Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Zweite Nachschrift.



– Mein Brief, scheint es, ist ei­nem Miss­ver­ständ­nis­se aus­ge­setzt. Auf ge­wis­sen Ge­sich­tern zei­gen sich die Fal­ten der Dank­bar­keit; ich höre selbst ein be­schei­de­nes Frohlo­cken. Ich zöge vor, hier wie in vie­len Din­gen, ver­stan­den zu wer­den. – Seit­dem aber in den Wein­ber­gen des deut­schen Geis­tes ein neu­es Thier haust, der Reichs­wurm, die be­rühm­te Rhin­o­xe­ra, wird kein Wort von mir mehr ver­stan­den. Die Kreuz­zei­tung selbst be­zeugt es mir, nicht zu re­den vom lit­te­ra­ri­schen Cen­tral­blatt. – Ich habe den Deut­schen die tiefs­ten Bü­cher ge­ge­ben, die sie über­haupt be­sit­zen – Grund ge­nug, dass die Deut­schen kein Wort da­von ver­stehn … Wenn ich in die­ser Schrift Wa­gnern den Krieg ma­che – und, ne­ben­bei, ei­nem deut­schen "Ge­schmack" –, wenn ich für den Bay­reuther Cre­ti­nis­mus har­te Wor­te habe, so möch­te ich am al­ler­we­nigs­ten ir­gend wel­chen and­ren Mu­si­kern da­mit ein Fest ma­chen. And­re Mu­si­ker kom­men ge­gen Wa­gner nicht in Be­tracht. Es steht schlimm über­haupt. Der Ver­fall ist all­ge­mein. Die Krank­heit liegt in der Tie­fe. Wenn Wa­gner der Name bleibt für den Ruin der Mu­sik, wie Ber­ni­ni für den Ruin der Skulp­tur, so ist er doch nicht des­sen Ur­sa­che. Er hat nur des­sen tem­po be­schleu­nigt, – frei­lich in ei­ner Wei­se, dass man mit Ent­set­zen vor die­sem fast plötz­li­chen Ab­wärts, Ab­grund­wärts steht. Er hat­te die Nai­ve­tät der dé­ca­dence: dies war sei­ne Über­le­gen­heit. Er glaub­te an sie, er blieb vor kei­ner Lo­gik der dé­ca­dence stehn. Die An­dern zö­gern – das un­ter­schei­det sie. Sonst Nichts! … Das Ge­mein­sa­me zwi­schen Wa­gner und "den An­dern" – ich zäh­le es auf: der Nie­der­gang der or­ga­ni­si­ren­den Kraft; der Miss­brauch über­lie­fer­ter Mit­tel, ohne das recht­fer­ti­gen­de Ver­mö­gen, das zum-Zweck; die Falsch­mün­ze­rei in der Nach­bil­dung gros­ser For­men, für die heu­te Nie­mand stark, stolz, selbst­ge­wiss, ge­sund ge­nug ist; die Über­le­ben­dig­keit im Kleins­ten; der Af­fekt um je­den Preis; das Raf­fi­ne­ment als Aus­druck des ver­arm­ten Le­bens; im­mer mehr Ner­ven an Stel­le des Flei­sches. – Ich ken­ne nur Ei­nen Mu­si­ker, der heu­te noch im Stan­de ist, eine Ou­ver­tü­re aus gan­ze in Hol­ze zu schnit­zen: und Nie­mand kennt ihn … Was heu­te be­rühmt ist, macht, im Ver­gleich mit Wa­gner, nicht "bes­se­re" Mu­sik, son­dern nur un­ent­schie­de­nere, son­dern nur gleich­gül­ti­ge­re: – gleich­gül­ti­ge­re, weil das Hal­be da­mit ab­ge­than ist, dass das Gan­ze da ist. Aber Wa­gner war ganz; aber Wa­gner war die gan­ze Ver­derb­niss; aber Wa­gner war der Muth, der Wil­le, die Über­zeu­gung in der Ver­derb­niss – was liegt noch an Jo­han­nes Brahms! … Sein Glück war ein deut­sches Miss­ver­ständ­niss: man nahm ihn als Ant­ago­nis­ten Wa­gner’s, – man brauch­te einen Ant­ago­nis­ten! – Das macht kei­ne nothwen­di­ge Mu­sik, das macht vor Al­lem zu viel Mu­sik! – Wenn man nicht reich ist, soll man stolz ge­nug sein zur Ar­muth! … Die Sym­pa­thie, die Brahms un­leug­bar hier und da ein­flösst, ganz ab­ge­se­hen von je­nem Par­tei-In­ter­es­se, Par­tei-Miss­ver­ständ­nis­se, war mir lan­ge ein Räth­sel: bis ich end­lich, durch einen Zu­fall bei­na­he, da­hin­ter kam, dass er auf einen