Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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47.

– Das ist es nicht, was uns ab­schei­det, daß wir kei­nen Gott wie­der­fin­den, we­der in der Ge­schich­te, noch in der Na­tur, noch hin­ter der Na­tur, – son­dern daß wir, was als Gott ver­ehrt wur­de, nicht als »gött­lich«, son­dern als er­bar­mungs­wür­dig, als ab­surd, als schäd­lich emp­fin­den, nicht nur als Irr­thum, son­dern als Ver­bre­chen am Le­ben … Wir leug­nen Gott als Got­t… Wenn man uns die­sen Gott der Chris­ten be­wie­se, wir wür­den ihn noch we­ni­ger zu glau­ben wis­sen. – In For­mel: de­us, qua­lem Pau­lus crea­vit, dei ne­ga­tio. – Eine Re­li­gi­on, wie das Chris­tent­hum, die sich an kei­nem Punk­te mit der Wirk­lich­keit be­rührt, die so­fort da­hin­fällt, so­bald die Wirk­lich­keit auch nur an Ei­nem Punk­te zu Rech­te kommt, muß bil­li­ger­wei­se der »Weis­heit der Welt«, will sa­gen der Wis­sen­schaft, tod­feind sein, – sie wird alle Mit­tel gut hei­ßen, mit de­nen die Zucht des Geis­tes, die Lau­ter­keit und Stren­ge in Ge­wis­sens­sa­chen des Geis­tes, die vor­neh­me Küh­le und Frei­heit des Geis­tes ver­gif­tet, ver­leum­det, ver­ru­fen ge­macht wer­den kann. Der »Glau­be« als Im­pe­ra­tiv ist das Veto ge­gen die Wis­sen­schaft, – in pra­xi die Lüge um je­den Preis … Pau­lus be­griff, daß die Lüge – daß »der Glau­be« noth that; die Kir­che be­griff spä­ter wie­der Pau­lus. – Je­ner »Gott«, den Pau­lus sich er­fand, ein Gott, der »die Weis­heit der Welt« (im en­gern Sinn die bei­den großen Geg­ne­rin­nen al­les Aber­glau­bens, Phi­lo­lo­gie und Me­di­cin) »zu Schan­den macht«, ist in Wahr­heit nur der re­so­lu­te Ent­schluß des Pau­lus selbst dazu: »Gott« sei­nen eig­nen Wil­len zu nen­nen, tho­ra, das ist ur­jü­disch. Pau­lus will »die Weis­heit der Welt« zu Schan­den ma­chen: sei­ne Fein­de sind die gu­ten Phi­lo­lo­gen und Ärz­te alex­an­dri­ni­scher Schu­lung –, ih­nen macht er den Krieg. In der That, man ist nicht Phi­lo­log und Arzt, ohne nicht zu­gleich auch An­ti­christ zu sein. Als Phi­lo­log schaut man näm­lich hin­ter die »hei­li­gen Bü­cher«, als Arzt hin­ter die phy­sio­lo­gi­sche Ver­kom­men­heit des ty­pi­schen Chris­ten. Der Arzt sagt »un­heil­bar«, der Phi­lo­log »Schwin­del« …

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48.

– Hat man ei­gent­lich die be­rühm­te Ge­schich­te ver­stan­den, die am An­fang der Bi­bel steht, – von der Höl­len­angst Got­tes vor der Wis­sen­schaft? … Man hat sie nicht ver­stan­den. Dies Pries­ter­buch par ex­cel­lence be­ginnt, wie bil­lig, mit der großen in­ne­ren Schwie­rig­keit des Pries­ters: er hat nur Eine große Ge­fahr, folg­lich hat »Gott« nur Eine große Ge­fahr. –

