Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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26.

Der Got­tes­be­griff ge­fälscht; der Moral­be­griff ge­fälscht: – die jü­di­sche Pries­ter­schaft blieb da­bei nicht stehn. Man konn­te die gan­ze Ge­schich­te Is­rael’s nicht brau­chen: fort mit ihr! – Die­se Pries­ter ha­ben je­nes Wun­der­werk von Fäl­schung zu Stan­de ge­bracht, als de­ren Do­ku­ment uns ein gu­ter Theil der Bi­bel vor­liegt: sie ha­ben ihre eig­ne Volks-Ver­gan­gen­heit mit ei­nem Hohn ohne Glei­chen ge­gen jede Über­lie­fe­rung, ge­gen jede his­to­ri­sche Rea­li­tät, in’s Re­li­gi­öse über­setzt, das heißt, aus ihr einen stu­pi­den Heils-Mecha­nis­mus von Schuld ge­gen Ja­veh und Stra­fe, von Fröm­mig­keit ge­gen Ja­veh und Lohn ge­macht. Wir wür­den die­sen schmach­volls­ten Akt der Ge­schichts-Fäl­schung viel schmerz­haf­ter emp­fin­den, wenn uns nicht die kirch­li­che Ge­schichts-In­ter­pre­ta­ti­on von Jahr­tau­sen­den fast stumpf für die For­de­run­gen der Recht­schaf­fen­heit in his­to­ri­cis ge­macht hät­te. Und der Kir­che se­kun­dir­ten die Phi­lo­so­phen: die Lüge der »sitt­li­chen Wel­t­ord­nung« geht durch die gan­ze Ent­wick­lung selbst der neue­ren Phi­lo­so­phie. Was be­deu­tet »sitt­li­che Wel­t­ord­nung«? Daß es, ein für alle Mal, einen Wil­len Got­tes giebt, was der Mensch zu thun, was er zu las­sen habe; daß der Werth ei­nes Vol­kes, ei­nes Ein­zel­nen sich dar­nach be­mes­se, wie sehr oder wie we­nig dem Wil­len Got­tes ge­horcht wird; daß in den Schick­sa­len ei­nes Vol­kes, ei­nes Ein­zel­nen sich der Wil­le Got­tes als herr­schend, das heißt als stra­fend und be­loh­nend, je nach dem Gra­de des Ge­hor­sams, be­weist. – Die Rea­li­tät an Stel­le die­ser er­bar­mungs­wür­di­gen Lüge heißt: eine pa­ra­si­ti­sche Art Mensch, die nur auf Kos­ten al­ler ge­sun­den Bil­dun­gen des Le­bens ge­deiht, der Pries­ter, miß­braucht den Na­men Got­tes: er nennt einen Zu­stand der Ge­sell­schaft, in dem der Pries­ter den Werth der Din­ge be­stimmt, »das Reich Got­tes«; er nennt die Mit­tel, ver­mö­ge de­ren ein sol­cher Zu­stand er­reicht oder auf­recht er­hal­ten wird, »den Wil­len Got­tes«; er mißt, mit ei­nem kalt­blü­ti­gen Cy­nis­mus, die Völ­ker, die Zei­ten, die Ein­zel­nen dar­nach ab, ob sie der Pries­ter-Über­macht nütz­ten oder wi­der­streb­ten. Man sehe sie am Werk: un­ter den Hän­den der jü­di­schen Pries­ter wur­de die große Zeit in der Ge­schich­te Is­rael’s eine Ver­falls-Zeit, das Exil, das lan­ge Un­glück ver­wan­del­te sich in eine ewi­ge Stra­fe für die große Zeit – eine Zeit, in der der Pries­ter noch nichts war. Sie ha­ben aus den mäch­ti­gen, sehr frei ge­rat­he­nen Ge­stal­ten der Ge­schich­te Is­rael’s, je nach Be­dürf­niß, arm­se­li­ge Du­cker und Mu­cker oder »Gott­lo­se« ge­macht, sie ha­ben die Psy­cho­lo­gie je­des großen Er­eig­nis­ses auf die Idio­ten-For­mel »Ge­hor­sam oder Un­ge­hor­sam ge­gen Gott« ver­ein­facht. – Ein Schritt wei­ter: der »Wil­le Got­tes« (das heißt die Er­hal­tungs-Be­din­gun­gen für die Macht des Pries­ters) muß be­kannt sein, – zu die­sem Zwe­cke be­darf es ei­ner »Of­fen­ba­rung«. Auf deutsch: eine große lit­te­ra­ri­sche Fäl­schung wird nö­thig, eine »hei­li­ge Schrift« wird ent­deckt, – un­ter al­lem hie­ra­ti­schen Pomp, mit Buß­ta­gen und Jam­mer­ge­schrei über die lan­ge »Sün­de« wird sie öf­fent­lich ge­macht. Der »Wil­le Got­tes« stand längst fest: das gan­ze Un­heil liegt dar­in, daß man sich der »hei­li­gen Schrift« ent­frem­det hat … Mo­ses schon war der »Wil­le Got­tes« of­fen­bart … Was war ge­schehn? Der Pries­ter hat­te, mit Stren­ge, mit Pe­dan­te­rie, bis auf die großen und klei­nen Steu­ern, die man ihm zu zah­len hat­te (– die schmack­haf­tes­ten Stücke vom Fleisch nicht zu ver­ges­sen: denn der Pries­ter ist ein Beefs­teak-Fres­ser), ein für alle Mal for­mu­lirt, was er ha­ben will, »was der Wil­le Got­tes ist« … Von nun an sind alle Din­ge des Le­bens so ge­ord­net, daß der Pries­ter über­all un­ent­behr­lich ist; in al­len na­tür­li­chen Vor­komm­nis­sen des Le­bens, bei der Ge­burt, der Ehe, der Krank­heit, dem Tode, gar nicht vom »Op­fer« (der Mahl­zeit) zu re­den, er­scheint der hei­li­ge Pa­ra­sit, um sie zu ent­na­tür­li­chen, – in sei­ner Spra­che: zu »hei­li­gen« … Denn dies muß man be­grei­fen: jede na­tür­li­che Sit­te, jede na­tür­li­che In­sti­tu­ti­on (Staat, Ge­richts­ord­nung, Ehe, Kran­ken- und Ar­men­pfle­ge), jede vom In­stinkt des Le­bens ein­ge­geb­ne For­de­rung, kurz Al­les, was sei­nen Werth in sich hat, wird durch den Pa­ra­si­tis­mus des Pries­ters (oder der »sitt­li­chen Wel­t­ord­nung«) grund­sätz­lich wert­h­los, werth- wid­rig ge­macht: es be­darf nach­träg­lich ei­ner Sank­ti­on, – eine wert­h­ver­lei­hen­de Macht thut noth, wel­che die Na­tur dar­in ver­neint, wel­che eben da­mit erst einen Werth schafft … Der Pries­ter ent­wert­het, ent­hei­ligt die Na­tur: um die­sen Preis be­steht er über­haupt. – Der Un­ge­hor­sam ge­gen Gott, das heißt ge­gen den Pries­ter, ge­gen »das Ge­setz«, be­kommt nun den Na­men »Sün­de«; die Mit­tel, sich wie­der »mit Gott zu ver­söh­nen«, sind, wie bil­lig, Mit­tel, mit de­nen die Un­ter­wer­fung un­ter den Pries­ter nur noch gründ­li­cher ge­währ­leis­tet ist: der Pries­ter al­lein »er­löst« … Psy­cho­lo­gisch nach­ge­rech­net, wer­den in je­der pries­ter­lich or­ga­ni­sir­ten Ge­sell­schaft die »Sün­den« un­ent­behr­lich: sie sind die ei­gent­li­chen Hand­ha­ben der Macht, der Pries­ter lebt von den Sün­den, er hat nö­thig, daß »ge­sün­digt« wird … Obers­ter Satz: »Gott ver­giebt Dem, der Buße thut« – auf deutsch: der sich dem Pries­ter un­ter­wirft. –

