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26.
Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht: – die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte Israel’s nicht brauchen: fort mit ihr! – Diese Priester haben jenes Wunderwerk von Fälschung zu Stande gebracht, als deren Dokument uns ein guter Theil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohne Gleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, in’s Religiöse übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht. Wir würden diesen schmachvollsten Akt der Geschichts-Fälschung viel schmerzhafter empfinden, wenn uns nicht die kirchliche Geschichts-Interpretation von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen der Rechtschaffenheit in historicis gemacht hätte. Und der Kirche sekundirten die Philosophen: die Lüge der »sittlichen Weltordnung« geht durch die ganze Entwicklung selbst der neueren Philosophie. Was bedeutet »sittliche Weltordnung«? Daß es, ein für alle Mal, einen Willen Gottes giebt, was der Mensch zu thun, was er zu lassen habe; daß der Werth eines Volkes, eines Einzelnen sich darnach bemesse, wie sehr oder wie wenig dem Willen Gottes gehorcht wird; daß in den Schicksalen eines Volkes, eines Einzelnen sich der Wille Gottes als herrschend, das heißt als strafend und belohnend, je nach dem Grade des Gehorsams, beweist. – Die Realität an Stelle dieser erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine parasitische Art Mensch, die nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester, mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der Priester den Werth der Dinge bestimmt, »das Reich Gottes«; er nennt die Mittel, vermöge deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrecht erhalten wird, »den Willen Gottes«; er mißt, mit einem kaltblütigen Cynismus, die Völker, die Zeiten, die Einzelnen darnach ab, ob sie der Priester-Übermacht nützten oder widerstrebten. Man sehe sie am Werk: unter den Händen der jüdischen Priester wurde die große Zeit in der Geschichte Israel’s eine Verfalls-Zeit, das Exil, das lange Unglück verwandelte sich in eine ewige Strafe für die große Zeit – eine Zeit, in der der Priester noch nichts war. Sie haben aus den mächtigen, sehr frei gerathenen Gestalten der Geschichte Israel’s, je nach Bedürfniß, armselige Ducker und Mucker oder »Gottlose« gemacht, sie haben die Psychologie jedes großen Ereignisses auf die Idioten-Formel »Gehorsam oder Ungehorsam gegen Gott« vereinfacht. – Ein Schritt weiter: der »Wille Gottes« (das heißt die Erhaltungs-Bedingungen für die Macht des Priesters) muß bekannt sein, – zu diesem Zwecke bedarf es einer »Offenbarung«. Auf deutsch: eine große litterarische Fälschung wird nöthig, eine »heilige Schrift« wird entdeckt, – unter allem hieratischen Pomp, mit Bußtagen und Jammergeschrei über die lange »Sünde« wird sie öffentlich gemacht. Der »Wille Gottes« stand längst fest: das ganze Unheil liegt darin, daß man sich der »heiligen Schrift« entfremdet hat … Moses schon war der »Wille Gottes« offenbart … Was war geschehn? Der Priester hatte, mit Strenge, mit Pedanterie, bis auf die großen und kleinen Steuern, die man ihm zu zahlen hatte (– die schmackhaftesten Stücke vom Fleisch nicht zu vergessen: denn der Priester ist ein Beefsteak-Fresser), ein für alle Mal formulirt, was er haben will, »was der Wille Gottes ist« … Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, daß der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom »Opfer« (der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen, – in seiner Sprache: zu »heiligen« … Denn dies muß man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat, Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung, kurz Alles, was seinen Werth in sich hat, wird durch den Parasitismus des Priesters (oder der »sittlichen Weltordnung«) grundsätzlich werthlos, werth- widrig gemacht: es bedarf nachträglich einer Sanktion, – eine werthverleihende Macht thut noth, welche die Natur darin verneint, welche eben damit erst einen Werth schafft … Der Priester entwerthet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt. – Der Ungehorsam gegen Gott, das heißt gegen den Priester, gegen »das Gesetz«, bekommt nun den Namen »Sünde«; die Mittel, sich wieder »mit Gott zu versöhnen«, sind, wie billig, Mittel, mit denen die Unterwerfung unter den Priester nur noch gründlicher gewährleistet ist: der Priester allein »erlöst« … Psychologisch nachgerechnet, werden in jeder priesterlich organisirten Gesellschaft die »Sünden« unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er hat nöthig, daß »gesündigt« wird … Oberster Satz: »Gott vergiebt Dem, der Buße thut« – auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft. –
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27.