Der alte Gott, ganz »Geist«, ganz Ho­her­pries­ter, ganz Voll­kom­men­heit, lust­wan­delt in sei­nen Gär­ten: nur daß er sich lang­weilt. Ge­gen die Lan­ge­wei­le kämp­fen Göt­ter selbst ver­ge­bens. Was thut er? Er er­fin­det den Men­schen, – der Mensch ist un­ter­hal­tend … Aber sie­he da, auch der Mensch lang­weilt sich. Das Er­bar­men Got­tes mit der ein­zi­gen Noth, die alle Pa­ra­die­se an sich ha­ben, kennt kei­ne Gren­zen: er schuf als­bald noch and­re Thie­re. Ers­ter Fehl­griff Got­tes: der Mensch fand die Thie­re nicht un­ter­hal­tend, – er herrsch­te über sie, er woll­te nicht ein­mal »Thier« sein. – Folg­lich schuf Gott das Weib. Und in der That, mit der Lan­gen­wei­le hat­te es nun ein Ende, – aber auch mit An­de­rem noch! Das Weib war der zwei­te Fehl­griff Got­tes. – »Das Weib ist sei­nem We­sen nach Schlan­ge, Heva« – das weiß je­der Pries­ter; »vom Weib kommt je­des Un­heil in der Welt« – das weiß eben­falls je­der Pries­ter. » Folg­lich kommt von ihm auch die Wis­sen­schaft« … Erst durch das Weib lern­te der Mensch vom Bau­me der Er­kennt­niß kos­ten. – Was war ge­schehn? Den al­ten Gott er­griff eine Höl­len­angst. Der Mensch selbst war sein größ­ter Fehl­griff ge­wor­den, er hat­te sich einen Ri­va­len ge­schaf­fen, die Wis­sen­schaft macht gott­gleich, – es ist mit Pries­tern und Göt­tern zu Ende, wenn der Mensch wis­sen­schaft­lich wird! – Moral: die Wis­sen­schaft ist das Ver­bo­te­ne an sich, – sie al­lein ist ver­bo­ten. Die Wis­sen­schaft ist die ers­te Sün­de, der Keim al­ler Sün­de, die Erb­sün­de. Dies al­lein ist Moral. – »Du sollst nicht er­ken­nen«: – der Rest folgt dar­aus. – Die Höl­len­angst Got­tes ver­hin­der­te ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich ge­gen die Wis­sen­schaft? das wur­de für lan­ge sein Haupt­pro­blem. Ant­wort: fort mit dem Men­schen aus dem Pa­ra­die­se! Das Glück, der Mü­ßig­gang bringt auf Ge­dan­ken, – alle Ge­dan­ken sind schlech­te Ge­dan­ken… Der Mensch soll nicht den­ken. – Und der »Pries­ter an sich« er­fin­det die Noth, den Tod, die Le­bens­ge­fahr der Schwan­ger­schaft, jede Art von Elend, Al­ter, Müh­sal, die Krank­heit vor Al­lem, – lau­ter Mit­tel im Kamp­fe mit der Wis­sen­schaft! Die Noth er­laubt dem Men­schen nicht, zu den­ken … Und trotz­dem! ent­setz­lich! Das Werk der Er­kennt­niß thürmt sich auf, him­mel­stür­mend, göt­te­ran­däm­mernd, – was thun! – Der alte Gott er­fin­det den Krieg, er trennt die Völ­ker, er macht, daß die Men­schen sich ge­gen­sei­tig ver­nich­ten (– die Pries­ter ha­ben im­mer den Krieg nö­thig ge­hab­t…). Der Krieg – un­ter An­de­rem ein großer Stö­ren­fried der Wis­sen­schaft! – Un­glaub­lich! Die Er­kennt­niß, die Eman­ci­pa­ti­on vom Pries­ter, nimmt selbst trotz Krie­gen zu. – Und ein letz­ter Ent­schluß kommt dem al­ten Got­te: »der Mensch ward wis­sen­schaft­lich, – es hilft Nichts, man muß ihn er­säu­fen!« …

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48.

– Man hat mich ver­stan­den. Der An­fang der Bi­bel ent­halt die gan­ze Psy­cho­lo­gie des Pries­ters. – Der Pries­ter kennt nur Eine große Ge­fahr: das ist die Wis­sen­schaft, – der ge­sun­de Be­griff von Ur­sa­che und Wir­kung. Aber die Wis­sen­schaft ge­deiht im Gan­zen nur un­ter glück­li­chen Ver­hält­nis­sen, – man muß Zeit, man muß Geist über­flüs­sig ha­ben, um zu »er­ken­nen« … » Folg­lich muß man den Men­schen un­glück­lich ma­chen«, – dies war zu je­der Zeit die Lo­gik des Pries­ters. – Man er­räth be­reits, was, die­ser Lo­gik ge­mäß, da­mit erst in die Welt ge­kom­men ist: – die » Sün­de«… Der Schuld- und Straf­be­griff, die gan­ze »sitt­li­che Wel­t­ord­nung« ist er­fun­den ge­gen die Wis­sen­schaft, – ge­gen die Ab­lö­sung des Men­schen vom Pries­ter … Der Mensch soll nicht hin­aus«, er soll in sich hin­ein­sehn; er soll nicht klug und vor­sich­tig, als Ler­nen­der, in die Din­ge sehn, er soll über­haupt gar nicht sehn: er soll lei­den … Und er soll so lei­den, daß er je­der­zeit den Pries­ter nö­thig hat. – Weg mit den Ärz­ten! Man hat einen Hei­land nö­thig. – Der Schuld« und Straf-Be­griff, ein­ge­rech­net die Leh­re von der »Gna­de«, von der »Er­lö­sung«, von der »Ver­ge­bung« – Lü­gen durch und durch und ohne jede psy­cho­lo­gi­sche Rea­li­tät – sind er­fun­den, um den Ur­sa­chen-Sinn des Men­schen zu zer­stö­ren: sie sind das At­ten­tat ge­gen den Be­griff Ur­sa­che und Wir­kung! – Und nicht ein At­ten­tat mit der Faust, mit dem Mes­ser, mit der Ehr­lich­keit in Haß und Lie­be! Son­dern aus den feigs­ten, lis­tigs­ten, nied­rigs­ten In­stink­ten her­aus! Ein Pries­ter-At­ten­tat! Ein Pa­ra­si­ten-At­ten­tat! Ein Vam­py­ris­mus blei­cher un­ter­ir­di­scher Blut­sau­ger! … Wenn die na­tür­li­chen Fol­gen ei­ner That nicht mehr »na­tür­lich« sind, son­dern durch Be­griffs– Ge­s­pens­ter des Aber­glau­bens, durch »Gott«, durch »Geis­ter«, durch »See­len« be­wirkt ge­dacht wer­den, als bloß »mo­ra­li­sche« Con­se­quen­zen, als Lohn, Stra­fe, Wink, Er­zie­hungs­mit­tel, so ist die Voraus­set­zung zur Er­kennt­nis; zer­stört, – so hat man das größ­te Ver­bre­chen an der Mensch­heit be­gan­gen. – Die Sün­de, noch­mals ge­sagt, die­se Selbst­schän­dungs-Form des Men­schen par ex­cel­lence, ist er­fun­den, um Wis­sen­schaft, um Cul­tur, um jede Er­hö­hung und Vor­nehm­heit des Men­schen un­mög­lich zu ma­chen; der Pries­ter herrscht durch die Er­fin­dung der Sün­de. –

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50.