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27.

Auf ei­nem der­ge­stalt falschen Bo­den, wo jede Na­tur, je­der Na­tur­werth, jede Rea­li­tät die tiefs­ten In­stink­te der herr­schen­den Klas­se wi­der sich hat­te, wuchs das Chris­tent­hum auf, eine Tod­feind­schafts-Form ge­gen die Rea­li­tät, die bis­her nicht über­trof­fen wor­den ist. Das »hei­li­ge Volk«, das für alle Din­ge nur Pries­ter-Wert­he, nur Pries­ter-Wor­te üb­rig be­hal­ten hat­te und mit ei­ner Schluß-Fol­ge­rich­tig­keit, die Furcht ein­flö­ßen kann, Al­les, was sonst noch an Macht auf Er­den be­stand, als »un­hei­lig«, als »Welt«, als »Sün­de« von sich ab­ge­trennt hat­te, – dies Volk brach­te für sei­nen In­stinkt eine letz­te For­mel her­vor, die lo­gisch war bis zur Selbst­ver­nei­nung: es ver­nein­te, als Chris­tent­hum, noch die letz­te Form der Rea­li­tät, das »hei­li­ge Volk«, das »Volk der Aus­ge­wähl­ten«, die jü­di­sche Rea­li­tät selbst. Der Fall ist ers­ten Rangs: die klei­ne auf­stän­di­sche Be­we­gung, die auf den Na­men des Je­sus von Na­za­reth ge­tauft wird, ist der jü­di­sche In­stinkt noch ein­mal, – an­ders ge­sagt, der Pries­ter-In­stinkt, der den Pries­ter als Rea­li­tät nicht mehr ver­trägt, die Er­fin­dung ei­ner noch ab­ge­zo­gne­ren Da­seins­form, ei­ner noch un­rea­le­ren Vi­si­on der Welt, als sie die Or­ga­ni­sa­ti­on ei­ner Kir­che be­dingt. Das Chris­tent­hum ver­neint die Kir­che …