Auf einem dergestalt falschen Boden, wo jede Natur, jeder Naturwerth, jede Realität die tiefsten Instinkte der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das Christenthum auf, eine Todfeindschafts-Form gegen die Realität, die bisher nicht übertroffen worden ist. Das »heilige Volk«, das für alle Dinge nur Priester-Werthe, nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer Schluß-Folgerichtigkeit, die Furcht einflößen kann, Alles, was sonst noch an Macht auf Erden bestand, als »unheilig«, als »Welt«, als »Sünde« von sich abgetrennt hatte, – dies Volk brachte für seinen Instinkt eine letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es verneinte, als Christenthum, noch die letzte Form der Realität, das »heilige Volk«, das »Volk der Ausgewählten«, die jüdische Realität selbst. Der Fall ist ersten Rangs: die kleine aufständische Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische Instinkt noch einmal, – anders gesagt, der Priester-Instinkt, der den Priester als Realität nicht mehr verträgt, die Erfindung einer noch abgezogneren Daseinsform, einer noch unrealeren Vision der Welt, als sie die Organisation einer Kirche bedingt. Das Christenthum verneint die Kirche …
Ich sehe nicht ab, wogegen der Aufstand gerichtet war, als dessen Urheber Jesus verstanden oder mißverstanden worden ist, wenn es nicht der Aufstand gegen die jüdische Kirche war, – »Kirche« genau in dem Sinn genommen, in dem wir heute das Wort nehmen. Es war ein Aufstand gegen »die Guten und Gerechten«, gegen »die Heiligen Israel’s«, gegen die Hierarchie der Gesellschaft – nicht gegen deren Verderbniß, sondern gegen die Kaste, das Privilegium, die Ordnung, die Formel; es war der Unglaube an die »höheren Menschen«, das Nein gesprochen gegen Alles, was Priester und Theologe war. Aber die Hierarchie, die damit, wenn auch nur für einen Augenblick, in Frage gestellt wurde, war der Pfahlbau, auf dem das jüdische Volk, mitten im »Wasser«, überhaupt noch fortbestand, – die mühsam errungene letzte Möglichkeit, übrig zu bleiben, das Residuum seiner politischen Sonder-Existenz: ein Angriff auf sie war ein Angriff auf den tiefsten Volks-Instinkt, auf den zähesten Volks-Lebenswillen, der je auf Erden dagewesen ist. Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und »Sünder«, die Tschandala innerhalb des Judenthums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief – mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn an’s Kreuz: der Beweis dafür ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld, – es fehlt jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist, daß er für die Schuld Andrer starb. –
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28.
Eine vollkommen andre Frage ist es, ob er einen solchen Gegensatz überhaupt im Bewußtsein hatte, – ob er nicht bloß als dieser Gegensatz empfunden wurde. Und hier erst berühre ich das Problem der Psychologie des Erlösers. – Ich bekenne, daß ich wenige Bücher mit solchen Schwierigkeiten lese wie die Evangelien. Diese Schwierigkeiten sind andre als die, an deren Nachweis die gelehrte Neugierde des deutschen Geistes einen ihrer unvergeßlichsten Triumphe gefeiert hat. Die Zeit ist fern, wo auch ich, gleich jedem jungen Gelehrten, mit der klugen Langsamkeit eines raffinirten Philologen das Werk des unvergleichlichen Strauß auskostete. Damals war ich zwanzig Jahre alt: jetzt bin ich zu ernst dafür. Was gehen mich die Widersprüche der »Überlieferung« an? Wie kann man Heiligen-Legenden überhaupt »Überlieferung« nennen! Die Geschichten von Heiligen sind die zweideutigste Litteratur, die es überhaupt giebt: auf sie die wissenschaftliche Methode anwenden, wenn sonst keine Urkunden vorliegen, scheint mir von vornherein verurtheilt, – bloß gelehrter Müßiggang …
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29.