– Ich er­las­se mir an die­ser Stel­le eine Psy­cho­lo­gie des »Glau­bens«, der »Gläu­bi­gen« nicht, zum Nut­zen, wie bil­lig, ge­ra­de der »Gläu­bi­gen«. Wenn es heu­te noch an Sol­chen nicht fehlt, die es nicht wis­sen, in­wie­fern es un­an­stän­dig ist, »gläu­big« zu sein – oder ein Ab­zei­chen von dé­ca­dence, von ge­broch­nem Wil­len zum Le­ben –, mor­gen schon wer­den sie es wis­sen. Mei­ne Stim­me er­reicht auch die Hart­hö­ri­gen, – Es scheint, wenn an­ders ich mich nicht ver­hört habe, daß es un­ter Chris­ten eine Art Kri­te­ri­um der Wahr­heit giebt, das man den »Be­weis der Kraft« nennt. »Der Glau­be macht se­lig: also ist er wahr.« – Man dürf­te hier zu­nächst ein­wen­den, daß ge­ra­de das Se­lig­ma­chen nicht be­wie­sen, son­dern nur ver­spro­chen ist: die Se­lig­keit an die Be­din­gung des »Glau­bens« ge­knüpft, – man soll se­lig wer­den, weil man glaubt … Aber daß that­säch­lich ein­tritt, was der Pries­ter dem Gläu­bi­gen für das je­der Con­tro­le un­zu­gäng­li­che »Jen­seits« ver­spricht, wo­mit be­wie­se sich das? – Der an­geb­li­che »Be­weis der Kraft« ist also im Grun­de wie­der nur ein Glau­be dar­an, daß die Wir­kung nicht aus­bleibt, wel­che man sich vom Glau­ben ver­spricht. In For­mel: »ich glau­be, daß der Glau­be se­lig macht; – folg­lich ist er wahr.« – Aber da­mit sind wir schon am Ende. Dies »folg­lich« wäre das ab­sur­dum selbst als Kri­te­ri­um der Wahr­heit. – Set­zen wir aber, mit ei­ni­ger Nach­gie­big­keit, daß das Se­lig­ma­chen durch den Glau­ben be­wie­sen sei (– nicht nur ge­wünscht, nicht nur durch den et­was ver­däch­ti­gen Mund ei­nes Pries­ters ver­spro­chen): wäre Se­lig­keit – tech­ni­scher ge­re­det, Lust – je­mals ein Be­weis der Wahr­heit? So we­nig, daß es bei­na­he den Ge­gen­be­weis, je­den­falls den höchs­ten Arg­wohn ge­gen »Wahr­heit« ab­giebt, wenn Lu­st­emp­fin­dun­gen über die Fra­ge »was ist wahr?« mit­re­den. Der Be­weis der »Lust« ist ein Be­weis für »Lust«, – nichts mehr; wo­her um Al­les in der Welt stün­de es fest, daß ge­ra­de wah­re Urt­hei­le mehr Ver­gnü­gen mach­ten als falsche und, ge­mäß ei­ner prä­sta­bi­lir­ten Har­mo­nie, an­ge­neh­me Ge­füh­le mit Not­wen­dig­keit hin­ter sich drein zö­gen? – Die Er­fah­rung al­ler stren­gen, al­ler tief ge­ar­te­ten Geis­ter lehrt das Um­ge­kehr­te. Man hat je­den Schritt breit Wahr­heit sich ab­rin­gen müs­sen, man hat fast Al­les da­ge­gen preis­ge­ben müs­sen, wor­an sonst da? Herz, wor­an uns­re Lie­be, un­ser Ver­trau­en zum Le­ben hängt. Es be­darf Grö­ße der See­le dazu: der Dienst der Wahr­heit ist der här­tes­te Dienst. – Was heißt denn recht­schaf­fen sein in geis­ti­gen Din­gen? Daß man streng ge­gen sein Herz ist, daß man die »schö­nen Ge­füh­le« ver­ach­tet, daß man sich aus je­dem Ja und Nein ein Ge­wis­sen macht! – – – Der Glau­be macht se­lig: folg­lich lügt er …

 

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51.