be­stimm­ten Ty­pus von Men­schen wirkt. Er hat die Me­lan­cho­lie des Un­ver­mö­gens; er schafft nicht aus der Fül­le, er durs­tet nach der Fül­le. Rech­net man ab, was er nach­macht, was er gros­sen al­ten oder exo­tisch-mo­der­nen Stil­for­men ent­lehnt – er ist Meis­ter in der Co­pie –, so bleibt als sein Ei­gens­tes die Sehn­sucht… Das er­rat­hen die Sehn­süch­ti­gen, die Un­be­frie­dig­ten al­ler Art. Er ist zu we­nig Per­son, zu we­nig Mit­tel­punk­t… Das ver­ste­hen die "Un­per­sön­li­chen" die Pe­ri­phe­ri­schen, – sie lie­ben ihn da­für. In Son­der­heit ist er der Mu­si­ker ei­ner Art un­be­frie­dig­ter Frau­en. Fünf­zig Schritt wei­ter: und man hat die Wa­gne­ria­ne­rin – ganz wie man fünf­zig Schritt über Brahms hin­aus Wa­gner fin­det –, die Wa­gne­ria­ne­rin, einen aus­ge­präg­te­ren, in­ter­essan­te­ren, vor Al­lem an­muthi­ge­ren Ty­pus. Brahms ist rüh­rend, so lan­ge er heim­lich schwärmt oder über sich trau­ert – dar­in ist er "mo­dern" –; er wird kalt, er geht uns Nichts mehr an, so­bald er die Klas­si­ker be­erbt … Man nennt Brahms gern den Er­ben Beetho­ven’s: ich ken­ne kei­nen vor­sich­ti­ge­ren Eu­phe­mis­mus. – Al­les, was heu­te in der Mu­sik auf "gros­sen Stil" An­spruch macht, ist da­mit ent­we­der falsch ge­gen uns oder falsch ge­gen sich. Die­se Al­ter­na­ti­ve ist nach­denk­lich ge­nug: sie schliesst näm­lich eine Ca­suis­tik über den Werth der zwei Fäl­le in sich ein. "Falsch ge­gen uns": da­ge­gen pro­tes­tirt der In­stinkt der Meis­ten – sie wol­len nicht be­tro­gen wer­den –; ich selbst frei­lich wür­de die­sen Ty­pus im­mer noch dem an­de­ren ("falsch ge­gen sich" ) vor­ziehn. Dies ist mein Ge­schmack. – Fass­li­cher, für die "Ar­men im Geis­te" aus­ge­drückt: Brahms – oder Wa­gner … Brahms ist kein Schau­spie­ler. – Man kann einen gu­ten Theil der and­ren Mu­si­ker in den Be­griff Brahms sub­su­mi­ren. – Ich sage kein Wort von den klu­gen Af­fen Wa­gner’s, zum Bei­spiel von Gold­mark: mit der "Kö­ni­gin von Saba" ge­hört man in die Me­na­ge­rie, – man kann sich se­hen las­sen. – Was heu­te gut ge­macht, meis­ter­haft ge­macht wer­den kann, ist nur das Klei­ne. Hier al­lein ist noch Recht­schaf­fen­heit mög­lich. – Nichts kann aber die Mu­sik in der Haupt­sa­che von der Haupt­sa­che kur­i­ren, von der Fa­ta­li­tät, Aus­druck des phy­sio­lo­gi­schen Wi­der­spruchs zu sein, – mo­dern zu sein. Der bes­te Un­ter­richt, die ge­wis­sen­haf­tes­te Schu­lung, die grund­sätz­li­che In­ti­mi­tät, ja selbst Iso­la­ti­on in der Ge­sell­schaft der al­ten Meis­ter – das bleibt Al­les nur pal­lia­ti­visch, stren­ger ge­re­det, il­lu­so­risch, weil man die Voraus­set­zung dazu nicht mehr im Lei­be hat: sei dies nun die star­ke Ras­se ei­nes Hän­del, sei es die über­strö­men­de Ani­ma­li­tät ei­nes Ros­si­ni. – Nicht je­der hat das Recht zu je­dem Leh­rer: das gilt von gan­zen Zeit­al­tern. – An sich ist die Mög­lich­keit nicht aus­ge­schlos­sen, dass es noch Res­te stär­ke­rer Ge­schlech­ter, ty­pisch un­zeit­ge­mäs­ser Men­schen ir­gend­wo in Eu­ro­pa giebt: von da aus wäre eine ver­spä­te­te Schön­heit und Voll­kom­men­heit auch für die Mu­sik noch zu er­hof­fen. Was wir, bes­ten Falls, noch er­le­ben kön­nen, sind Aus­nah­men. Von der Re­gel, dass die Ver­derb­niss oben­auf, dass die Ver­derb­niss fa­ta­lis­tisch ist, ret­tet die Mu­sik kein Gott. –