Was mich angeht, ist der psychologische Typus des Erlösers. Derselbe könnte ja in den Evangelien enthalten sein trotz den Evangelien, wie sehr auch immer verstümmelt oder mit fremden Zügen überladen: wie der des Franciscus von Assisi in seinen Legenden erhalten ist trotz seinen Legenden. Nicht die Wahrheit darüber, was er gethan, was er gesagt, wie er eigentlich gestorben ist: sondern die Frage, ob sein Typus überhaupt noch vorstellbar, ob er »überliefert« ist? – Die Versuche, die ich kenne, aus den Evangelien sogar die Geschichte einer »Seele« herauszulesen, scheinen mir Beweise einer verabscheuungswürdigen psychologischen Leichtfertigkeit. Herr Renan, dieser Hanswurst in psycho-logicis, hat die zwei ungehörigsten Begriffe zu seiner Erklärung des Typus Jesus hinzugebracht, die es hierfür geben kann: den Begriff Genie und den Begriff Held ( »héros«). Aber wenn irgend Etwas unevangelisch ist, so ist es der Begriff Held. Gerade der Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf-fühlen ist hier Instinkt geworden: die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral (»widerstehe nicht dem Bösen!« das tiefste Wort der Evangelien, ihr Schlüssel in gewissem Sinne), die Seligkeit im Frieden, in der Sanftmuth, im Nicht-feind-sein- können. Was heißt »frohe Botschaft«? Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden, – es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz. Jeder ist das Kind Gottes – Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch –, als Kind Gottes ist Jeder mit Jedem gleich … Aus Jesus einen Helden machen! – Und was für ein Mißverständniß ist gar das Wort »Genie«! Unser ganzer Begriff, unser Cultur-Begriff »Geist« hat in der Welt, in der Jesus lebt, gar keinen Sinn. Mit der Strenge des Physiologen gesprochen, wäre hier ein ganz andres Wort eher noch am Platz … Wir kennen einen Zustand krankhafter Reizbarkeit des Tastsinns, der dann vor jeder Berührung, vor jedem Anfassen eines festen Gegenstandes zurückschaudert. Man übersetze sich einen solchen physiologischen habitus in seine letzte Logik – als Instinkt-Haß gegen jede Realität, als Flucht in’s »Unfaßliche«, in’s »Unbegreifliche«, als Widerwille gegen jede Formel, jeden Zeit- und Raumbegriff, gegen Alles, was fest, Sitte, Institution, Kirche ist, als Zu-Hause-sein in einer Welt, an die keine Art Realität mehr rührt, einer bloß noch »inneren« Welt, einer »wahren« Welt, einer »ewigen« Welt… »Das Reich Gottes ist in euch«…
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30.
Der Instinkt-Haß gegen die Realität: Folge einer extremen Leid- und Reizfähigkeit, welche überhaupt nicht mehr »berührt« werden will, weil sie jede Berührung zu tief empfindet.