Daß der Glau­be un­ter Um­stän­den se­lig macht, daß Se­lig­keit aus ei­ner fi­xen Idee noch nicht eine wah­re Idee macht, daß der Glau­be kei­ne Ber­ge ver­setzt, wohl aber Ber­ge hin­setzt, wo es kei­ne giebt: ein flüch­ti­ger Gang durch ein Ir­ren­haus klärt zur Ge­nü­ge dar­über auf. Nicht frei­lich einen Pries­ter: denn der leug­net aus In­stinkt, daß Krank­heit Krank­heit, daß Ir­ren­haus Ir­ren­haus ist. Das Chris­tent­hum hat die Krank­heit nö­thig, un­ge­fähr wie das Grie­chent­hum einen Über­schuß von Ge­sund­heit nö­thig hat, – krank- ma­chen ist die ei­gent­li­che Hin­ter­ab­sicht des gan­zen Heil­spro­ce­du­ren-Sys­tems der Kir­che. Und die Kir­che selbst – ist sie nicht das ka­tho­li­sche Ir­ren­haus als letz­tes Ide­al? – Die Erde über­haupt als Ir­ren­haus? – Der re­li­gi­öse Mensch, wie ihn die Kir­che will, ist ein ty­pi­scher dé­ca­dent; der Zeit­punkt, wo eine re­li­gi­öse Kri­sis über ein Volk Herr wird, ist je­des­mal durch Ner­ven-Epi­de­mi­en ge­kenn­zeich­net; die »in­ne­re Welt« des re­li­gi­ösen Men­schen sieht der »in­ne­ren Welt« der Über­reiz­ten und Er­schöpf­ten zum Ver­wech­seln ähn­lich; die »höchs­ten« Zu­stän­de, wel­che das Chris­tent­hum als Werth al­ler Wert­he über der Mensch­heit auf­ge­hängt hat, sind epi­lep­toi­de For­men, – die Kir­che hat nur Ver­rück­te oder große Be­trü­ger in ma­jo­rem dei ho­no­rem hei­lig ge­spro­chen… Ich habe mir ein­mal er­laubt, den gan­zen christ­li­chen Buß- und Er­lö­sungs- trai­ning (den man heu­te am bes­ten in Eng­land stu­dirt) als eine me­tho­disch er­zeug­te fo­lie cir­cu­lai­re zu be­zeich­nen, wie bil­lig, auf ei­nem be­reits dazu vor­be­rei­te­ten, das heißt gründ­lich mor­bi­den Bo­den. Es steht Nie­man­dem frei, Christ zu wer­den: man wird zum Chris­tent­hum nicht »be­kehrt«, – man muß krank ge­nug dazu sein … Wir An­de­ren, die wir den Muth zur Ge­sund­heit und auch zur Ver­ach­tung ha­ben, wie dür­fen wir eine Re­li­gi­on ver­ach­ten, die den Leib miß­ver­ste­hen lehr­te! die den See­len–A­ber­glau­ben nicht los­wer­den will! die aus der un­zu­rei­chen­den Er­näh­rung ein »Ver­dienst« macht! die in der Ge­sund­heit eine Art Feind, Teu­fel, Ver­su­chung be­kämpft! die sich ein­re­de­te, man kön­ne eine »voll­komm­ne See­le« in ei­nem Ca­da­ver von Leib her­um­tra­gen, und dazu nö­thig hat­te, einen neu­en Be­griff der »Voll­kom­men­heit« sich zu­recht zu ma­chen, ein blei­ches, krank­haf­tes, idio­tisch-schwär­me­ri­sches We­sen, die so­ge­nann­te »Hei­lig­keit«, – Hei­lig­keit, selbst bloß eine Sym­pto­men-Rei­he des ver­arm­ten, ent­nerv­ten, un­heil­bar ver­dor­be­nen Lei­bes! … Die christ­li­che Be­we­gung, als eine eu­ro­päi­sche Be­we­gung, ist von vorn­her­ein eine Ge­sammt-Be­we­gung der Aus­schuß- und Ab­falls-Ele­men­te al­ler Art (– die­se wol­len mit dem Chris­tent­hum zur Macht). Sie drückt nicht den Nie­der­gang ei­ner Ras­se aus, sie ist eine Ag­gre­gat-Bil­dung sich zu­sam­mendrän­gen­der und sich su­chen­der dé­ca­dence-For­men von Über­all. Es ist nicht, wie man glaubt, die Kor­rup­ti­on des Al­ter­thums selbst, des vor­neh­men Al­ter­thums, was das Chris­tent­hum er­mög­lich­te: man kann dem ge­lehr­ten Idio­tis­mus, der auch heu­te noch so Et­was auf­recht er­hält, nicht hart ge­nug wi­der­spre­chen. In der Zeit, wo die kran­ken, ver­dor­be­nen Tschan­da­la-Schich­ten im gan­zen Im­pe­ri­um sich chris­tia­ni­sir­ten, war ge­ra­de der Ge­gen­ty­pus, die Vor­nehm­heit, in ih­rer schöns­ten und reifs­ten Ge­stalt vor­han­den. Die große Zahl wur­de Herr; der De­mo­kra­tis­mus der christ­li­chen In­stink­te sieg­te … Das Chris­tent­hum war nicht »na­tio­nal«, nicht ras­se­be­dingt, – es wen­de­te sich an jede Art von Ent­erb­ten des Le­bens, es hat­te sei­ne Ver­bün­de­ten über­all. Das Chris­tent­hum hat die Ran­cu­ne der Kran­ken auf dem Grun­de, den In­stinkt ge­gen die Ge­sun­den, ge­gen die Ge­sund­heit ge­rich­tet. Al­les Wohl­ge­rat­he­ne, Stol­ze, Über­müthi­ge, die Schön­heit vor Al­lem thut ihm in Ohren und Au­gen weh. Noch­mals er­inn­re ich an das un­schätz­ba­re Wort des Pau­lus: »Was schwach ist vor der Welt, was thö­richt ist vor der Welt, das Uned­le und Ver­ach­te­te vor der Welt hat Gott er­wäh­let«: das war die For­mel, in hoc si­gno sieg­te die dé­ca­dence. – Gott am Kreu­ze – ver­steht man im­mer noch die furcht­ba­re Hin­ter­ge­dank­lich­keit die­ses Sym­bols nicht? – Al­les was lei­det, Al­les was am Kreu­ze hängt, ist gött­lich … Wir Alle hän­gen am Kreu­ze, folg­lich sind wir gött­lich … Wir al­lein sind gött­lich … Das Chris­tent­hum war ein Sieg, eine vor­neh­me­re Ge­sin­nung gieng an ihm zu Grun­de,– das Chris­tent­hum war bis­her das größ­te Un­glück der Mensch­heit. – –

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52.