Epilog.



– Ent­zie­hen wir uns zu­letzt, um auf­zuath­men, für einen Au­gen­blick der en­gen Welt, zu der jede Fra­ge nach dem Werth von Per­so­nen den Geist ver­urt­heilt. Ein Phi­lo­soph hat das Be­dürf­niss, sich die Hän­de zu wa­schen, nach­dem er sich so lan­ge mit dem "Fall Wa­gner" be­fasst hat. – Ich gebe mei­nen Be­griff des Mo­der­nen. – Jede Zeit hat in ih­rem Maass von Kraft ein Maass auch da­für, wel­che Tu­gen­den ihr er­laubt, wel­che ihr ver­bo­ten sind. Ent­we­der hat sie die Tu­gen­den des auf­stei­gen­den Le­bens: dann wi­der­strebt sie aus un­ters­tem Grun­de den Tu­gen­den des nie­der­ge­hen­den Le­bens. Oder sie ist selbst ein nie­der­ge­hen­des Le­ben, – dann be­darf sie auch der Nie­der­gangs-Tu­gen­den, dann hasst sie Al­les, was aus der Fül­le, was aus dem Über­reicht­hum an Kräf­ten al­lein sich recht­fer­tigt. Die Aes­the­tik ist un­ab­lös­lich an die­se bio­lo­gi­schen Voraus­set­zun­gen ge­bun­den: es giebt eine dé­ca­dence-Aes­the­tik, es giebt eine klas­si­sche Aes­the­tik, – ein "Schö­nes an sich" ist ein Hirn­ge­spinst, wie der gan­ze Idea­lis­mus. – In der en­ge­ren Sphä­re der so­ge­nann­ten mo­ra­li­schen Wert­he ist kein grös­se­rer Ge­gen­satz auf­zu­fin­den, als der ei­ner Her­ren-Moral und der Moral der christ­li­chen Wert­h­be­grif­fe: letz­te­re, auf ei­nem durch und durch mor­bi­den Bo­den ge­wach­sen (– die Evan­ge­li­en füh­ren uns ge­nau die­sel­ben phy­sio­lo­gi­schen Ty­pen vor, wel­che die Ro­ma­ne Do­stoiew­sky’s schil­dern), die Her­ren-Moral ("rö­misch", "heid­nisch", "klas­sisch", "Re­naissance") um­ge­kehrt als die Zei­chen­spra­che der Wohl­ge­rat­hen­heit, des auf­stei­gen­den Le­bens, des Wil­lens zur Macht als Prin­cips des Le­bens. Die Her­ren-Moral be­jaht eben­so in­stink­tiv, wie die christ­li­che ver­neint ("Gott", "Jen­seits", "Ent­selbs­tung" lau­ter Ne­ga­tio­nen). Die ers­te­re giebt aus ih­rer Fül­le an die Din­ge ab – sie ver­klärt, sie ver­schönt, sie ver­nünf­tigt die Welt –, die letz­te­re ver­armt, ver­blasst, ver­häss­licht den Werth der Din­ge, sie ver­neint die Welt. "Welt" ein christ­li­ches Schimpf­wort. – Die­se Ge­gen­satz­for­men in der Op­tik der Wert­he sind bei­de nothwen­dig: es sind Ar­ten zu se­hen, de­nen man mit Grün­den und Wi­der­le­gun­gen nicht bei­kommt. Man wi­der­legt das Chris­tent­hum nicht, man wi­der­legt eine Krank­heit des Au­ges nicht. Dass man den Pes­si­mis­mus wie eine Phi­lo­so­phie be­kämpft hat, war der Gip­fel­punkt