Die Instinkt-Ausschließung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl: Folge einer extremen Leid- und Reizfähigkeit, welche jedes Widerstreben, Widerstreben-müssen bereits als unerträgliche Unlust (das heißt als schädlich, als vom Selbsterhaltungs-Instinkte widerrathen) empfindet und die Seligkeit (die Lust) allein darin kennt, nicht mehr, Niemandem mehr, weder dem Übel noch dem Bösen, Widerstand zu leisten, – die Liebe als einzige, als letzte Lebens-Möglichkeit…
Dies sind die zwei physiologischen Realitäten, auf denen, aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist. Ich nenne sie eine sublime Weiter-Entwicklung des Hedonismus auf durchaus morbider Grundlage. Nächstverwandt, wenn auch mit einem großen Zuschuß von griechischer Vitalität und Nervenkraft, bleibt ihr der Epikureismus, die Erlösungs-Lehre des Heidenthums. Epikur ein typischer décadent: zuerst von mir als solcher erkannt. – Die Furcht vor Schmerz, selbst vor dem Unendlich-Kleinen im Schmerz – sie kann gar nicht anders enden als in einer Religion der Liebe…
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31.
Ich habe meine Antwort auf das Problem vorweg gegeben. Die Voraussetzung für sie ist, daß der Typus des Erlösers uns nur in einer starken Entstellung erhalten ist. Diese Entstellung hat an sich viel Wahrscheinlichkeit: ein solcher Typus konnte aus mehreren Gründen nicht rein, nicht ganz, nicht frei von Zuthaten bleiben. Es muß sowohl das Milieu, in dem sich diese fremde Gestalt bewegte, Spuren an ihm hinterlassen haben, als noch mehr die Geschichte, das Schicksal der ersten christlichen Gemeinde: aus ihm wurde, rückwirkend, der Typus mit Zügen bereichert, die erst aus dem Kriege und zu Zwecken der Propaganda verständlich werden. Jene seltsame und kranke Welt, in die uns die Evangelien einführen – eine Welt, wie aus einem russischen Romane, in der sich Auswurf der Gesellschaft, Nervenleiden und »kindliches« Idiotenthum ein Stelldichein zu geben scheinen – muß unter allen Umständen den Typus vergröbert haben: die ersten Jünger in Sonderheit übersetzten ein ganz in Symbolen und Unfaßlichkeiten schwimmendes Sein erst in die eigne Crudität, um überhaupt Etwas davon zu verstehn, – für sie war der Typus erst nach einer Einformung in bekanntere Formen vorhanden… Der Prophet, der Messias, der zukünftige Richter, der Morallehrer, der Wundermann, Johannes der Täufer – ebensoviele Gelegenheiten, den Typus zu verkennen… Unterschätzen wir endlich das proprium aller großen, namentlich sektirerischen Verehrung nicht: sie löscht die originalen, oft peinlich-fremden Züge und Idiosynkrasien an dem verehrten Wesen aus – sie sieht sie selbst nicht. Man hätte zu bedauern, daß nicht ein Dostoiewsky in der Nähe dieses interessantesten décadent gelebt hat, ich meine, Jemand, der gerade den ergreifenden Reiz einer solchen Mischung von Sublimem, Krankem und Kindlichem zu empfinden wußte. Ein letzter Gesichtspunkt: der Typus könnte, als décadence-Typus, thatsächlich von einer eigenthümlichen Vielheit und Widersprüchlichkeit gewesen sein: eine solche Möglichkeit ist nicht völlig auszuschließen. Trotzdem räth Alles ab von ihr: gerade die Überlieferung würde für diesen Fall eine merkwürdig treue und objektive sein müssen: wovon wir Gründe haben das Gegentheil anzunehmen. Einstweilen klafft ein Widerspruch zwischen dem Berg-, See- und Wiesen-Prediger, dessen Erscheinung wie ein Buddha auf einem sehr wenig indischen Boden anmuthet, und jenem Fanatiker des Angriffs, dem Theologen- und Priester-Todfeind, den Renan’s Bosheit als »le grand maître en ironie« verherrlicht hat. Ich selber zweifle nicht daran, daß das reichliche Maaß Galle (und selbst von esprit) erst aus dem erregten Zustand der christlichen Propaganda auf den Typus des Meisters übergeflossen ist: man kennt ja reichlich die Unbedenklichkeit aller Sektirer, aus ihrem Meister sich ihre Apologie zurecht zu machen. Als die erste Gemeinde einen richtenden, hadernden, zürnenden, bösartig spitzfindigen Theologen nöthig hatte, gegen Theologen, schuf sie sich ihren »Gott« nach ihrem Bedürfnisse: wie sie ihm auch jene völlig unevangelischen Begriffe, die sie jetzt nicht entbehren konnte, »Wiederkunft«, »jüngstes Gericht«, jede Art zeitlicher Erwartung und Verheißung, ohne Zögern in den Mund gab. –
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32.