Das Chris­tent­hum steht auch im Ge­gen­satz zu al­ler geis­ti­gen Wohl­ge­rat­hen­heit, – es kann nur die kran­ke Ver­nunft als christ­li­che Ver­nunft brau­chen, es nimmt die Par­tei al­les Idio­ti­schen, es spricht den Fluch aus ge­gen den »Geist«, ge­gen die su­per­bia­des ge­sun­den Geis­tes. Weil die Krank­heit zum We­sen des Chris­tent­hums ge­hört, muß auch der ty­pisch-christ­li­che Zu­stand, »der Glau­be«, eine Krank­heits­form sein, müs­sen alle ge­ra­den, recht­schaff­nen, wis­sen­schaft­li­chen Wege zur Er­kennt­nis von der Kir­che als ver­bo­te­ne Wege ab­ge­lehnt wer­den. Der Zwei­fel be­reits ist eine Sün­de … Der voll­komm­ne Man­gel an psy­cho­lo­gi­scher Rein­lich­keit beim Pries­ter – im Blick sich ver­rat­hend – ist eine Fol­ge­er­schei­nung der dé­ca­dence– man hat die hys­te­ri­schen Frau­en­zim­mer, and­rer­seits rha­chi­tisch an­ge­leg­te Kin­der dar­auf hin zu be­ob­ach­ten, wie re­gel­mä­ßig Falsch­heit aus In­stinkt, Lust zu lü­gen, um zu lü­gen, Un­fä­hig­keit zu ge­ra­den Bli­cken und Schrit­ten der Aus­druck von dé­ca­dence ist. »Glau­be« heißt Nicht-wis­sen- wol­len, was wahr ist. Der Pie­tist, der Pries­ter bei­der­lei Ge­schlechts, ist falsch, weil er krank ist: sein In­stinkt ver­langt, daß die Wahr­heit an kei­nem Punkt zu Rech­te kommt. »Was krank macht, ist gut; was aus der Fül­le, aus dem Über­fluß, aus der Macht kommt, ist böse«: so emp­fin­det der Gläu­bi­ge. Die Un­frei­heit zur Lüge – dar­an er­rat­he ich je­den vor­her­be­stimm­ten Theo­lo­gen. – Ein andres Ab­zei­chen des Theo­lo­gen ist sein Un­ver­mö­gen zur Phi­lo­lo­gie. Un­ter Phi­lo­lo­gie soll hier, in ei­nem sehr all­ge­mei­nen Sin­ne, die Kunst, gut zu le­sen, ver­stan­den wer­den, – That­sa­chen ab­le­sen kön­nen, ohne sie durch In­ter­pre­ta­ti­on zu fäl­schen, ohne im Ver­lan­gen nach Ver­ständ­niß die Vor­sicht, die Ge­duld, die Fein­heit zu ver­lie­ren. Phi­lo­lo­gie als Ephe­xis in der In­ter­pre­ta­ti­on: hand­le es sich nun um Bü­cher, um Zei­tungs-Neu­ig­kei­ten, um Schick­sa­le oder Wet­ter-That­sa­chen, – nicht zu re­den vom »Heil der See­le« … Die Art, wie ein Theo­log, gleich­gül­tig ob in Ber­lin oder in Rom, ein »Schrift­wort« aus­legt oder ein Er­leb­niß, einen Sieg des va­ter­län­di­schen Heers zum Bei­spiel un­ter der hö­he­ren Be­leuch­tung der Psal­men Da­vi­d’s, ist im­mer der­ge­stalt kühn, daß ein Phi­lo­log da­bei an al­len Wän­den em­por­läuft. Und was soll er gar an­fan­gen, wenn Pie­tis­ten und and­re Kühe aus dem Schwa­ben­lan­de den arm­se­li­gen All­tag und Stu­ben­rauch ih­res Da­seins mit dem »Fin­ger Got­tes« zu ei­nem Wun­der von »Gna­de«, von »Vor­se­hung«, von »Heil­ser­fah­run­gen« zu­recht ma­chen! Der be­schei­dens­te Auf­wand von Geist, um nicht zu sa­gen von An­stand, muß­te die­se In­ter­pre­ten doch dazu brin­gen, sich des voll­kom­men Kin­di­schen und Un­wür­di­gen ei­nes sol­chen Miß­brauchs der gött­li­chen Fin­ger­fer­tig­keit zu über­füh­ren. Mit ei­nem noch so klei­nen Maa­ße von Fröm­mig­keit im Lei­be soll­te uns ein Gott, der zur rech­ten Zeit vom Schnup­fen cur­irt, oder der uns in ei­nem Au­gen­blick in die Kut­sche stei­gen heißt, wo ge­ra­de ein großer Re­gen los­bricht, ein so ab­sur­der Gott sein, daß man ihn ab­schaf­fen müß­te, selbst wenn er existir­te. Ein Gott als Dienst­bo­te, als Brief­trä­ger, als Ka­len­der­mann, – im Grun­de ein Wort für die dümms­te Art al­ler Zu­fäl­le … Die »gött­li­che Vor­se­hung«, wie sie heu­te noch un­ge­fähr je­der drit­te Mensch im »ge­bil­de­ten Deutsch­land« glaubt, wäre ein Ein­wand ge­gen Gott, wie er stär­ker gar nicht ge­dacht wer­den konn­te. Und in je­dem Fall ist er ein Ein­wand ge­gen Deut­sche! …

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53.