des ge­lehr­ten Idio­tent­hums. Die Be­grif­fe "wahr" und "un­wahr" ha­ben, wie mir scheint, in der Op­tik kei­nen Sinn. – Wo­ge­gen man sich al­lein zu weh­ten hat, das ist die Falsch­heit, die In­stinkt-Dop­pel­zün­gig­keit, wel­che die­se Ge­gen­sät­ze nicht als Ge­gen­sät­ze emp­fin­den will: wie es zum Bei­spiel Wa­gner’s Wil­le war, der in sol­chen Falsch­hei­ten kei­ne klei­ne Meis­ter­schaft hat­te. Nach der Her­ren-Moral, der vor­neh­men Moral hin­schie­len (– die is­län­di­sche Sage ist bei­na­he de­ren wich­tigs­te Ur­kun­de) und da­bei die Ge­gen­leh­re, die vom "Evan­ge­li­um der Nied­ri­gen", vom Be­dürf­niss der Er­lö­sung, im Mun­de füh­ren! … Ich be­wun­de­re, an­bei ge­sagt, die Be­schei­den­heit der Chris­ten, die nach Bay­reuth gehn. Ich selbst wür­de ge­wis­se Wor­te nicht aus dem Mun­de ei­nes Wa­gner aus­hal­ten. Es giebt Be­grif­fe, die nicht nach Bay­reuth ge­hö­ren … Wie? ein Chris­tent­hum, zu­recht­ge­macht für Wa­gne­ria­ne­rin­nen, viel­leicht von Wa­gne­ria­ne­rin­nen – denn Wa­gner war in al­ten Ta­gen durch­aus fe­mi­ni­ni ge­ne­ris –? Noch­mals ge­sagt, die Chris­ten von heu­te sind mir zu be­schei­den … Wenn Wa­gner ein Christ war, nun dann war viel­leicht Liszt ein Kir­chen­va­ter! – Das Be­dürf­niss nach Er­lö­sung, der In­be­griff al­ler christ­li­chen Be­dürf­nis­se hat mit sol­chen Hans­wurs­ten Nichts zu thun: es ist die ehr­lichs­te Aus­drucks­form der dé­ca­dence, es ist das über­zeug­tes­te, schmerz­haf­tes­te ja-sa­gen zu ihr in sub­li­men Sym­bo­len und Prak­ti­ken. Der Christ will von sich los­kom­men. Le moi est tou­jours haïssa­ble. – Die vor­neh­me Moral, die Her­ren-Moral, hat um­ge­kehrt ihre Wur­zel in ei­nem tri­um­phi­ren­den ja-sa­gen zu sich, – sie ist Selbst­be­ja­hung, Selbst­ver­herr­li­chung des Le­bens, sie braucht gleich­falls sub­li­me Sym­bo­le und Prak­ti­ken, aber nur "weil ihr das Herz zu voll" ist. Die gan­ze schö­ne, die gan­ze gros­se Kunst ge­hört hier­her: bei­der We­sen ist Dank­bar­keit. And­rer­seits kann man von ihr nicht einen In­stinkt-Wi­der­wil­len ge­gen die dé­ca­dents, einen Hohn, ein Grau­en selbst vor de­ren Sym­bo­lik ab­rech­nen: der­glei­chen ist bei­na­he ihr Be­weis. Der vor­neh­me Rö­mer emp­fand das Chris­tent­hum als foe­da su­pers­ti­tio: ich er­in­ne­re dar­an, wie der letz­te Deut­sche vor­neh­men Ge­schmacks, wie Goe­the das Kreuz emp­fand. Man sucht um­sonst nach wert­h­vol­le­ren, nach nothwen­di­ge­ren Ge­gen­sät­zen …