Ich wehre mich, nochmals gesagt, dagegen, daß man den Fanatiker in den Typus des Erlösers einträgt: das Wort impérieux, das Renan gebraucht, annullirt allein schon den Typus. Die »gute Botschaft« ist eben, daß es keine Gegensätze mehr giebt; das Himmelreich gehört den Kindern; der Glaube, der hier laut wird, ist kein erkämpfter Glaube, – er ist da, er ist von Anfang, er ist gleichsam eine in’s Geistige zurückgetretene Kindlichkeit. Der Fall der verzögerten und im Organismus unausgebildeten Pubertät, als Folgeerscheinung der Degenerescenz, ist wenigstens den Physiologen vertraut. – Ein solcher Glaube zürnt nicht, tadelt nicht, wehrt sich nicht: er bringt nicht »das Schwert«, – er ahnt gar nicht, inwiefern er einmal trennen könnte. Er beweist sich nicht, weder durch Wunder, noch durch Lohn und Verheißung, noch gar »durch die Schrift«: er selbst ist jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein »Reich Gottes«. Dieser Glaube formulirt sich auch nicht, – er lebt, er wehrt sich gegen Formeln. Freilich bestimmt der Zufall der Umgebung, der Sprache, der Vorbildung einen gewissen Kreis von Begriffen: das erste Christenthum handhabt nur jüdisch-semitische Begriffe (– das Essen und Trinken beim Abendmahl gehört dahin, jener von der Kirche, wie alles Jüdische, so schlimm mißbrauchte Begriff). Aber man hüte sich, darin mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen zu sehn. Gerade, daß kein Wort wörtlich genommen wird, ist diesem Anti-Realisten die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können. Unter Indern würde er sich der Sânkhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Laotse bedient haben – und keinen Unterschied dabei fühlen. – Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen »freien Geist« nennen – er macht sich aus allem Festen nichts: das Wort tödtet, Alles, was fest ist, tödtet. Der Begriff, die Erfahrung »Leben«, wie er sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma. Er redet bloß vom Innersten: »Leben« oder »Wahrheit« oder »Licht« ist sein Wort für das Innerste, – alles Übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloß den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses. – Man darf sich an dieser Stelle durchaus nicht vergreifen, so groß auch die Verführung ist, welche im christlichen, will sagen kirchlichen Vorurtheil liegt: ein solcher Symbolist par excellence steht außerhalb aller Religion, aller Cult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller Welt-Erfahrung, aller Kenntnisse, aller Politik, aller Psychologie, aller Bücher, aller Kunst, – sein »Wissen« ist eben die reine Thorheit darüber, daß es Etwas dergleichen giebt. Die Cultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt, er hat keinen Kampf gegen sie nöthig, – er verneint sie nicht… Dasselbe gilt vom Staat, von der ganzen bürgerlichen Ordnung und Gesellschaft, von der Arbeit, vom Kriege, – er hat nie einen Grund gehabt, »die Welt« zu verneinen, er hat den kirchlichen Begriff »Welt« nie geahnt… Das Verneinen ist eben das ihm ganz Unmögliche –. Insgleichen fehlt die Dialektik, es fehlt die Vorstellung davon, daß ein Glaube, eine »Wahrheit« durch Gründe bewiesen werden könnte (– seine Beweise sind innere »Lichter«, innere Lustgefühle und Selbstbejahungen, lauter »Beweise der Kraft« –). Eine solche Lehre kann auch nicht widersprechen: sie begreift gar nicht, daß es andre Lehren giebt, geben kann, sie weiß sich ein gegentheiliges Urtheilen gar nicht vorzustellen… Wo sie es antrifft, wird sie aus innerstem Mitgefühle über »Blindheit« trauern – denn sie sieht das »Licht« –, aber keinen Einwand machen…
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33.