– Daß Mär­ty­rer Et­was für die Wahr­heit ei­ner Sa­che be­wei­sen, ist so we­nig wahr, daß ich leug­nen möch­te, es habe je ein Mär­ty­rer über­haupt Et­was mit der Wahr­heit zu thun ge­habt. In dem Tone, mit dem ein Mär­ty­rer sein Für-wahr-hal­ten der Welt an den Kopf wirft, drückt sich be­reits ein so nied­ri­ger Grad in­tel­lek­tu­el­ler Recht­schaf­fen­heit, eine sol­che Stumpf­heit für die Fra­ge »Wahr­heit« aus, daß man einen Mär­ty­rer nie zu wi­der­le­gen braucht. Die Wahr­heit ist Nichts, was Ei­ner hät­te und ein And­rer nicht hät­te: so kön­nen höchs­tens Bau­ern oder Bau­ern-Apos­tel nach Art Luther’s über die Wahr­heit den­ken. Man darf si­cher sein, daß je nach dem Gra­de der Ge­wis­sen­haf­tig­keit in Din­gen des Geis­tes die Be­schei­den­heit, die Be­schei­dung in die­sem Punk­te im­mer grö­ßer wird. In fünf Sa­chen wis­sen, und mit zar­ter Hand es ab­leh­nen, sonst zu wis­sen … »Wahr­heit«, wie das Wort je­der Pro­phet, je­der Sek­ti­rer, je­der Frei­geist, je­der So­cia­list, je­der Kir­chen­mann ver­steht, ist ein voll­komm­ner Be­weis da­für, daß auch noch nicht ein­mal der An­fang mit je­ner Zucht des Geis­tes und Selb­st­über­win­dung ge­macht ist, die zum Fin­den ir­gend ei­ner klei­nen, noch so klei­nen Wahr­heit noch thut. – Die Mär­ty­rer-Tode, an­bei ge­sagt, sind ein großes Un­glück in der Ge­schich­te ge­we­sen: sie ver­führ­ten … Der Schluß al­ler Idio­ten, Weib und Voll ein­ge­rech­net, daß es mit ei­ner Sa­che, für die Je­mand in den Tod geht (oder die gar, wie das ers­te Chris­tent­hum, tod­süch­ti­ge Epi­de­mi­en er­zeugt), Et­was auf sich habe, – die­ser Schluß ist der Prü­fung, dem Geist der Prü­fung und Vor­sicht un­säg­lich zum Hemm­schuh ge­wor­den. Die Mär­ty­rer scha­de­ten der Wahr­heit … Auch heu­te noch be­darf es nur ei­ner Cru­di­tät der Ver­fol­gung, um ei­ner an sich noch so gleich­gül­ti­gen Sek­ti­re­rei einen eh­ren­haf­ten Na­men zu schaf­fen. – Wie? än­dert es am Wert­he ei­ner Sa­che Et­was, daß Je­mand für sie sein Le­ben läßt? – Ein Irr­thum, der eh­ren­haft wird, ist ein Irr­thum, der einen Ver­füh­rungs­reiz mehr be­sitzt: glaubt ihr, daß wir euch An­laß ge­ben wür­den, ihr Herrn Theo­lo­gen, für eure Lüge die Mär­ty­rer zu ma­chen? – Man wi­der­legt eine Sa­che, in­dem man sie ach­tungs­voll auf­’s Eis legt, – eben­so wi­der­legt man auch Theo­lo­gen… Gera­de Das war die wel­this­to­ri­sche Dumm­heit al­ler Ver­fol­ger, daß sie der geg­ne­ri­schen Sa­che den An­schein des Ehren­haf­ten ga­ben, – daß sie ihr die Fas­ci­na­ti­on des Mar­ty­ri­ums zum Ge­schenk mach­ten… Das Weib liegt heu­te noch auf den Kni­en vor ei­nem Irr­thum, weil man ihm ge­sagt hat, daß Je­mand da­für am Kreu­ze starb. Ist denn das Kreuz ein Ar­gu­ment? – – Aber über alle die­se Din­ge hat Ei­ner al­lein das Wort ge­sagt, das man seit Jahr­tau­sen­den nö­thig ge­habt hät­te, – Za­ra­thustra.

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Blut­zei­chen schrie­ben sie auf den Weg, den sie gien­gen, und ihre Thor­heit lehr­te, daß man mit Blut Wahr­heit be­wei­se.

Aber Blut ist der schlech­tes­te Zeu­ge der Wahr­heit; Blut ver­gif­tet die reins­te Leh­re noch zu Wahn und Haß der Her­zen.

Und wenn Ei­ner durch­’s Feu­er gien­ge für sei­ne Leh­re, – was be­weist dies! Mehr ist’s wahr­lich, daß aus eig­nem Bran­de die eig­ne Leh­re kommt. (VI, 134.)

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54.