Ich sehe nicht ab, wo­ge­gen der Auf­stand ge­rich­tet war, als des­sen Ur­he­ber Je­sus ver­stan­den oder miß­ver­stan­den wor­den ist, wenn es nicht der Auf­stand ge­gen die jü­di­sche Kir­che war, – »Kir­che« ge­nau in dem Sinn ge­nom­men, in dem wir heu­te das Wort neh­men. Es war ein Auf­stand ge­gen »die Gu­ten und Ge­rech­ten«, ge­gen »die Hei­li­gen Is­rael’s«, ge­gen die Hier­ar­chie der Ge­sell­schaft – nicht ge­gen de­ren Ver­derb­niß, son­dern ge­gen die Kas­te, das Pri­vi­le­gi­um, die Ord­nung, die For­mel; es war der Un­glau­be an die »hö­he­ren Men­schen«, das Nein ge­spro­chen ge­gen Al­les, was Pries­ter und Theo­lo­ge war. Aber die Hier­ar­chie, die da­mit, wenn auch nur für einen Au­gen­blick, in Fra­ge ge­stellt wur­de, war der Pfahl­bau, auf dem das jü­di­sche Volk, mit­ten im »Was­ser«, über­haupt noch fort­be­stand, – die müh­sam er­run­ge­ne letz­te Mög­lich­keit, üb­rig zu blei­ben, das Re­si­du­um sei­ner po­li­ti­schen Son­der-Exis­tenz: ein An­griff auf sie war ein An­griff auf den tiefs­ten Volks-In­stinkt, auf den zä­he­s­ten Volks-Le­bens­wil­len, der je auf Er­den da­ge­we­sen ist. Die­ser hei­li­ge An­ar­chist, der das nie­de­re Volk, die Aus­ge­stoß­nen und »Sün­der«, die Tschan­da­la in­ner­halb des Ju­dent­hums zum Wi­der­spruch ge­gen die herr­schen­de Ord­nung auf­rief – mit ei­ner Spra­che, falls den Evan­ge­li­en zu trau­en wäre, die auch heu­te noch nach Si­bi­ri­en füh­ren wür­de, war ein po­li­ti­scher Ver­bre­cher, so weit eben po­li­ti­sche Ver­bre­cher in ei­ner ab­surd-un­po­li­ti­schen Ge­mein­schaft mög­lich wa­ren. Dies brach­te ihn an’s Kreuz: der Be­weis da­für ist die Auf­schrift des Kreu­zes. Er starb für sei­ne Schuld, – es fehlt je­der Grund da­für, so oft es auch be­haup­tet wor­den ist, daß er für die Schuld And­rer starb. –

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28.

Eine voll­kom­men and­re Fra­ge ist es, ob er einen sol­chen Ge­gen­satz über­haupt im Be­wußt­sein hat­te, – ob er nicht bloß als die­ser Ge­gen­satz emp­fun­den wur­de. Und hier erst be­rüh­re ich das Pro­blem der Psy­cho­lo­gie des Er­lö­sers. – Ich be­ken­ne, daß ich we­ni­ge Bü­cher mit sol­chen Schwie­rig­kei­ten lese wie die Evan­ge­li­en. Die­se Schwie­rig­kei­ten sind and­re als die, an de­ren Nach­weis die ge­lehr­te Neu­gier­de des deut­schen Geis­tes einen ih­rer un­ver­geß­lichs­ten Tri­um­phe ge­fei­ert hat. Die Zeit ist fern, wo auch ich, gleich je­dem jun­gen Ge­lehr­ten, mit der klu­gen Lang­sam­keit ei­nes raf­fi­nir­ten Phi­lo­lo­gen das Werk des un­ver­gleich­li­chen Strauß aus­kos­te­te. Da­mals war ich zwan­zig Jah­re alt: jetzt bin ich zu ernst da­für. Was ge­hen mich die Wi­der­sprü­che der »Über­lie­fe­rung« an? Wie kann man Hei­li­gen-Le­gen­den über­haupt »Über­lie­fe­rung« nen­nen! Die Ge­schich­ten von Hei­li­gen sind die zwei­deu­tigs­te Lit­te­ra­tur, die es über­haupt giebt: auf sie die wis­sen­schaft­li­che Metho­de an­wen­den, wenn sonst kei­ne Ur­kun­den vor­lie­gen, scheint mir von vorn­her­ein ver­urt­heilt, – bloß ge­lehr­ter Mü­ßig­gang …

 

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29.

Was mich an­geht, ist der psy­cho­lo­gi­sche Ty­pus des Er­lö­sers. Der­sel­be könn­te ja in den Evan­ge­li­en ent­hal­ten sein trotz den Evan­ge­li­en, wie sehr auch im­mer ver­stüm­melt oder mit frem­den Zü­gen über­la­den: wie der des Fran­cis­cus von As­si­si in sei­nen Le­gen­den er­hal­ten ist trotz sei­nen Le­gen­den. Nicht die Wahr­heit dar­über, was er gethan, was er ge­sagt, wie er ei­gent­lich ge­stor­ben ist: son­dern die Fra­ge, ob sein Ty­pus über­haupt noch vor­stell­bar, ob er »über­lie­fert« ist? – Die Ver­su­che, die ich ken­ne, aus den Evan­ge­li­en so­gar die Ge­schich­te ei­ner »See­le« her­aus­zu­le­sen, schei­nen mir Be­wei­se ei­ner ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen psy­cho­lo­gi­schen Leicht­fer­tig­keit. Herr Ren­an, die­ser Hans­wurst in psy­cho-lo­gi­cis, hat die zwei un­ge­hö­rigs­ten Be­grif­fe zu sei­ner Er­klä­rung des Ty­pus Je­sus hin­zu­ge­bracht, die es hier­für ge­ben kann: den Be­griff Ge­nie und den Be­griff Held ( »héros«). Aber wenn ir­gend Et­was un­evan­ge­lisch ist, so ist es der Be­griff Held. Gera­de der Ge­gen­satz zu al­lem Rin­gen, zu al­lem Sich-in-Kampf-füh­len ist hier In­stinkt ge­wor­den: die Un­fä­hig­keit zum Wi­der­stand wird hier Moral (»wi­der­ste­he nicht dem Bö­sen!« das tiefs­te Wort der Evan­ge­li­en, ihr Schlüs­sel in ge­wis­sem Sin­ne), die Se­lig­keit im Frie­den, in der Sanft­muth, im Nicht-feind-sein- kön­nen. Was heißt »fro­he Bot­schaft«? Das wah­re Le­ben, das ewi­ge Le­ben ist ge­fun­den, – es wird nicht ver­hei­ßen, es ist da, es ist in euch: als Le­ben in der Lie­be, in der Lie­be ohne Ab­zug und Aus­schluß, ohne Di­stanz. Je­der ist das Kind Got­tes – Je­sus nimmt durch­aus nichts für sich al­lein in An­spruch –, als Kind Got­tes ist Je­der mit Je­dem gleich … Aus Je­sus einen Hel­den ma­chen! – Und was für ein Miß­ver­ständ­niß ist gar das Wort »Ge­nie«! Un­ser gan­zer Be­griff, un­ser Cul­tur-Be­griff »Geist« hat in der Welt, in der Je­sus lebt, gar kei­nen Sinn. Mit der Stren­ge des Phy­sio­lo­gen ge­spro­chen, wäre hier ein ganz andres Wort eher noch am Platz … Wir ken­nen einen Zu­stand krank­haf­ter Reiz­bar­keit des Tast­sinns, der dann vor je­der Berüh­rung, vor je­dem An­fas­sen ei­nes fes­ten Ge­gen­stan­des zu­rück­schau­dert. Man über­set­ze sich einen sol­chen phy­sio­lo­gi­schen ha­bi­tus in sei­ne letz­te Lo­gik – als In­stinkt-Haß ge­gen jede Rea­li­tät, als Flucht in’s »Un­faß­li­che«, in’s »Un­be­greif­li­che«, als Wi­der­wil­le ge­gen jede For­mel, je­den Zeit- und Raum­be­griff, ge­gen Al­les, was fest, Sit­te, In­sti­tu­ti­on, Kir­che ist, als Zu-Hau­se-sein in ei­ner Welt, an die kei­ne Art Rea­li­tät mehr rührt, ei­ner bloß noch »in­ne­ren« Welt, ei­ner »wah­ren« Welt, ei­ner »ewi­gen« Wel­t… »Das Reich Got­tes ist in euch«…