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Aber eine sol­che Falsch­heit, wie die der Bay­reuther, ist heu­te kei­ne Aus­nah­me. Wir ken­nen alle den un­äs­the­ti­schen Be­griff des christ­li­chen Jun­kers. Die­se Un­schuld zwi­schen Ge­gen­sät­zen, dies "gute Ge­wis­sen" in der Lüge ist viel­mehr mo­dern par ex­cel­lence, man de­fi­nirt bei­na­he da­mit die Mo­der­ni­tät. Der mo­der­ne Mensch stellt, bio­lo­gisch, einen Wi­der­spruch der Wert­he dar, er sitzt zwi­schen zwei Stüh­len, er sagt in Ei­nem Athem ja und Nein. Was Wun­der, dass ge­ra­de in un­sern Zei­ten die Falsch­heit sel­ber Fleisch und so­gar Ge­nie wur­de? dass Wa­gner "un­ter uns wohn­te"? Nicht ohne Grund nann­te ich Wa­gner den Cagliostro der Mo­der­ni­tät … Aber wir Alle ha­ben, wi­der Wis­sen, wi­der Wil­len, Wert­he, Wor­te, For­meln, Mora­len ent­ge­gen­ge­setz­ter Ab­kunft im Lei­be, – wir sind, phy­sio­lo­gisch be­trach­tet, falsch … Eine Dia­gno­s­tik der mo­der­nen See­le – wo­mit be­gön­ne sie? Mit ei­nem re­so­lu­ten Ein­schnitt in die­se In­stinkt-Wi­der­sprüch­lich­keit, mit der Heraus­lö­sung ih­rer Ge­gen­satz-Wert­he, mit der Vi­vi­sek­ti­on voll­zo­gen an ih­rem lehr­reichs­ten Fall. – Der Fall Wa­gner ist für den Phi­lo­so­phen ein Glücks­fall, – die­se Schrift ist, man hört es, von der Dank­bar­keit in­spir­irt …



1 An­mer­kung. über den Ge­gen­satz "vor­neh­me Moral" und "christ­li­che Moral" un­ter­rich­te­te zu­erst mei­ne "Ge­nea­lo­gie der Moral": es giebt viel­leicht kei­ne ent­schei­den­de­re Wen­dung in der Ge­schich­te der re­li­gi­ösen und mo­ra­li­schen Er­kennt­niss. Dies Buch, mein Prüf­stein für Das, was zu mir ge­hört, hat das Glück, nur den höchst­ge­sinn­ten und strengs­ten Geis­tern zu­gäng­lich zu sein: dem Res­te feh­len die Ohren da­für. Man muss sei­ne Lei­den­schaft in Din­gen ha­ben, wo sie heu­te Nie­mand hat …

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Der Wanderer und sein Schatten




Vorwort



Der Schat­ten:

 Da ich dich so lan­ge nicht re­den hör­te, so möch­te ich dir eine Ge­le­gen­heit ge­ben.



Der Wan­de­rer:

 Es re­det: – wo? und wer? Fast ist es mir, als hör­te ich mich sel­ber re­den, nur mit noch schwä­che­rer Stim­me als die mei­ne ist.



Der Schat­ten

 (nach ei­ner Wei­le): Freut es dich nicht, Ge­le­gen­heit zum Re­den zu ha­ben?



Der Wan­de­rer:

 Bei Gott und al­len Din­gen, an die ich nicht glau­be, mein Schat­ten re­det; ich höre es, aber glau­be es nicht.



Der Schat­ten:

 Neh­men wir es hin und den­ken wir nicht wei­ter dar­über nach, in ei­ner Stun­de ist al­les vor­bei.



Der Wan­de­rer:

 Ganz so dach­te ich, als ich in ei­nem Wal­de bei Pisa erst zwei und dann fünf Ka­me­le sah.



Der Schat­ten:

 Es ist gut, daß wir bei­de auf glei­che Wei­se nach­sich­tig ge­gen uns sind, wenn ein­mal un­se­re Ver­nunft stil­le steht: so wer­den wir uns auch im Ge­sprä­che nicht är­ger­lich wer­den und nicht gleich dem an­dern Dau­men­schrau­ben an­le­gen, falls sein Wort uns ein­mal un­ver­ständ­lich klingt. Weiß man ge­ra­de nicht zu ant­wor­ten, so ge­nügt es schon, et­was zu sa­gen: das ist die bil­li­ge Be­din­gung, un­ter der ich mich mit je­man­dem un­ter­re­de. Bei ei­nem län­ge­ren Ge­sprä­che wird auch der Wei­ses­te ein­mal zum Nar­ren Und drei­mal zum Tropf.



Der Wan­de­rer:

 Dei­ne Ge­nüg­sam­keit ist nicht schmei­chel­haft für den, wel­chem du sie ein­ge­stehst.