Man las­se sich nicht ir­re­füh­ren: große Geis­ter sind Skep­ti­ker. Za­ra­thustra ist ein Skep­ti­ker. Die Stär­ke, die Frei­heit aus der Kraft und Über­kraft des Geis­tes be­weist sich durch Skep­sis. Men­schen der Über­zeu­gung kom­men für al­les Grund­sätz­li­che von Werth und Un­werth gar nicht in Be­tracht. Über­zeu­gun­gen sind Ge­fäng­nis­se. Das sieht nicht weit ge­nug, das sieht nicht un­ter sich: aber um über Werth und Un­werth mit­re­den zu dür­fen, muß man fünf­hun­dert Über­zeu­gun­gen un­ter sich sehn, – hin­ter sich sehn … Ein Geist der Gro­ßes will, der auch die Mit­tel dazu will, ist mit No­thwen­dig­keit Skep­ti­ker. Die Frei­heit von je­der Art Über­zeu­gun­gen ge­hört zur Stär­ke, das Frei-Bli­cken- kön­nen… Die große Lei­den­schaft, der Grund und die Macht sei­nes Seins, noch auf­ge­klär­ter, noch des­po­ti­scher, als er selbst es ist, nimmt sei­nen gan­zen In­tel­lekt in Dienst; sie macht un­be­denk­lich; sie giebt ihm Muth so­gar zu un­hei­li­gen Mit­teln; sie gönnt ihm un­ter Um­stän­den Über­zeu­gun­gen. Die Über­zeu­gung als Mit­tel: Vie­les er­reicht man nur mit­telst ei­ner Über­zeu­gung. Die große Lei­den­schaft braucht, ver­braucht Über­zeu­gun­gen, sie un­ter­wirft sich ih­nen nicht, – sie weiß sich sou­ver­ain. – Um­ge­kehrt: das Be­dürf­niß nach Glau­ben, nach ir­gend et­was Un­be­ding­tem von Ja und Nein, der Car­ly­lis­mus, wenn man mir dies Wort nach­sehn will, ist ein Be­dürf­niß der Schwä­che. Der Mensch des Glau­bens, der »Gläu­bi­ge« je­der Art ist nothwen­dig ein ab­hän­gi­ger Mensch, – ein sol­cher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus über­haupt nicht Zwe­cke an­set­zen kann. Der »Gläu­bi­ge« ge­hört sich nicht, er kann nur Mit­tel sein, er muß ver­braucht wer­den, er hat Je­mand nö­thig, der ihn ver­braucht. Sein In­stinkt giebt ei­ner Moral der Ent­selbs­tung die höchs­te Ehre: zu ihr über­re­det ihn Al­les, sei­ne Klug­heit, sei­ne Er­fah­rung, sei­ne Ei­tel­keit. Jede Art Glau­be ist selbst ein Aus­druck von Ent­selbs­tung, von Selbst-Ent­frem­dung… Er­wägt man, wie nothwen­dig den Al­ler­meis­ten ein Re­gu­la­tiv ist, das sie von au­ßen her bin­det und fest macht, wie der Zwang, in ei­nem hö­he­ren Sinn die Skla­ve­rei, die ein­zi­ge und letz­te Be­din­gung ist, un­ter der der wil­lens­schwä­che­re Mensch, zu­mal das Weib, ge­deiht: so ver­steht man auch die Über­zeu­gung, den »Glau­ben«. Der Mensch der Über­zeu­gung hat in ihr sein Rück­grat. Vie­le Din­ge nicht sehn, in kei­nem Punk­te un­be­fan­gen sein, Par­tei sein durch und durch, eine stren­ge und not­wen­di­ge Op­tik in al­len Wert­hen ha­ben – das al­lein be­dingt es, daß eine sol­che Art Mensch über­haupt be­steht. Aber da­mit ist sie der Ge­gen­satz, der Ant­ago­nist des Wahr­haf­ti­gen, – der Wahr­heit … Dem Gläu­bi­gen steht es nicht frei, für die Fra­ge »wahr« und »un­wahr« über­haupt ein Ge­wis­sen zu ha­ben: recht­schaf­fen sein an die­ser Stel­le wäre so­fort sein Un­ter­gang. Die pa­tho­lo­gi­sche Be­dingt­heit sei­ner Op­tik macht aus dem Über­zeug­ten den Fa­na­ti­ker – Sa­vo­na­ro­la, Luther, Rous­seau, Ro­be­spi­er­re, Saint-Si­mon –, den Ge­gen­satz-Ty­pus des star­ken, des frei­ge­w­ord­nen Geis­tes. Aber die große At­ti­tü­de die­ser kran­ken Geis­ter, die­ser Epi­lep­ti­ker des Be­griffs, wirkt auf die große Mas­se, – die Fa­na­ti­ker sind pit­to­resk, die Mensch­heit sieht Ge­bär­den lie­ber, als daß sie Grün­de hört …

 

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55.