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30.

Der In­stinkt-Haß ge­gen die Rea­li­tät: Fol­ge ei­ner ex­tre­men Leid- und Reiz­fä­hig­keit, wel­che über­haupt nicht mehr »be­rührt« wer­den will, weil sie jede Berüh­rung zu tief emp­fin­det.

Die In­stinkt-Aus­schlie­ßung al­ler Ab­nei­gung, al­ler Feind­schaft, al­ler Gren­zen und Di­stan­zen im Ge­fühl: Fol­ge ei­ner ex­tre­men Leid- und Reiz­fä­hig­keit, wel­che je­des Wi­der­stre­ben, Wi­der­stre­ben-müs­sen be­reits als un­er­träg­li­che Un­lust (das heißt als schäd­lich, als vom Selbs­t­er­hal­tungs-In­stink­te wi­der­rat­hen) emp­fin­det und die Se­lig­keit (die Lust) al­lein dar­in kennt, nicht mehr, Nie­man­dem mehr, we­der dem Übel noch dem Bö­sen, Wi­der­stand zu leis­ten, – die Lie­be als ein­zi­ge, als letz­te Le­bens-Mög­lich­keit…

Dies sind die zwei phy­sio­lo­gi­schen Rea­li­tä­ten, auf de­nen, aus de­nen die Er­lö­sungs-Leh­re ge­wach­sen ist. Ich nen­ne sie eine sub­li­me Wei­ter-Ent­wick­lung des He­do­nis­mus auf durch­aus mor­bi­der Grund­la­ge. Nächst­ver­wandt, wenn auch mit ei­nem großen Zu­schuß von grie­chi­scher Vi­ta­li­tät und Ner­ven­kraft, bleibt ihr der Epi­ku­reis­mus, die Er­lö­sungs-Leh­re des Hei­dent­hums. Epi­kur ein ty­pi­scher dé­ca­dent: zu­erst von mir als sol­cher er­kannt. – Die Furcht vor Schmerz, selbst vor dem Unend­lich-Klei­nen im Schmerz – sie kann gar nicht an­ders en­den als in ei­ner Re­li­gi­on der Lie­be…

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31.