Der Schat­ten:

 Soll ich denn schmei­cheln?



Der Wan­de­rer:

 Ich dach­te, der mensch­li­che Schat­ten sei sei­ne Ei­tel­keit; die­se aber wür­de nie fra­gen: "soll ich denn schmei­cheln?"



Der Schat­ten:

 Die mensch­li­che Ei­tel­keit, so­weit ich sie ken­ne, fragt auch nicht an, wie ich schon zwei­mal tat, ob sie re­den dür­fe: sie re­det im­mer.



Der Wan­de­rer:

 Ich mer­ke erst, wie un­ar­tig ich ge­gen dich bin, mein ge­lieb­ter Schat­ten: ich habe noch mit kei­nem Wor­te ge­sagt, wie sehr ich mich

freue,

 dich zu hö­ren und nicht bloß zu se­hen. Du wirst es wis­sen, ich lie­be den Schat­ten, wie ich das Licht lie­be. Da­mit es Schön­heit des Ge­sichts, Deut­lich­keit der Rede, Güte und Fes­tig­keit des Cha­rak­ters gebe, ist der Schat­ten so nö­tig wie das Licht. Es sind nicht Geg­ner: sie hal­ten sich viel­mehr lie­be­voll an den Hän­den, und wenn das Licht ver­schwin­det, schlüpft ihm der Schat­ten nach.



Der Schat­ten:

 Und ich has­se das­sel­be, was du has­sest, die Nacht; ich lie­be die Men­schen, weil sie Licht­jün­ger sind und freue mich des Leuch­tens, das in ih­rem Auge ist, wenn sie er­ken­nen und ent­de­cken, die un­er­müd­li­chen Er­ken­ner und Ent­de­cker. Je­ner Schat­ten, wel­chen alle Din­ge zei­gen, wenn der Son­nen­schein der Er­kennt­nis auf sie fällt, – je­ner Schat­ten bin ich auch.



Der Wan­de­rer:

 Ich glau­be dich zu ver­ste­hen, ob du dich gleich et­was schat­ten­haft aus­ge­drückt hast. Aber du hat­test recht: gute Freun­de ge­ben ein­an­der hier und da ein dunkles Wort als Zei­chen des Ein­ver­ständ­nis­ses, wel­ches für je­den drit­ten ein Rät­sel sein soll. Und wir sind gute Freun­de. Des­halb ge­nug des Vor­re­dens! Ein paar hun­dert Fra­gen drücken auf mei­ne See­le, und die Zeit, da du auf sie ant­wor­ten kannst, ist viel­leicht nur kurz. Se­hen wir zu, wor­über wir in al­ler Eile und Fried­fer­tig­keit mit­ein­an­der zu­sam­men­kom­men.



Der Schat­ten:

 Aber die Schat­ten sind schüch­ter­ner als die Men­schen: du wirst nie­man­dem mit­tei­len, wie wir zu­sam­men ge­spro­chen ha­ben!



Der Wan­de­rer:

 Wie wir zu­sam­men ge­spro­chen ha­ben? Der Him­mel be­hü­te mich vor lang­ge­spon­ne­nen, schrift­li­chen Ge­sprä­chen! Wenn Pla­to we­ni­ger Lust am Spin­nen ge­habt hät­te, wür­den sei­ne Le­ser mehr Lust an Pla­to ha­ben. Ein Ge­spräch, das in der Wirk­lich­keit er­götzt, ist, in Schrift ver­wan­delt und ge­le­sen, ein Ge­mäl­de mit lau­ter falschen Per­spek­ti­ven: Al­les ist zu lang oder zu kurz. – Doch wer­de ich viel­leicht mit­tei­len dür­fen,

wor­über

 wir über­ein­ge­kom­men sind?



Der Schat­ten:

 Da­mit bin ich zu­frie­den; denn alle wer­den dar­in nur dei­ne An­sich­ten wie­der­er­ken­nen: des Schat­tens wird nie­mand ge­den­ken.



Der Wan­de­rer:

 Vi­el­leicht irrst du, Freund! Bis jetzt hat man in mei­nen An­sich­ten mehr den Schat­ten wahr­ge­nom­men als mich.



Der Schat­ten:

 Mehr den Schat­ten als das Licht? Ist es mög­lich?