In der ganzen Psychologie des »Evangeliums« fehlt der Begriff Schuld und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die »Sünde«, jedwedes Distanz-Verhältniß zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft, – eben das ist die »frohe Botschaft«. Die Seligkeit wird nicht verheißen, sie wird nicht an Bedingungen geknüpft: sie ist die einzige Realität – der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden…
Die Folge eines solchen Zustandes projicirt sich in eine neue Praktik, die eigentlich evangelische Praktik. Nicht ein »Glaube« unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein andres Handeln. Daß er Dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Wort, noch im Herzen Widerstand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nicht-Juden macht (»der Nächste« eigentlich der Glaubensgenosse, der Jude). Daß er sich gegen Niemanden erzürnt, Niemanden geringschätzt. Daß er sich bei Gerichtshöfen weder sehn läßt, noch in Anspruch nehmen läßt (»nicht schwören«). Daß er sich unter keinen Umständen, auch nicht im Falle bewiesener Untreue des Weibes, von seinem Weibe scheidet. – Alles im Grunde Ein Satz, Alles Folgen Eines Instinkts. –
Das Leben des Erlösers war nichts Andres als diese Praktik, – sein Tod war auch nichts Andres… Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig, – nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buß- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet; er weiß, wie es allein die Praktik des Lebens ist, mit der man sich »göttlich«, »selig«, »evangelisch«, jederzeit ein »Kind Gottes« fühlt. Nicht »Buße«, nicht »Gebet um Vergebung« sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist »Gott«! – Was mit dem Evangelium abgethan war, das war das Judenthum der Begriffe »Sünde«, »Vergebung der Sünde«, »Glaube«, »Erlösung durch den Glauben«, – die ganze jüdische Kirchen-Lehre war in der »frohen Botschaft« verneint.
Der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um sich »im Himmel« zu fühlen, um sich »ewig« zu fühlen, während man sich bei jedem andern Verhalten durchaus nicht »im Himmel« fühlt: dies allein ist die psychologische Realität der »Erlösung«. – Ein neuer Wandel, nicht ein neuer Glaube…
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34.
Wenn ich irgend Etwas von diesem großen Symbolisten verstehe, so ist es Das, daß er nur innere Realitäten als Realitäten, als »Wahrheiten« nahm, – daß er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand. Der Begriff »des Menschen Sohn« ist nicht eine concrete Person, die in die Geschichte gehört, irgend etwas Einzelnes, Einmaliges, sondern eine »ewige« Thatsächlichkeit, ein von dem Zeitbegriff erlöstes psychologisches Symbol. Dasselbe gilt noch einmal, und im höchsten Sinne, von dem Gott dieses typischen Symbolisten, vom »Reich Gottes«, vom »Himmelreich«, von der »Kindschaft Gottes«. Nichts ist unchristlicher als die kirchlichen Cruditäten von einem Gott als Person, von einem »Reich Gottes«, welches kommt, von einem »Himmelreich« jenseits, von einem »Sohne Gottes«, der zweiten Person der Trinität. Dies Alles ist – man vergebe mir den Ausdruck – die Faust auf dem Auge – oh auf was für einem Auge! – des Evangeliums: ein welthistorischer Cynismus in der Verhöhnung des Symbols… Aber es liegt ja auf der Hand, was mit dem Zeichen »Vater« und »Sohn« angerührt wird – nicht auf jeder Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort »Sohn« ist der Eintritt in das Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort »Vater« dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl. – Ich schäme mich daran zu erinnern, was die Kirche aus diesem Symbolismus gemacht hat: hat sie nicht eine Amphitryon-Geschichte an die Schwelle des christlichen »Glaubens« gesetzt? Und ein Dogma von der »unbefleckten Empfängniß« noch obendrein?… Aber damit hat sie die Empfängniß befleckt – –
Das »Himmelreich« ist ein Zustand des Herzens, – nicht Etwas, das »über der Erde« oder »nach dem Tode« kommt. Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern, bloß scheinbaren, bloß zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die »Todesstunde« ist kein christlicher Begriff, – die »Stunde«, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der »frohen Botschaft«… Das »Reich Gottes« ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in »tausend Jahren«, – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…
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35.