Ich habe mei­ne Ant­wort auf das Pro­blem vor­weg ge­ge­ben. Die Voraus­set­zung für sie ist, daß der Ty­pus des Er­lö­sers uns nur in ei­ner star­ken Ent­stel­lung er­hal­ten ist. Die­se Ent­stel­lung hat an sich viel Wahr­schein­lich­keit: ein sol­cher Ty­pus konn­te aus meh­re­ren Grün­den nicht rein, nicht ganz, nicht frei von Zutha­ten blei­ben. Es muß so­wohl das Mi­lieu, in dem sich die­se frem­de Ge­stalt be­weg­te, Spu­ren an ihm hin­ter­las­sen ha­ben, als noch mehr die Ge­schich­te, das Schick­sal der ers­ten christ­li­chen Ge­mein­de: aus ihm wur­de, rück­wir­kend, der Ty­pus mit Zü­gen be­rei­chert, die erst aus dem Krie­ge und zu Zwe­cken der Pro­pa­gan­da ver­ständ­lich wer­den. Jene selt­sa­me und kran­ke Welt, in die uns die Evan­ge­li­en ein­füh­ren – eine Welt, wie aus ei­nem rus­si­schen Ro­ma­ne, in der sich Aus­wurf der Ge­sell­schaft, Ner­ven­lei­den und »kind­li­ches« Idio­tent­hum ein Stell­dich­ein zu ge­ben schei­nen – muß un­ter al­len Um­stän­den den Ty­pus ver­grö­bert ha­ben: die ers­ten Jün­ger in Son­der­heit über­setz­ten ein ganz in Sym­bo­len und Un­faß­lich­kei­ten schwim­men­des Sein erst in die eig­ne Cru­di­tät, um über­haupt Et­was da­von zu ver­stehn, – für sie war der Ty­pus erst nach ei­ner Ein­for­mung in be­kann­te­re For­men vor­han­den… Der Pro­phet, der Mes­si­as, der zu­künf­ti­ge Rich­ter, der Moral­leh­rer, der Wun­der­mann, Jo­han­nes der Täu­fer – eben­so­vie­le Ge­le­gen­hei­ten, den Ty­pus zu ver­ken­nen… Un­ter­schät­zen wir end­lich das pro­pri­um al­ler großen, na­ment­lich sek­ti­re­ri­schen Ver­eh­rung nicht: sie löscht die ori­gi­na­len, oft pein­lich-frem­den Züge und Idio­syn­kra­si­en an dem ver­ehr­ten We­sen aus – sie sieht sie selbst nicht. Man hät­te zu be­dau­ern, daß nicht ein Do­stoiew­sky in der Nähe die­ses in­ter­essan­tes­ten dé­ca­dent ge­lebt hat, ich mei­ne, Je­mand, der ge­ra­de den er­grei­fen­den Reiz ei­ner sol­chen Mi­schung von Sub­li­mem, Kran­kem und Kind­li­chem zu emp­fin­den wuß­te. Ein letz­ter Ge­sichts­punkt: der Ty­pus könn­te, als dé­ca­dence-Ty­pus, that­säch­lich von ei­ner ei­gent­hüm­li­chen Viel­heit und Wi­der­sprüch­lich­keit ge­we­sen sein: eine sol­che Mög­lich­keit ist nicht völ­lig aus­zu­schlie­ßen. Trotz­dem räth Al­les ab von ihr: ge­ra­de die Über­lie­fe­rung wür­de für die­sen Fall eine merk­wür­dig treue und ob­jek­ti­ve sein müs­sen: wo­von wir Grün­de ha­ben das Ge­gent­heil an­zu­neh­men. Einst­wei­len klafft ein Wi­der­spruch zwi­schen dem Berg-, See- und Wie­sen-Pre­di­ger, des­sen Er­schei­nung wie ein Bud­dha auf ei­nem sehr we­nig in­di­schen Bo­den an­mu­thet, und je­nem Fa­na­ti­ker des An­griffs, dem Theo­lo­gen- und Pries­ter-Tod­feind, den Renan’s Bos­heit als »le grand maître en iro­nie« ver­herr­licht hat. Ich sel­ber zweifle nicht dar­an, daß das reich­li­che Maaß Gal­le (und selbst von e­sprit) erst aus dem er­reg­ten Zu­stand der christ­li­chen Pro­pa­gan­da auf den Ty­pus des Meis­ters über­ge­flos­sen ist: man kennt ja reich­lich die Un­be­denk­lich­keit al­ler Sek­ti­rer, aus ih­rem Meis­ter sich ihre Apo­lo­gie zu­recht zu ma­chen. Als die ers­te Ge­mein­de einen rich­ten­den, ha­dern­den, zür­nen­den, bös­ar­tig spitz­fin­di­gen Theo­lo­gen nö­thig hat­te, ge­gen Theo­lo­gen, schuf sie sich ih­ren »Gott« nach ih­rem Be­dürf­nis­se: wie sie ihm auch jene völ­lig un­evan­ge­li­schen Be­grif­fe, die sie jetzt nicht ent­beh­ren konn­te, »Wie­der­kunft«, »jüngs­tes Ge­richt«, jede Art zeit­li­cher Er­war­tung und Ver­hei­ßung, ohne Zö­gern in den Mund gab. –

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32.