Der Wan­de­rer:

 Sei ernst­haft, lie­ber Narr! Gleich mei­ne ers­te Fra­ge ver­langt Ernst. –




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Vom Baum der Er­kennt­nis.

 – Wahr­schein­lich­keit, aber kei­ne Wahr­heit: Freischein­lich­keit, aber kei­ne Frei­heit, – die­se bei­den Früch­te sind es, de­rent­we­gen der Baum der Er­kennt­nis nicht mit dem Baum des Le­bens ver­wech­selt wer­den kann.




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Die Ver­nunft der Welt.

 – Daß die Welt

nicht

 der In­be­griff ei­ner ewi­gen Ver­nünf­tig­keit ist, läßt sich end­gül­tig da­durch be­wei­sen, daß je­nes

Stück Welt,

 wel­ches wir ken­nen – ich mei­ne uns­re mensch­li­che Ver­nunft –, nicht all­zu ver­nünf­tig ist. Und wenn

sie

 nicht al­le­zeit und voll­stän­dig wei­se und ra­tio­nell ist, so wird es die üb­ri­ge Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß

a mi­no­ri ad ma­jus, a par­te ad to­tum

, und zwar mit ent­schei­den­der Kraft.




3



"Am An­fang war."

 – Die Ent­ste­hung ver­herr­li­chen – das ist der me­ta­phy­si­sche

Nachtrieb,

 wel­cher bei der Be­trach­tung der His­to­rie wie­der aus­schlägt und durch­aus mei­nen macht, am An­fang al­ler Din­ge ste­he das Wert­volls­te und We­sent­lichs­te.




4



Maß für den Wert der Wahr­heit.

 – Für die Höhe der Ber­ge ist die Müh­sal ih­rer Be­stei­gung durch­aus kein Maß­stab. Und in der Wis­sen­schaft soll es an­ders sein! – sa­gen uns ei­ni­ge, die für ein­ge­weiht gel­ten wol­len –, die Müh­sal um die Wahr­heit soll ge­ra­de über den Wert der Wahr­heit ent­schei­den! Die­se tol­le Moral geht von dem Ge­dan­ken aus, daß die "Wahr­hei­ten" ei­gent­lich nichts wei­ter sei­en, als Turn­ge­rät­schaf­ten, an de­nen wir uns wa­cker müde zu ar­bei­ten hät­ten, – eine Moral für Ath­le­ten und Fest­tur­ner des Geis­tes.




5



Sprach­ge­brauch und Wirk­lich­keit.

 – Es gibt eine er­heu­chel­te Miß­ach­tung al­ler der Din­ge, wel­che tat­säch­lich die Men­schen am wich­tigs­ten neh­men,

al­ler nächs­ten Din­ge.

 Man sagt zum Bei­spiel "man ißt nur, um zu le­ben," – eine ver­fluch­te

Lü­ge,

 wie jene, wel­che von der Kin­der­er­zeu­gung als der ei­gent­li­chen Ab­sicht al­ler Wol­lust re­det. Um­ge­kehrt ist die Hoch­schät­zung der "wich­tigs­ten Din­ge" fast nie­mals ganz echt: die Pries­ter und Me­ta­phy­si­ker ha­ben uns zwar auf die­sen Ge­bie­ten durch­aus an einen heuch­le­risch über­trei­ben­den

Sprach­ge­brauch

 ge­wöhnt, aber das Ge­fühl doch nicht um­ge­stimmt, wel­ches die­se wich­tigs­ten Din­ge nicht so wich­tig nimmt wie jene ver­ach­te­ten nächs­ten Din­ge. – Eine lei­di­ge Fol­ge die­ser dop­pel­ten Heu­che­lei aber ist im­mer­hin, daß man die nächs­ten Din­ge, zum Bei­spiel Es­sen, Woh­nen, Sich-Klei­den, Ver­keh­ren, nicht zum Ob­jekt des ste­ti­gen un­be­fan­ge­nen und

all­ge­mei­nen

 Nach­den­kens und Um­bil­dens macht, son­dern, weil dies für her­ab­wür­di­gend gilt, sei­nen in­tel­lek­tu­el­len und künst­le­ri­schen Ernst da­von ab­wen­det; so daß hier die Ge­wohn­heit und die Fri­vo­li­tät über die Un­be­dacht­sa­men, na­ment­lich über die un­er­fah­re­ne Ju­gend, leich­ten Sieg ha­ben: wäh­rend an­de­rer­seits un­se