Dieser »frohe Botschafter« starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um »die Menschen zu erlösen«, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus… Und er bittet, er leidet, er liebt mit Denen, in Denen, die ihm Böses thun… Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen … Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, – ihn lieben…
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36.
– Erst wir, wir freigewordenen Geister, haben die Voraussetzung dafür, Etwas zu verstehn, das neunzehn Jahrhunderte mißverstanden haben, – jene Instinkt und Leidenschaft gewordene Rechtschaffenheit, welche der »heiligen Lüge« noch mehr als jeder andern Lüge den Krieg macht… Man war unsäglich entfernt von unsrer liebevollen und vorsichtigen Neutralität, von jener Zucht des Geistes, mit der allein das Errathen so fremder, so zarter Dinge ermöglicht wird: man wollte jederzeit, mit einer unverschämten Selbstsucht, nur seinen Vortheil darin, man hat aus dem Gegensatz zum Evangelium die Kirche aufgebaut…
Wer nach Zeichen dafür suchte, daß hinter dem großen Welten-Spiel eine ironische Göttlichkeit die Finger handhabe, er fände keinen kleinen Anhalt in dem ungeheuren Fragezeichen, das Christentum heißt. Daß die Menschheit vor dem Gegensatz Dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das Recht des Evangeliums war, daß sie in dem Begriff »Kirche« gerade Das heilig gesprochen hat, was der »frohe Botschafter« als unter sich, als hinter sich empfand – man sucht vergebens nach einer größeren Form welthistorischer Ironie – –
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37.
– Unser Zeitalter ist stolz auf seinen historischen Sinn: wie hat es sich den Unsinn glaublich machen können, daß an dem Anfange des Christentums die grobe Wunderthäter- und Erlöser-Fabel steht, – und daß alles Spirituale und Symbolische erst eine spätere Entwicklung ist? Umgekehrt: die Geschichte des Christentums – und zwar vom Tode am Kreuze an – ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Mißverstehns eines ursprünglichen Symbolismus. Mit jeder Ausbreitung des Christentums über noch breitere, noch rohere Massen, denen die Voraussetzungen immer mehr abgiengen, aus denen es geboren ist, wurde es nöthiger, das Christentum zu vulgarisiren, zu barbarisiren, – es hat Lehren und Riten aller unterirdischen Culte des imperium Romanum, es hat den Unsinn aller Arten kranker Vernunft in sich eingeschluckt. Das Schicksal des Christenthums liegt in der Nothwendigkeit, daß sein Glaube selbst so krank, so niedrig und vulgär werden mußte, als die Bedürfnisse krank, niedrig und vulgär waren, die mit ihm befriedigt werden sollten. Als Kirche summirt sich endlich die kranke Barbarei selbst zur Macht, – die Kirche, diese Todfeindschaftsform zu jeder Rechtschaffenheit, zu jeder Höhe der Seele, zu jeder Zucht des Geistes, zu jeder freimüthigen und gütigen Menschlichkeit. – Die christlichen – die vornehmen Werthe: erst wir, wir freigewordnen Geister, haben diesen größten Werth-Gegensatz, den es giebt, wiederhergestellt! – –