Ich weh­re mich, noch­mals ge­sagt, da­ge­gen, daß man den Fa­na­ti­ker in den Ty­pus des Er­lö­sers ein­trägt: das Wort impérieux, das Ren­an ge­braucht, an­nul­lirt al­lein schon den Ty­pus. Die »gute Bot­schaft« ist eben, daß es kei­ne Ge­gen­sät­ze mehr giebt; das Him­mel­reich ge­hört den Kin­dern; der Glau­be, der hier laut wird, ist kein er­kämpf­ter Glau­be, – er ist da, er ist von An­fang, er ist gleich­sam eine in’s Geis­ti­ge zu­rück­ge­tre­te­ne Kind­lich­keit. Der Fall der ver­zö­ger­ten und im Or­ga­nis­mus un­aus­ge­bil­de­ten Pu­ber­tät, als Fol­ge­er­schei­nung der De­ge­ne­re­scenz, ist we­nigs­tens den Phy­sio­lo­gen ver­traut. – Ein sol­cher Glau­be zürnt nicht, ta­delt nicht, wehrt sich nicht: er bringt nicht »das Schwert«, – er ahnt gar nicht, in­wie­fern er ein­mal tren­nen könn­te. Er be­weist sich nicht, we­der durch Wun­der, noch durch Lohn und Ver­hei­ßung, noch gar »durch die Schrift«: er selbst ist je­den Au­gen­blick sein Wun­der, sein Lohn, sein Be­weis, sein »Reich Got­tes«. Die­ser Glau­be for­mu­lirt sich auch nicht, – er lebt, er wehrt sich ge­gen For­meln. Frei­lich be­stimmt der Zu­fall der Um­ge­bung, der Spra­che, der Vor­bil­dung einen ge­wis­sen Kreis von Be­grif­fen: das ers­te Chris­tent­hum hand­habt nur jü­disch-se­mi­ti­sche Be­grif­fe (– das Es­sen und Trin­ken beim Abend­mahl ge­hört da­hin, je­ner von der Kir­che, wie al­les Jü­di­sche, so schlimm miß­brauch­te Be­griff). Aber man hüte sich, dar­in mehr als eine Zei­chen­re­de, eine Se­mio­tik, eine Ge­le­gen­heit zu Gleich­nis­sen zu sehn. Gera­de, daß kein Wort wört­lich ge­nom­men wird, ist die­sem Anti-Rea­lis­ten die Vor­be­din­gung, um über­haupt re­den zu kön­nen. Un­ter In­dern wür­de er sich der Sânk­hyam-Be­grif­fe, un­ter Chi­ne­sen der des Laot­se be­dient ha­ben – und kei­nen Un­ter­schied da­bei füh­len. – Man könn­te, mit ei­ni­ger To­le­ranz im Aus­druck, Je­sus einen »frei­en Geist« nen­nen – er macht sich aus al­lem Fes­ten nichts: das Wort töd­tet, Al­les, was fest ist, töd­tet. Der Be­griff, die Er­fah­rung »Le­ben«, wie er sie al­lein kennt, wi­der­strebt bei ihm je­der Art Wort, For­mel, Ge­setz, Glau­be, Dog­ma. Er re­det bloß vom In­ners­ten: »Le­ben« oder »Wahr­heit« oder »Licht« ist sein Wort für das In­ners­te, – al­les Üb­ri­ge, die gan­ze Rea­li­tät, die gan­ze Na­tur, die Spra­che selbst, hat für ihn bloß den Werth ei­nes Zei­chens, ei­nes Gleich­nis­ses. – Man darf sich an die­ser Stel­le durch­aus nicht ver­grei­fen, so groß auch die Ver­füh­rung ist, wel­che im christ­li­chen, will sa­gen kirch­li­chen Vor­urt­heil liegt: ein sol­cher Sym­bo­list par ex­cel­lence steht au­ßer­halb al­ler Re­li­gi­on, al­ler Cult-Be­grif­fe, al­ler His­to­rie, al­ler Na­tur­wis­sen­schaft, al­ler Welt-Er­fah­rung, al­ler Kennt­nis­se, al­ler Po­li­tik, al­ler Psy­cho­lo­gie, al­ler Bü­cher, al­ler Kunst, – sein »Wis­sen« ist eben die rei­ne Thor­heit dar­über, daß es Et­was der­glei­chen giebt. Die Cul­tur ist ihm nicht ein­mal vom Hö­ren­sa­gen be­kannt, er hat kei­nen Kampf ge­gen sie nö­thig, – er ver­neint sie nicht… Das­sel­be gilt vom Staat, von der gan­zen bür­ger­li­chen Ord­nung und Ge­sell­schaft, von der Ar­beit, vom Krie­ge, – er hat nie einen Grund ge­habt, »die Welt« zu ver­nei­nen, er hat den kirch­li­chen Be­griff »Welt« nie ge­ahnt… Das Ver­nei­nen ist eben das ihm ganz Un­mög­li­che –. Ins­glei­chen fehlt die Dia­lek­tik, es fehlt die Vor­stel­lung da­von, daß ein Glau­be, eine »Wahr­heit« durch Grün­de be­wie­sen wer­den könn­te (– sei­ne Be­wei­se sind in­ne­re »Lich­ter«, in­ne­re Lust­ge­füh­le und Selbst­be­ja­hun­gen, lau­ter »Be­wei­se der Kraft« –). Eine sol­che Leh­re kann auch nicht wi­der­spre­chen: sie be­greift gar nicht, daß es and­re Leh­ren giebt, ge­ben kann, sie weiß sich ein ge­gent­hei­li­ges Urt­hei­len gar nicht vor­zu­stel­len… Wo sie es an­trifft, wird sie aus in­ners­tem Mit­ge­füh­le über »Blind­heit« trau­ern – denn sie sieht das »Licht« –, aber kei­nen Ein­wand ma­chen…

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33.

In der gan­zen Psy­cho­lo­gie des »Evan­ge­li­ums« fehlt der Be­griff Schuld und Stra­fe; ins­glei­chen der Be­griff Lohn. Die »Sün­de«, jed­we­des Di­stanz-Ver­hält­niß zwi­schen Gott und Mensch ist ab­ge­schafft, – eben das ist die »fro­he Bot­schaft«. Die Se­lig­keit wird nicht ver­hei­ßen, sie wird nicht an Be­din­gun­gen ge­knüpft: sie ist die ein­zi­ge Rea­li­tät – der Rest ist Zei­chen, um von ihr zu re­den…

Die Fol­ge ei­nes sol­chen Zu­stan­des pro­ji­cirt sich in eine neue Prak­tik, die ei­gent­lich evan­ge­li­sche Prak­tik. Nicht ein »Glau­be« un­ter­schei­det den Chris­ten: der Christ han­delt, er un­ter­schei­det sich durch ein andres Han­deln. Daß er Dem, der böse ge­gen ihn ist, we­der durch Wort, noch im Her­zen Wi­der­stand leis­tet. Daß er kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Frem­den und Ein­hei­mi­schen, zwi­schen Ju­den und Nicht-Ju­den macht (»der Nächs­te« ei­gent­lich der Glau­bens­ge­nos­se, der Jude). Daß er sich ge­gen Nie­man­den er­zürnt, Nie­man­den ge­ring­schätzt. Daß er sich bei Ge­richts­hö­fen we­der sehn läßt, noch in An­spruch neh­men läßt (»nicht schwö­ren«). Daß er sich un­ter kei­nen Um­stän­den, auch nicht im Fal­le be­wie­se­ner Un­treue des Wei­bes, von sei­nem Wei­be schei­det. – Al­les im Grun­de Ein Satz, Al­les Fol­gen Ei­nes In­stinkts. –

