­deih­li­che Ex­pe­ri­men­tal­phy­sik im Al­ter­thum nach De­mo­krit un­ter­bro­chen ha­ben?

*

7.

Ana­xa­go­ras hat von Hera­klit die Vor­stel­lung ge­nom­men, daß in je­dem Wer­den und Sein das Ent­ge­gen­ge­setz­te zu­sam­men ist.

Er emp­fand wohl den Wi­der­spruch, daß ein Kör­per vie­le Ei­gen­schaf­ten hat, und pul­ve­ri­sir­te ihn, in dem Glau­ben jetzt ihn in sei­ne wah­ren Qua­li­tä­ten auf­ge­löst zu ha­ben.

*

Pla­to: erst Hera­kli­teer, con­se­quent Skep­ti­ker: Al­les, auch das Den­ken, Fluß.

Durch So­kra­tes zum Be­har­ren des Gu­ten, Schö­nen ge­bracht.

Die­se als sei­end an­ge­nom­men.

An der Idee des Gu­ten, Schö­nen neh­men alle Gat­tungs­idea­le theil und sind des­halb auch sei­end (wie die See­le an der Idee des Le­bens). Die Idee ge­stalt­los.

Durch Py­tha­go­ras’ See­len­wan­de­rung ist die Fra­ge be­ant­wor­tet: wie wir et­was von den Ide­en wis­sen kön­nen.

Ende Pla­to’s: Skep­ti­cis­mus im Par­me­ni­des. Wi­der­le­gung der Ide­en­leh­re.

*

8.

Schluß.

Das Den­ken der Grie­chen im tra­gi­schen Zeit­al­ter ist pes­si­mis­tisch oder künst­le­risch op­ti­mis­tisch.

Ihr Urt­heil über das Le­ben be­sagt mehr. Das Eine, Flucht vor dem Wer­den, Aut Ein­heit aut künst­le­ri­sches Spiel.

Tie­fes Miß­trau­en ge­gen die Rea­li­tät: Nie­mand nimmt einen gu­ten Gott, der Al­les op­ti­me ge­macht, an.

???ta­bel­le

Py­tha­go­re­er re­li­gi­öse Sek­te.

Ana­xi­man­der.

Em­pe­do­kles.

Elea­ten.

Ana­xa­go­ras.

Hera­klit.

De­mo­krit: die Welt ohne mo­ra­li­sche und äs­the­ti­sche Be­deu­tung, Pes­si­mis­mus des Zu­falls.

Wenn man sie Alle vor eine Tra­gö­die stell­te, so wür­den die drei Ers­ten sie als Spie­gel der Un­se­lig­keit des Da­seins er­ken­nen, Par­me­ni­des als ver­gäng­li­chen Schein, Hera­klit und Ana­xa­go­ras als künst­le­ri­schen Bau und Ab­bild der Welt­ge­set­ze, De­mo­krit als Re­sul­tat von Ma­schi­nen.

 

*

Mit So­kra­tes be­ginnt der Op­ti­mis­mus, der nicht mehr künst­le­ri­sche, mit Te­leo­lo­gie und dem Glau­ben an den gu­ten Gott: der Glau­be an den wis­sen­den gu­ten Men­schen. Auf­lö­sung der In­stink­te.

So­kra­tes bricht mit der bis­he­ri­gen Wis­sen­schaft und Cul­tur, er will zu­rück zur al­ten Bür­ger­tu­gend und zum Staa­te.

Pla­to löst sich von dem Staa­te, als er merkt, daß er mit der neu­en Cul­tur iden­tisch ge­wor­den ist.

Der so­kra­ti­sche Skep­ti­cis­mus ist Waf­fe ge­gen die bis­he­ri­ge Cul­tur und Wis­sen­schaft.