– Ei­nen Schritt wei­ter in der Psy­cho­lo­gie der Über­zeu­gung, des »Glau­bens«. Es ist schon lan­ge von mir zur Er­wä­gung an­heim­ge­ge­ben wor­den, ob nicht die Über­zeu­gun­gen ge­fähr­li­che­re Fein­de der Wahr­heit sind als die Lü­gen (Men­sch­li­ches, All­zu­mensch­li­ches I, Apho­ris­mus 483). Dies­mal möch­te ich die ent­schei­den­de Fra­ge thun: be­steht zwi­schen Lüge und Über­zeu­gung über­haupt ein Ge­gen­satz? – Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! – Eine jede Über­zeu­gung hat ihre Ge­schich­te, ihre Ver­son­nen, ihre Ten­ta­ti­ven und Fehl­grif­fe: sie wird Über­zeu­gung, nach­dem sie es lan­ge nicht ist, nach­dem sie es noch lan­ger kaum ist. Wie? könn­te un­ter die­sen Em­bryo­nal –For­men der Über­zeu­gung nicht auch die Lüge sein? – Mit­un­ter be­darf es bloß ei­nes Per­so­nen–Wech­sels: im Sohn wird Über­zeu­gung, was im Va­ter noch Lüge war. –Ich nen­ne Lüge: Et­was nicht sehn wol­len, das man sieht, Et­was nicht so sehn wol­len, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeu­gen oder ohne Zeu­gen statt hat, kommt nicht in Be­tracht. Die ge­wöhn­lichs­te Lüge ist die, mit der man sich selbst be­lügt; das Be­lü­gen And­rer ist re­la­tiv der Aus­nah­me­fall, – Nun ist dies Nicht–­sehn–wol­len, was man sieht, dies Nicht–­so–­sehn–wol­len, wie man es steht, bei­na­he die ers­te Be­din­gung für Alle, die Par­tei sind, in ir­gend wel­chem Sin­ne: der Par­tei­mensch wird mit Not­wen­dig­keit Lüg­ner. Die deut­sche Ge­schichts­schrei­bung zum Bei­spiel ist über­zeugt, daß Rom der Des­po­tis­mus war, daß die Ger­ma­nen den Geist der Frei­heit in die Welt ge­bracht ha­ben: wel­cher Un­ter­schied ist zwi­schen die­ser Über­zeu­gung und ei­ner Lüge? Darf man sich noch dar­über wun­dern, wenn, aus In­stinkt, alle Par­tei­en, auch die deut­schen His­to­ri­ker, die großen Wor­te der Moral im Mun­de ha­ben, – daß die Moral bei­na­he da­durch fort­be­steht, daß der Par­tei­mensch je­der Art je­den Au­gen­blick sie nö­thig hat? – »Dies ist uns­re Über­zeu­gung: wir be­ken­nen sie vor al­ler Welt, wir le­ben und ster­ben für sie, – Re­spekt vor Al­lem, was Über­zeu­gun­gen hat!« – der­glei­chen habe ich so­gar aus dem Mund von An­ti­se­mi­ten ge­hört. Im Ge­gent­heil, mei­ne Herrn! Ein An­ti­se­mit wird da­durch durch­aus nicht an­stän­di­ger, daß er aus Grund­satz lügt … Die Pries­ter, die in sol­chen Din­gen sei­ner sind und den Ein­wand sehr gut ver­stehn, der im Be­griff ei­ner Über­zeu­gung, das heißt ei­ner grund­sätz­li­chen, weil zweck­dien­li­chen Ver­lo­gen­heit liegt, ha­ben von den Ju­den her die Klug­heit über­kom­men, an die­ser Stel­le den Be­griff »Gott«, »Wil­le Got­tes«, »Of­fen­ba­rung Got­tes« ein­zu­schie­ben. Auch Kant, mit sei­nem ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv, war auf dem glei­chen Wege: sei­ne Ver­nunft wur­de hier­in prak­tisch. – Es giebt Fra­gen, wo über Wahr­heit und Un­wahr­heit dem Men­schen die Ent­schei­dung nicht zu­steht; alle obers­ten Fra­gen, alle obers­ten Wert­h–Pro­ble­me sind jen­seits der mensch­li­chen Ver­nunft … Die Gren­zen der Ver­nunft be­grei­fen, – das erst ist wahr­haft Phi­lo­so­phie… Wozu gab Gott dem Men­schen die Of­fen­ba­rung? Wür­de Gott et­was Über­flüs­si­ges gethan ha­ben? Der Mensch kann von sich nicht sel­ber wis­sen, was gut und böse ist, dar­um lehr­te ihn Gott sei­nen Wil­len… Moral: der Pries­ter lügt nicht, – die Fra­ge »wahr« oder »un­wahr« giebt es nicht in sol­chen Din­gen, von de­nen Pries­ter re­den; die­se Din­ge er­lau­ben gar nicht zu lü­gen. Denn um zu lü­gen, müß­te man ent­schei­den kön­nen, was hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Pries­ter ist da­mit nur das Mund­stück Got­tes. – Ein sol­cher Pries­ter-Syl­lo­gis­mus ist durch­aus nicht bloß jü­disch und christ­lich; das Recht zur Lüge und die Klug­heit der »Of­fen­ba­rung« ge­hört dem Ty­pus Pries­ter an, den dé­ca­dence-Pries­tern so gut als den Hei­dent­hums–Pries­tern (– Hei­den sind Alle, die zum Le­ben Ja sa­gen, de­nen »Gott« das Wort für das große Ja zu al­len Din­gen ist). – Das »Ge­setz«, der »Wil­le Got­tes«, das »hei­li­ge Buch«, die »In­spi­ra­ti­on« – Al­les nur Wor­te für die Be­din­gun­gen, un­ter de­nen der Pries­ter zur Macht kommt, mit de­nen er sei­ne Macht auf­recht er­hält, – die­se Be­grif­fe fin­den sich auf dem Grun­de al­ler Pries­ter–Or­ga­ni­sa­tio­nen, al­ler pries­ter­li­chen oder phi­lo­so­phisch –pries­ter­li­chen Herr­schafts­ge­bil­de. Die »hei­li­ge Lüge« – dem Con­fu­ci­us, dem Ge­setz­buch des Manu, dem Mu­ham­med, der christ­li­chen Kir­che ge­mein­sam –: sie fehlt nicht bei Plu­to, »Die Wahr­heit ist da«: dies be­deu­tet, wo nur es laut wird, der Pries­ter lügt …