 

Das Le­ben des Er­lö­sers war nichts Andres als die­se Prak­tik, – sein Tod war auch nichts An­dres… Er hat­te kei­ne For­meln, kei­nen Ri­tus für den Ver­kehr mit Gott mehr nö­thig, – nicht ein­mal das Ge­bet. Er hat mit der gan­zen jü­di­schen Buß- und Ver­söh­nungs-Leh­re ab­ge­rech­net; er weiß, wie es al­lein die Prak­tik des Le­bens ist, mit der man sich »gött­lich«, »se­lig«, »evan­ge­lisch«, je­der­zeit ein »Kind Got­tes« fühlt. Nicht »Buße«, nicht »Ge­bet um Ver­ge­bung« sind Wege zu Gott: die evan­ge­li­sche Prak­tik al­lein führt zu Gott, sie eben ist »Gott«! – Was mit dem Evan­ge­li­um ab­ge­than war, das war das Ju­dent­hum der Be­grif­fe »Sün­de«, »Ver­ge­bung der Sün­de«, »Glau­be«, »Er­lö­sung durch den Glau­ben«, – die gan­ze jü­di­sche Kir­chen-Leh­re war in der »fro­hen Bot­schaft« ver­neint.

Der tie­fe In­stinkt da­für, wie man le­ben müs­se, um sich »im Him­mel« zu füh­len, um sich »ewig« zu füh­len, wäh­rend man sich bei je­dem an­dern Ver­hal­ten durch­aus nicht »im Him­mel« fühlt: dies al­lein ist die psy­cho­lo­gi­sche Rea­li­tät der »Er­lö­sung«. – Ein neu­er Wan­del, nicht ein neu­er Glau­be…

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34.

Wenn ich ir­gend Et­was von die­sem großen Sym­bo­lis­ten ver­ste­he, so ist es Das, daß er nur in­ne­re Rea­li­tä­ten als Rea­li­tä­ten, als »Wahr­hei­ten« nahm, – daß er den Rest, al­les Na­tür­li­che, Zeit­li­che, Räum­li­che, His­to­ri­sche nur als Zei­chen, als Ge­le­gen­heit zu Gleich­nis­sen ver­stand. Der Be­griff »des Men­schen Sohn« ist nicht eine con­cre­te Per­son, die in die Ge­schich­te ge­hört, ir­gend et­was Ein­zel­nes, Ein­ma­li­ges, son­dern eine »ewi­ge« That­säch­lich­keit, ein von dem Zeit­be­griff er­lös­tes psy­cho­lo­gi­sches Sym­bol. Das­sel­be gilt noch ein­mal, und im höchs­ten Sin­ne, von dem Gott die­ses ty­pi­schen Sym­bo­lis­ten, vom »Reich Got­tes«, vom »Him­mel­reich«, von der »Kind­schaft Got­tes«. Nichts ist un­christ­li­cher als die kirch­li­chen Cru­di­tä­ten von ei­nem Gott als Per­son, von ei­nem »Reich Got­tes«, wel­ches kommt, von ei­nem »Him­mel­reich« jen­seits, von ei­nem »Soh­ne Got­tes«, der zwei­ten Per­son der Tri­ni­tät. Dies Al­les ist – man ver­ge­be mir den Aus­druck – die Faust auf dem Auge – oh auf was für ei­nem Auge! – des Evan­ge­li­ums: ein wel­this­to­ri­scher Cy­nis­mus in der Ver­höh­nung des Sym­bol­s… Aber es liegt ja auf der Hand, was mit dem Zei­chen »Va­ter« und »Sohn« an­ge­rührt wird – nicht auf je­der Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort »Sohn« ist der Ein­tritt in das Ge­sammt-Ver­klä­rungs-Ge­fühl al­ler Din­ge (die Se­lig­keit) aus­ge­drückt, mit dem Wort »Va­ter« die­ses Ge­fühl selbst, das Ewig­keits-, das Vollen­dungs-Ge­fühl. – Ich schä­me mich dar­an zu er­in­nern, was die Kir­che aus die­sem Sym­bo­lis­mus ge­macht hat: hat sie nicht eine Am­phi­try­on-Ge­schich­te an die Schwel­le des christ­li­chen »Glau­bens« ge­setzt? Und ein Dog­ma von der »un­be­fleck­ten Emp­fäng­niß« noch oben­drein?… Aber da­mit hat sie die Emp­fäng­niß be­fleckt – –

Das »Him­mel­reich« ist ein Zu­stand des Her­zens, – nicht Et­was, das »über der Erde« oder »nach dem Tode« kommt. Der gan­ze Be­griff des na­tür­li­chen To­des fehlt im Evan­ge­li­um: der Tod ist kei­ne Brücke, kein Über­gang, er fehlt, weil ei­ner ganz an­dern, bloß schein­ba­ren, bloß zu Zei­chen nütz­li­chen Welt zu­ge­hö­rig. Die »To­des­stun­de« ist kein christ­li­cher Be­griff, – die »Stun­de«, die Zeit, das phy­si­sche Le­ben und sei­ne Kri­sen sind gar nicht vor­han­den für den Leh­rer der »fro­hen Bot­schaft«… Das »Reich Got­tes« ist nichts, das man er­war­tet; es hat kein Ges­tern und kein Über­mor­gen, es kommt nicht in »tau­send Jah­ren«, – es ist eine Er­fah­rung an ei­nem Her­zen; es ist über­all da, es ist nir­gends da…

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35.

Die­ser »fro­he Bot­schaf­ter« starb wie er leb­te, wie er lehr­te – nicht um »die Men­schen zu er­lö­sen«, son­dern um zu zei­gen, wie man zu le­ben hat. Die Prak­tik ist es, wel­che er der Mensch­heit hin­ter­ließ: sein Ver­hal­ten vor den Rich­tern, vor den Hä­schern, vor den An­klä­gern und al­ler Art Ver­leum­dung und Hohn, – sein Ver­hal­ten am Kreuz. Er wi­der­steht nicht, er vert­hei­digt nicht sein Recht, er thut kei­nen Schritt, der das Äu­ßers­te von ihm ab­wehrt, mehr noch, er for­dert es her­aus… Und er bit­tet, er lei­det, er liebt mit De­nen, in De­nen, die ihm Bö­ses thun… Nicht sich weh­ren, nicht zür­nen, nicht ver­ant­wort­lich-ma­chen … Son­dern auch nicht dem Bö­sen wi­der­ste­hen, – ihn lie­ben…

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36.

– Erst wir, wir frei­ge­wor­de­nen Geis­ter, ha­ben die Voraus­set­zung da­für, Et­was zu ver­stehn, das neun­zehn Jahr­hun­der­te miß­ver­stan­den ha­ben, – jene In­stinkt und Lei­den­schaft ge­wor­de­ne Recht­schaf­fen­heit, wel­che der »hei­li­gen Lüge« noch mehr als je­der an­dern Lüge den Krieg macht… Man war un­säg­lich ent­fernt von uns­rer lie­be­vol­len und vor­sich­ti­gen Neu­tra­li­tät, von je­ner Zucht des Geis­tes, mit der al­lein das Er­rat­hen so frem­der, so zar­ter Din­ge er­mög­licht wird: man woll­te je­der­zeit, mit ei­ner un­ver­schäm­ten Selbst­sucht, nur sei­nen Vort­heil dar­in, man hat aus dem Ge­gen­satz zum Evan­ge­li­um die Kir­che auf­ge­baut…

Wer nach Zei­chen da­für such­te, daß hin­ter dem großen Wel­ten-Spiel eine iro­ni­sche Gött­lich­keit die Fin­ger hand­ha­be, er fän­de kei­nen klei­nen An­halt in dem un­ge­heu­ren Fra­ge­zei­chen, das Chris­ten­tum heißt. Daß die Mensch­heit vor dem Ge­gen­satz Des­sen auf den Kni­en liegt, was der Ur­sprung, der Sinn, das Recht des Evan­ge­li­ums war, daß sie in dem Be­griff »Kir­che« ge­ra­de Das hei­lig ge­spro­chen hat, was der »fro­he Bot­schaf­ter« als un­ter sich, als hin­ter sich emp­fand – man sucht ver­ge­bens nach ei­ner grö­ße­ren Form wel­this­to­ri­scher Iro­nie – –

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37.

– Un­ser Zeit­al­ter ist stolz auf sei­nen his­to­ri­schen Sinn: wie hat es sich den Un­sinn glaub­lich ma­chen kön­nen, daß an dem An­fan­ge des Chris­ten­tums die gro­be Wun­dert­hä­ter- und Er­lö­ser-Fa­bel steht, – und daß al­les Spi­ri­tua­le und Sym­bo­li­sche erst eine spä­te­re Ent­wick­lung ist? Um­ge­kehrt: die Ge­schich­te des Chris­ten­tums – und zwar vom Tode am Kreu­ze an – ist die Ge­schich­te des schritt­wei­se im­mer grö­be­ren Miß­ver­stehns ei­nes ur­sprüng­li­chen Sym­bo­lis­mus. Mit je­der Aus­brei­tung des Chris­ten­tums über noch brei­te­re, noch ro­he­re Mas­sen, de­nen die Voraus­set­zun­gen im­mer mehr ab­gien­gen, aus de­nen es ge­bo­ren ist, wur­de es nö­thi­ger, das Chris­ten­tum zu vul­ga­ri­si­ren, zu bar­ba­ri­si­ren, – es hat Leh­ren und Ri­ten al­ler un­ter­ir­di­schen Cul­te des im­pe­ri­um Ro­ma­num, es hat den Un­sinn al­ler Ar­ten kran­ker Ver­nunft in sich ein­ge­schluckt. Das Schick­sal des Chris­tent­hums liegt in der No­thwen­dig­keit, daß sein Glau­be selbst so krank, so nied­rig und vul­gär wer­den muß­te, als die Be­dürf­nis­se krank, nied­rig und vul­gär wa­ren, die mit ihm be­frie­digt wer­den soll­ten. Als Kir­che sum­mirt sich end­lich die kran­ke Bar­ba­rei selbst zur Macht, – die Kir­che, die­se Tod­feind­schafts­form zu je­der Recht­schaf­fen­heit, zu je­der Höhe der See­le, zu je­der Zucht des Geis­tes, zu je­der frei­müthi­gen und gü­ti­gen Men­sch­lich­keit. – Die christ­li­chen – die vor­neh­men Wert­he: erst wir, wir frei­ge­w­ord­nen Geis­ter, ha­ben die­sen größ­ten Werth-Ge­gen­satz, den es giebt, wie­der­her­ge­stellt! – –